Wandern, eine wilde Leidenschaft

Ich lese GEHEN Oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen von Tomas Espedal, ein aus dem norwegischen Bergen stammender Autor. Oh, ja. Darum geht es! Um ein wildes und poetisches Leben. Und um das Gehen. Dass so ein Leben nicht am Laptop zu finden ist, versteht sich von selbst. Man muss zur Haustür hinaus, sich nach links oder rechts wenden und losmarschieren. Die Straße ist ein Versprechen. Wenn ich zur Tür hinausgehe, muss ich an meinen Stock denken. Ohne Stock geht es nicht mehr weit, mit Stock auch nicht. Es bleiben mir nur die Bücher, die ein wildes Leben versprechen. Und die Erinnerungen. Ich war immer gerne zu Fuß gegangen, und ich denke mit Wehmut zurück an die wochenlangen Wanderungen, die A. und ich durch Ladakh und Tibet gemacht haben.

Gehen ist ein wunderbares Buch, das mit seinen Bewegungen, den wellenförmigen Übergängen zwischen den einzelnen Kapiteln seinem Thema bestens gerecht wird. Ich habe in den vergangenen Jahren viele Wanderbücher gelesen, in denen versucht wird, persönliche Erfahrungen und essayistische Überlegungen miteinander zu verbinden. Meistens hinkt das eine hinter dem anderen her. Nicht bei Tomas Espedal. Bei ihm finden wir eine erfreuliche Kompaktheit von Erfahrung und Reflexion, von Denken und Gehen, sie sind zu einem elastischen Ganzen verwoben, zu einem frei fließenden assoziativen Text.

Als Espedal bei D. H. Lawrence, dem Verfasser von Lady Chatterley, den Begriff der „offenen Straße“ findet, bekommt er Lust aufs Gehen, es sei genau der richtige Begriff, um selber aufzubrechen.
Er träumt von „einem neuen Leben auf der Straße“, immer in Bewegung, zu Fuß, von Ort zu Ort. Er fragt sich, ob das lange gehen würde und wie lange?
Die Straße sei die Heimat der Seele, man ist für jede Berührung offen. Jemand der wandert, hat „den Glauben an etwas Neues“ noch nicht verloren. Kurven sind für ihn schöne Bögen „zwischen dem was war und dem, was kommen wird“. Das sesshafte Leben, das wir führen, ist in Espedals Augen reine Geld- und Zeitverschwendung.
Er wandert die norwegische Küste entlang nach Norden, auf zweitausendfünfhundert Jahre alten Pfaden durchs griechische Gebirge, durch die Türkei, die Dolomiten, den Schwarzwald, mit Rimbaud von Charleville nach Paris und zurück, aber auch kürzere Strecken wie jene, die Eric Satie täglich zurücklegte, wenn er aus der Banlieue nach Paris marschierte, um dort seinen Cognac im immer gleichen Bistro zu schlürfen.

Wandern tut Espedal in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug und in gelben Doc Martens Stiefeln, auf dem Rücken trägt er einen schreiend orangefarbenen Rucksack. Endlich einer, der nicht in diesen öden Outdoor-Klamotten herumläuft, die eigentlich nur von einem zeugen: Von schlechtem Geschmack!

Manchmal vermisst er einen Beruf, etwas Sicheres und Normales, ein festes Einkommen. Er hat nie einen Beruf gehabt. Er hat sich anders entschieden, hat rebelliert, geschrieben, Bücher veröffentlicht, aber einen Beruf hat er nie gehabt. Er weiß nicht, was es heißt, Berufskollegen zu haben, Gespräche in der Kantine, Betriebsfeste, Betriebsseminare, Betriebsferien. Er ist nie eingestellt und nie entlassen worden. Wenn er sich fragt, was für einen Beruf er gerne ausüben würde, fallen ihm ein paar ein, durchaus interessante Berufe, aber er spürt, dass er nicht die geringste Lust hat, einen davon auszuüben. Vielleicht sollte er Vagabund, Herumtreiber, Landstreicher werden, würdevolle Berufe, die in den Wohlfahrtsstaaten bedroht sind.

Es stellt sich die Frage, warum überhaupt gehen, wenn man fahren kann. Warum Langsamkeit, Einsamkeit und Härte auf sich nehmen, wenn es schneller und bequemer ginge.
Espedal ist gegen alles, was schnell geht: Flugzeuge, Autos, Schnellzüge, übereilte Gedanken. Das kommt ihm in den Sinn, als er mit seinem Freund Narve Skaar im Schwarzwald Richtung Todtnauberg wandert, zu Martin Heideggers Berghütte. Sie werden vom Enkel des Philosophen zu einem Glas Wasser aus dem berühmten Bach eingeladen, der neben der Hütte vorbeifließt.
Im Gegensatz zu Jean-Jacques Rousseau, der viel Vernünftiges und Didaktisches über das Gehen gesagt hat (Wandern als Mittel für Gesundheit und kräftiges Denken), ist Espedal überzeugt, dass Wandern eine Form von anachronistischer Verrücktheit ist, eine revoltierende Eigenwilligkeit, eine Existenzform, die im Widerspruch zum Normalen steht. Wandern ist mit weit mehr Risiken verbunden, als der durchschnittlich intelligente Mensch es sich vorstellen kann. Das Leben als Vagabund ist hart, kräfteverzehrend, manchmal brutal selbstzerstörerisch, es braucht Kraft und eine gehörige Portion Besessenheit, sonst riskiert man, zugrunde zu gehen oder verrückt zu werden wie Hölderlin.
Zugleich ist Gehen eine der wenigen ursprünglichen Erfahrungen, die in der modernen Zivilisation noch möglich sind. Im Gehen wird man all den überflüssigen Ballast los, aufgebürdet von Gesellschaft und Kultur. Espedal erzählt, dass er seit seiner Kindheit einen tief sitzenden Widerwillen hat, das zu tun, was ihm gesagt wird. Er will auf eine gänzlich andere Art leben, als seine Mitbürger es sich vorstellen.

