Die bisexuelle Weltkarte

„Aber ich wollte nicht nur weg.
Ich wollte auch wohin.
Ich wollte in die Welt.
Europa war mir kaum groß genug.
Der Äquator war meine Welt.
Ich war den Afrikanern verwandt, den Lappen, den Mizteken.
Lockstedt war nicht meine Welt.
Ich komme von weither.“

Diese Zeilen aus Hotel Garni (dem ersten Band von Die Geschichte der Empfindlichkeit) umreißen ein ganzes Leben, das Leben des Reisenden und Ethnopoeten Hubert Fichte. Er war „ein Entdeckungsfahrer ins Gebiet des Aberglaubens und der Geisterbeschwörung“ und bewegte sich auf der Grenzlinie zwischen magischer Realität und Tourismus. Er ging Mystifikationen und Riten nach, dabei hielt er sich nicht an die gängigen wissenschaftlichen Methoden, sondern entwickelte eigene Vorgehensweisen. Weiterlesen

Einen Traum zerstören

Der Tag kroch aus dem nahen Wald hervor und legte sich über die Lichtung an der schmalen Bucht des Torneträsk-Sees. Der erste Schnee war gefallen. Am Rande der Lichtung, nahe am grauen Wasser, stand eine kleine Baracke, die einst von Erzsuchern gebaut worden war. Eine Rauchfahne krümmte sich über dem Kamin im arktischen Wind.
Das Feuer im Ofen loderte, knackte und redete vor sich hin. Im Kessel begann das Wasser für den Kaffee zu sieden. Frau Demant ging in der Hütte hin und her, summte vor sich hin, deckte den Tisch für das Frühstück und warf manchmal einen Blick zu Turi hinüber. Der groß gewachsene Same stand leicht gebeugt vor einem der kleinen Fenster und trommelte mit den Fingern einen langsamen Rhythmus auf die schmutzige Scheibe. Sein blaues Hemd war mit roten und gelben Borten verziert. Unter der blauen Mütze, die er am Morgen aufsetzte, sobald er aufgestanden war, schaute das angegraute und schüttere Haar hervor. Weiterlesen

Jet Set Nomade

Als Bruce Chatwin berühmt wurde, fragte man Elizabeth, seine Frau, nach seinen typischsten häuslichen Verhaltensmustern. Sie antwortete, die ständige Abwesenheit sei wohl das Typischste an ihm.
Er galt als der reisende Schriftsteller schlechthin. Er muss ein begnadeter Erzähler gewesen sein, der über ein enzyklopädisches Wissen verfügte, frei erfinden und improvisieren und bis zum Umfallen reden konnte.
Dieser ruhelose, gut aussehende, eitle, energiegeladene, wortgewandte und ewig jung gebliebene Bursche schien durch die Welt zu schwirren; ohne feste Bindung, ohne Wurzeln, fasziniert von allem Fremdartigen, ein Irrlicht, das sich bald da, bald dort zeigte. Weiterlesen

Randzonen des Vulkans

Ich hielt mich für ein paar Tage in Lissabon auf, bevor ich in den Norden Portugals reiste.
Am Rande des Bairo Alto, hoch über der Avenida da Liberdade, hatte ich eine Jazz-Bar entdeckt, in der Live-Musik gespielt wurde. Ich lernte da einen Typen kennen, der Wolf Wondratschek aufs Haar glich. Er sagte, er heiße Helmut Krause. Er sei Journalist und arbeite für LUI. Genau wie Wondratschek auch. Vielleicht mussten die Journis, die für LUI arbeiteten, alle wie Wondratschek aussehen, dachte ich. Wir sind dann auf Wondratschek zu reden gekommen. Er kannte ihn gut, sie wohnten beide in München. Im Schwabing-Viertel. Er bewunderte ihn sehr. Ich kannte nur die Reportagen-Sammlung Menschen, Orte, Fäuste. Helmut fand die Story über Max Schelling übertrieben, Schelling sei nie der geniale Boxer gewesen, als den ihn Wondratschek dargestellt habe. Weiterlesen

Wandern, eine wilde Leidenschaft

Ich lese GEHEN Oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen von Tomas Espedal, ein aus dem norwegischen Bergen stammender Autor. Oh, ja. Darum geht es! Um ein wildes und poetisches Leben. Und um das Gehen. Dass so ein Leben nicht am Laptop zu finden ist, versteht sich von selbst. Man muss zur Haustür hinaus, sich nach links oder rechts wenden und losmarschieren. Die Straße ist ein Versprechen. Wenn ich zur Tür hinausgehe, muss ich an meinen Stock denken. Ohne Stock geht es nicht mehr weit, mit Stock auch nicht. Es bleiben mir nur die Bücher, die ein wildes Leben versprechen. Und die Erinnerungen. Ich war immer gerne zu Fuß gegangen, und ich denke mit Wehmut zurück an die wochenlangen Wanderungen, die A. und ich durch Ladakh und Tibet gemacht haben. Weiterlesen

Pariser Spaziergänge

Dieses Mal wohnten wir an der Rue de Vaugirard. Die Straße beginnt am Boulevard St. Michel, schneidet der Rue de Médicis den Weg ab, führt am Jardin du Luxembourg entlang und in einer langen Geraden hinauf zum Boulevard de Pasteur.
Für den Morgenkaffee gingen wir ins „Le Petit Suisse“, ein kleines Bistro an der Place Paul Claudel, wo, so schien es wenigstens, vor allem Leute aus dem Quartier ihren Kaffee tranken. Sie grüßten sich und schwatzten zusammen. Wir setzten uns draußen auf die Terrasse. Die Luft war kühl, der Himmel blau. Wir fühlten uns selber wie Pariser. Weiterlesen

Wieder in Sils Maria

Im hellen Nachmittagslicht wanderten wir die blühende Matte hinab zur Halbinsel Chasté, einem bewaldeten Granitbuckel, der in den Silser See hinausragt. Beim Felsen, wo Nietzsches Trunkenes Lied eingraviert ist, das auf die Zeilen endet: „denn alle Lust will Ewigkeit/ tiefe, tiefe Ewigkeit“, setzten wir uns auf die Holzbank. Weiterlesen

Die Reise nach Niederbipp

Was tut man an einem 11. November?
Man geht zum Bahnhof, löst eine Fahrkarte und steigt in den Zug. In Niederbipp steigt man wieder aus und inspiziert als erstes den Bahnhof-Kiosk.
Denn dieser Kiosk ist die Nabe der vier Amreiner-Romane von Gerhard Meier, ohne dass er darin je erwähnt würde. Hingegen kommt er in Das dunkle Fest des Lebens ausführlich zur Sprache, in den Gesprächen, die Werner Morlang mit dem Schriftsteller geführt hatte. Weiterlesen

Monets Garten

Gibt es etwas Phantasieloseres, als Monets Garten und Haus in Giverny zu besuchen, Magnet ganzer Touristenhorden? Und dann die Seerosen, mein Gott, wer kann sie noch sehen? Monet ist doch passé, was die Kunst angeht. Der Impressionismus perfekt, um an den Auktionen Höchstpreise zu erzielen. Trotzdem sind wir hingegangen. Trotzdem hat es sich gelohnt. Trotzdem war es ein Erlebnis. Weiterlesen