Jet Set Nomade

Als Bruce Chatwin berühmt wurde, fragte man Elizabeth, seine Frau, nach seinen typischsten häuslichen Verhaltensmustern. Sie antwortete, die ständige Abwesenheit sei wohl das Typischste an ihm.
Er galt als der reisende Schriftsteller schlechthin. Er muss ein begnadeter Erzähler gewesen sein, der über ein enzyklopädisches Wissen verfügte, frei erfinden und improvisieren und bis zum Umfallen reden konnte.
Dieser ruhelose, gut aussehende, eitle, energiegeladene, wortgewandte und ewig jung gebliebene Bursche schien durch die Welt zu schwirren; ohne feste Bindung, ohne Wurzeln, fasziniert von allem Fremdartigen, ein Irrlicht, das sich bald da, bald dort zeigte.

Bruce Chatwin glaubte seine Rastlosigkeit hätte ihre Wurzeln in der frühen Kindheit. „Ich erinnere mich an die phantastische Heimatlosigkeit meiner ersten fünf Lebensjahre. Mein Vater war bei der Kriegsmarine, auf See. Meine Mutter und ich reisten mit der Eisenbahn kreuz und quer durch das vom Krieg gezeichnete England und besuchten Verwandte und Freunde. All die wahnsinnige Unruhe der damaligen Zeit teilte sich mir mit: der zischende Dampf auf einem nebelverhüllten Bahnhof, das zweimalige Klu-unk der sich schließenden Zugtüren, das Dröhnen von Flugzeugen, die Scheinwerfer, die Sirenen; die Klänge einer Mundharmonika auf einem Bahnsteig voller schlafender Soldaten.“
Er war überzeugt, der Name ‚Chatwin’ käme vom angelsächsischen Wort ‚Chette-wynde’, was so viel wie ‚gewundener Pfad’ heiße.

Dieser nomadisierende Romantiker pendelte zwischen London, Wales, New York, Griechenland und der Toskana hin und her, er reiste nach Persien, Afghanistan, Amerika, Togo, Kamerun, Kenia, Australien, China, Indien und Nepal. Bei der Lektüre von Nicolas Shakespeares Chatwin-Biographie hat man den Eindruck, die Leute hätten ihn zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten gesehen. Er tauchte bei Freunden und Bekannten auf, die in der Toskana, auf Patmos oder in Andalusien lebten, meistens unangemeldet und ebenso plötzlich verschwand er wieder, oft ohne sich zu verabschieden.
Nicht viele haben ein solch schillerndes und ungestümes Leben gewagt, um ihren Büchern Farbe und Besonderheit zu verleihen wie Bruce Chatwin es getan hat. Für sein zweites Buch, dem Roman Der Vizekönig von Ouidah, reiste er 1976 in die Hafenstadt des ehemaligen westafrikanischen Königreichs Dahomey, dem heutigen Benin, um Recherchen über den brasilianischen Abenteurer und Sklavenhändler Francisco Felix de Souza zu machen. Chatwin geriet da in einen Militärputschversuch, wurde vorübergehend gefangen genommen und wahrscheinlich auch vergewaltigt.

Bei der Lektüre seiner Bücher hat man den Eindruck, seine Reisen hätten etwas Unbekümmertes, Sorgloses, weder Mühsal noch Unwägbarkeiten schienen ihn verdrossen zu haben. Es macht den Anschein, als wäre er jeweils spontan aufgebrochen, ohne groß Pläne oder lange Vorbereitungen zu machen. Anfangs der 1970er Jahre besuchte er im Auftrag der Sunday Times die dreiundneunzigjährige Architektin und Designerin Eileen Gray an der Rue Bonaparte in Paris. In ihrem Salon hing eine Gouache, die eine Karte von Patagonien darstellte, für das sie eine Schwäche hatte. Sie forderte Chatwin auf, an ihrer Stelle dorthin zu reisen. Er habe keinen Augenblick gezögert, seinen Rucksack gepackt und der Sunday Times ein Telegramm geschickt: „Für vier Monate fort nach Patagonien.“
Daher erstaunt es, wenn der australische Schriftsteller Murray Bail, der Chatwin zeitweilig durch Indien begleitete, erzählt, mit Bruce umher zu ziehen, sei ähnlich wie eine Reise mit der Garbo. Chatwins Ausrüstung hätte vierzig Kilo Übergewicht an Büchern gehabt, hinzu seien Schreibmaschine, Karteikarten, Champagner, Müsli, Tabletten, Hüte, Stiefel, graue Anzüge und Pyjamas gekommen.

Chatwin schätzte es nicht, als Reiseschriftsteller bezeichnet zu werden. Er betonte stets, ein Schriftsteller zu sein, der auch reist. Als Reaktion auf das Etikett ‚Reiseschriftsteller’, das man ihm nach seinen ersten zwei Büchern In Patagonien und Der Vizekönig von Ouidah angehängt hatte, schrieb er Auf dem schwarzen Berg, eine Art Antireisebuch. Es ist die Geschichte von einem Zwillingspaar, zwei Brüdern, die nie von ihrem abseits gelegenen Bauernhof in Wales weggekommen sind, dort wie ein Ehepaar lebten und auch gemeinsam im elterlichen Ehebett schliefen. Chatwins letzter Roman Utz (1988 erschienen) erzählt von einem Prager Sammler von Meissner Porzellan, der in seinem Kabinett lebt, als ob die Keramikfiguren lebendige Wesen wären.

Dieser Derwisch des Gehens zischte auf Wanderungen ab wie ein Kugelblitz, seine Freunde konnten kaum Schritt halten. Er glaubte, dass „alle Menschen als Wanderer geboren sind“. Er habe alle wesentlichen Entscheidungen im Leben unterwegs getroffen, denn beim Wandern fände er die dafür nötige geistige Klarheit. Solvitur ambulando – es löst sich im Gehen – heißt ein lateinisches Sprichwort, auf das ihn der Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor auf einer gemeinsamen Wanderung durch das Gebirge der griechischen Halbinsel Mani aufmerksam gemacht und das Chatwin sofort in sein Notizheft geschrieben hatte.
In Patagonien hatte Chatwin nur zwei Bücher im Rucksack: In unserer Zeit von Ernest Hemingway und Die Reise durch Armenien von Ossip Mandelstam. Mandelstam schuf seine Gedichte im Gehen, erst wenn er sie fertig im Kopf hatte, schrieb er sie nieder. Chatwin gefiel diese körperliche Idee des Schreibens, bei der der Stil Ausdruck der persönlichen Gangart ist.

Im Reiseroman Traumpfade erzählt er, dass er eines Morgens aufgewacht und blind war, als er noch beim Auktionshaus Sotheby’s arbeitete. Der Augenarzt, der ihn untersuchte, sagte, organisch sei alles in Ordnung, die Ursache des Übels sei wohl, dass Chatwin Bilder aus allzu großer Nähe angeschaut habe. Der Arzt empfahl, die Bilder gegen weite Horizonte zu tauschen, worauf Chatwin in den Sudan reiste. Schon am Flughafen hätte er beinahe wieder normal gesehen. Die Reise wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Auf einer Wanderung durch die Wüste im Osten des Sudans, traf der fünfundzwanzigjährige Kunsthändler gleich zwei für sein weiteres Leben wichtige Entscheidungen: Elizabeth Chanler zu heiraten, Tochter aus einer reichen amerikanischen Familie, die als Sekretärin bei Sotheby’s arbeitete und seine erfolgreiche Karriere als Experte für impressionistische Malerei aufzugeben, um in Edinburgh ein Studium der Archäologie anzufangen. Jahre später, in Patagonien unterwegs, fasste er den Entschluss, seinen Job bei der Sunday Times an den Nagel zu hängen, um Schriftsteller zu werden.

„Nomadentum war von Bruce Chatwins großen Themen das größte“, schreibt Susannah Clapp, seine erste Lektorin, in ihrer Biographie Mit Chatwin. „Es war mehr als ein interessantes Sujet, über das er schreiben konnte: es war eine Obsession, die zugleich ein Glaube war und die ihm die Möglichkeit gab, seinen archäologischen Forschungen und geographischen Studien, seiner eigenen Geschichte und Neurose Sinn – und Gewicht – zu verleihen.“
Als man ihm 1968 anbot, an einer Ausstellung über nomadische Kunstwerke aus der asiatischen Steppe mitzuarbeiten, die die Asia House Gallery in New York unter dem Titel Animal Style – Art from East to West plante, sagte er sofort zu. Bei diesem Projekt konnte er seine Erfahrungen als Kunsthändler mit dem in Edinburgh erworbenen archäologischen Wissen verbinden. Er erhielt die Gelegenheit, nach Leningrad, Moskau, Helsinki und anderswohin zu reisen, um an Ort und Stelle die für die Ausstellung benötigten Objekte auszuwählen. Die Ausstellung wurde im Winter 1970 eröffnet.
Der Katalog enthielt neben den abgebildeten Objekten auch Beiträge der Mitarbeitenden. Bruce Chatwins Beitrag Die nomadische Alternative irritierte die anderen Mitarbeiter der Ausstellung, er passte schlecht in den streng wissenschaftlichen Katalog. Es ist ein höchst spekulativer, aber anregender Text, in dem Chatwin das Nomadentum als realer Gegenentwurf zur Zivilisation beschreibt.

Tom Maschler, geschäftsführender Verleger bei Jonathan Cape, gefielen Chatwins wilde Spekulationen. Maschler hatte nur wenige Bücher in Auftrag gegeben: Der nackte Affe von Desmond Morris war in den 1960er Jahren eines der erfolgreichsten Sachbücher in England. Er hoffte, mit einem Buch über Nomaden einen ähnlichen Erfolg zu erzielen und bat Chatwin um ein Exposé.
„Echte Nomaden haben kein festes Zuhause als solches; sie kompensieren das, indem sie immer gleichen Migrationswegen folgen“ schreibt Chatwin. Das nomadische Leben war für ihn die Urform menschlichen Seins, die Frage nach der Ruhelosigkeit die zentrale anthropologische Frage überhaupt. Das Feld, das er zu durchstreifen beabsichtigte, sollte sich von den umherziehenden Sammlern und Jägern des frühen Paläolithikums, über die Hirtennomaden, die jüdische Diaspora und den religiösen Pilgern des Mittelalters bis zu den modernen Vagabunden und Tippelbrüdern erstrecken. Er wollte den Ursprüngen der großen Nomadenkulturen nachgehen, der Skythen, Hunnen und Germanen, das Schicksal der Indianer, Zigeuner und Samen darstellen und das Unbehagen in der Kultur erforschen, das in allen Zivilisationen gegenwärtig ist. Das Buch würde die Gründe darlegen, wie sich Zivilisationen selber zur Religion erklären und aufzeigen, wo McLuhans Kommunikationstheorie falsch sei.
Das Projekt bedeutete Arbeit für Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Kauf und Verkauf von Kunstgegenständen und zog von einem Ort zum nächsten, ständig auf der Suche nach einem idealen Platz zum Schreiben.

Was Tom Maschler in die Hände bekam, als das Manuskript abgeliefert wurde, war eine „unverständliche Anhäufung von ominösen Verallgemeinerungen und abstrakten Theorien“, unbrauchbar, um als Buch veröffentlicht zu werden.
Der Hauptgrund für das Scheitern hatte wohl zwei Gründe: Chatwin besaß dafür nicht das nötige Sitzleder, und es mangelte ihm systematischer Methodik. „Fundierte Gelehrsamkeit ist ein Stück Gepäck, das mir zum Schleppen zu schwer ist; ich habe es eilig und reise ohne Lasten“, notierte er in eines seiner Moleskine-Hefte.
Das visuelle Gespür war bei ihm viel ausgeprägter als intellektuelle Systematik. Die Welt hatte für ihn eine konkrete, dingliche und nicht eine abstrakte Dimension. Seine Bücher leben von einer sinnlichen Qualität. Chatwin ist dort am besten, wo er schildert, was er gesehen, gehört und erlebt hat, er trifft dann den Kern einer Sache viel besser, als wenn er eine lange Theorie darüber ausbreitet. Man spürt darin die visuelle Schulung, die er bei Sotheby’s durchlaufen hat, wo er Objekte säubern und mit kurzen und prägnanten Beschreibungen beschriften musste.

Ein paar Jahre später wird Tom Maschler mit In Patagonien entschädigt, das zu einem Kultbuch avancierte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. In Patagonien ist eines jener inspirierenden Reisebücher, das von der bezaubernden Kraft des Unterwegsseins lebt. Die Frage nach der menschlichen Unrast blinkt immer wieder wie ein Leuchtfeuer darin auf.
Ein typisches Reisebuch erzählt in der Regel von den unbedeutenden Ereignissen und Belanglosigkeiten, die einem Reisenden unterwegs zustoßen. Bruce Chatwin meidet diese Art der Mitteilung weitgehend. Wir erfahren sehr wenig über ihn selber. Das Buch berichtet von Abenteurern, Hochstaplern, Anarchisten, die in Patagonien gestrandet waren, von den Banditen Billy the Kid und Butch Cassidy, die zeitweilig in Patagonien abtauchten, vom selbsternannten König von Aurekanien, der in Paris im Exil lebt, von Farmern und Schafzüchtern, walisischer, englischer, deutscher und russischer Herkunft, die die Indigenen vertrieben und sich das Land unter den Nagel gerissen hatten. Es ist eine Collage aus Geschichten, Impressionen, Erinnerungen und zufällig Aufgeschnapptem, die durch ein in der ersten Person erzählendes Ich lose zusammengehalten wird.

Anfangs 1983 reiste er nach Adelaide, Australien, um dort Kath Strehlow, die Witwe des „streitlustigen Ethnologen“ Theodor Strehlow zu besuchen. Strehlow war bei den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens, aufgewachsen, 1978 starb er an einem Herzinfarkt. Chatwin betrachtete Strehlows Studie The Aranda Traditions als ein „Kernstück des 20. Jahrhunderts“, „vielleicht der eigentliche Grund, warum ich hier bin“. Kath Strehlow zeigte ihm eine Spezialvitrine, mit geheimen Gegenständen, die ihr Mann von Aranda-Ältesten zur Aufbewahrung erhalten hatte: mit Federn geschmückte Pfähle, Federstiefel zur Tarnung, ovale mit schwarzen Mustern verzierte Steine.
Im Schöpfungsmythos der australischen Ureinwohner entdeckte Chatwin eine Metapher von großer Suggestionskraft, sie gab seinen Nomadenideen ein archetypisches Unterfutter. In der Traumzeit der Aborigines wurde das Land durch Lieder ins Leben gerufen. Die ersten Menschen hatten sich aus Lehm selbst erschaffen und begonnen, über den ganzen Kontinent zu wandern. Im Wandern sangen sie, Schritt für Schritt, alles ins Dasein, was ihnen begegnete: Vögel, Schlangen, Büsche, Bäume, Steine, Wasserlöcher. Sie hinterließen unsichtbare Spuren aus Melodien und Wörtern; die die Aborigines als Tjuringas bezeichnen: „Fußspuren der Ahnen“ oder „Wege des Gesetzes“. „Ganz Australien kann wie eine Partitur gelesen werden …. Es gibt keinen Pfad ohne Lied.“ Bei diesen vielfältig gewundenen und sich überkreuzenden Pfaden handelt es sich um eine Art mythische Linien, an die ein Aborigine dank der Kraft seines Unbewussten andockt und auf denen er sich intuitiv vorwärts bewegt.
Für einen ruhelosen Schriftsteller gibt es wohl keine ausdrucksvollere Metapher, als unsichtbaren Pfaden zu folgen, auf denen die Welt ins Dasein gesungen wird und dabei eine poetische Geographie zu schreiben. Salman Rushdie, der Chatwin 1984 auf seiner zweiten Reise durch Australien begleitete, beneidete ihn um diese Idee.

In Traumpfade soll eine Eisenbahnlinie durch das Land der Aborigines gebaut werden. Arkady Wolschon, Sohn eines vor den Nazis geflohenen und nach Australien emigrierten Kosaken, übernimmt die komplexe Aufgabe, zusammen mit einigen Ureinwohnern, das Land der Vorfahren zu kartographieren, damit die Geleise nicht die Traumpfade zerschneiden. Arkady ist wie Theodor Strehlow bei den Aborigines aufgewachsen und kennt ihre Mythen und Rituale. In diesem unermüdlichen Buschwanderer, der in seinem Wohnwagen auf dem Cembalo Musik von Bach und Buxtehude spielt, erkennt der Erzähler einen Geisterverwandten.

Chatwin war ein anspruchsloser und extravaganter Wanderer zugleich, ein Chamäleon mit zahlreichen Widersprüchen. Auf der einen Seite war er überzeugt, „wenn die Welt noch eine Zukunft hat, dann ist es eine asketische Zukunft“, eine andere Seite von ihm wurde von den Städten und dem verschwenderischen Luxus und Glamour der High Society angezogen.
Chatwins Begriff der Rastlosigkeit hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Die jugendliche Unbeschwertheit musste zuerst den wissenschaftlichen Fragestellungen seines Nomadenprojektes und gegen Ende seines Lebens einer metaphysischen Ausrichtung Platz machen. Als er 1965 auf seiner Reise in den Sudan durch das karge und trockene Danakielbecken wanderte, entdeckte er „die Freude, weiter und immer weiter zu ziehen“. Er war jung, alles schien leicht und einfach zu sein. Als er am Nomadenprojekt arbeitete, wurden Leichtigkeit und Enthusiasmus der jungen Jahre durch die schwergewichtige Frage verdrängt, ob der Drang zu reisen eine genetisch-biologische oder eine soziokulturell bedingte Eigenschaft des Menschen sei? In Patagonien findet er nochmals zu seiner anfänglichen Leichtigkeit zurück. Gegen Ende seines Lebens, als er schon sehr krank war und im Rollstuhl saß, leitete er das englische Wort travel vom französischen travail ab und meinte, Reisen bedeute harte Arbeit und Busse tun.
Das Haus, in dem er seine letzten Monate verbrachte, hieß Homers End.
Er starb im Januar 1989 im Alter von achtundvierzig Jahren in Nizza.