Ein Wanderer wählt seinen Weg selbst, er fühlt sich frei. Er ist ein einfacher, friedfertiger Mensch, was er zum Leben braucht, trägt er auf seinem Rücken. „Er hat sich die Welt und ihre Möglichkeiten zu Eigen gemacht.“
Im Buch kommt es zu einer Reihe von flüchtigen Begegnungen. Sie dauern manchmal ein paar Stunden, manchmal ein paar Tage. Der Oberst der türkischen Armee zum Beispiel, ist früher ein Hippie gewesen. Er kann immer noch alle Songs des White Albums auswendig. Espedal begegnet ihm in einem Camp an der türkischen Küste, das aus einer Baracke, in der das Essen serviert wird, und ein paar spartanisch eingerichteten Hütten zwischen den Bäumen besteht. Das Camp ist Refugium für herumvagabundierende Studenten, Gestrandete und Menschen, die Fragen aus dem Weg gehen. Der Oberst ist mit seiner schönen jungen Frau und seinen zwei Töchtern unterwegs, um ihnen die Orte aus seiner Hippiezeit zu zeigen.

Wenn der Rücken schmerzt, sich Blasen an den Füssen bilden, die Beine vor lauter Müdigkeit kaum noch gehen mögen und das Gewicht des Rucksacks immer drückender wird, kann es schon sein, dass Espedal das Gehen überdrüssig wird. Warum gehen wir überhaupt, und wohin, ist dann die quälende Frage, die in solchen Momenten rasch in Mutlosigkeit umschlagen kann. Dann sehnt sich Espedal nach einem Zuhause, nach Liebe. Doch die Liebe verlangt Sesshaftigkeit und „Bewegung ist Einsamkeit“. Die über einen Monat dauernde Wanderung durch die gebirgige Küste der Türkei, die er ebenfalls mit Narve Skaar macht, entpuppt sich als ein hartes und strapaziöses Unterfangen, das ihre Kräfte beinahe übersteigt. Als sie eines Abends in einer Bar ein Fußballspiel im Fernseher sehen, überkommt sie das Heimweh. Sie sind erschöpft und wollen nach Hause. Sie haben genug, genug gesehen, genug gehört, mehr erlebt, als sie aushalten können. Damit hat die Rückreise begonnen, obwohl sie erst die Hälfte des Weges hinter sich haben. Die Heimreise könne nicht auf einer Karte eingezeichnet werden, sie beginne im Körper, steige langsam in den Kopf und pflanze sich bis in die Füße hinunter fort.

Rhythmus ist alles beim Gehen, vom Rhythmus hängt es ab, wie ausdauernd man ist. Wer Wandrungen macht, die Wochen oder sogar Monate dauern, muss seinen Rhythmus finden, einen Einklang zwischen Kopf, Herz und Beinen, zwischen gehen, ausruhen, essen, denken und beobachten, sonst ist er schnell außer Atem und die Wanderung wird zur Tortur. Den richtigen Rhythmus finden, heißt auch, vergessen können, vergessen, dass man geht, vergessen, wer man ist, Gedanken, Sorgen und Zweifel vergessen, um wacher auf den Weg zu reagieren, alles intensiver zu erleben. In den Rhythmus des Gehens gleiten, konzentrierte Aufmerksamkeit werden.
Dann spielt es keine Rolle mehr, wie lange man noch zu gehen hat, man gelangt an den Punkt, wo eine Rückkehr zum Normalen schwierig wird, wo tatsächlich etwas Neues beginnt. Je leichter einem das Gehen fällt, umso leichter werden die Gedanken, da sie sich den Sorgen und der Ernsthaftigkeit entledigt haben.

Espedal nennt die Strecke Charleville-Paris die Rimbaud-Strecke.
Es wundert nicht, dass jemand, der das Gehen zu seiner Lebensart erklärt, eines Tages Charleville aufsucht, Rimbauds Geburtsort, und von da nach Paris und wieder zurück marschiert, genauso wie es der junge genialische Dichter getan hatte.
Mit fünfzehn Jahren lief Rimbaud das erste Mal von zuhause fort, eine Flucht, die ihn nach Paris führte. Er wird noch viele Male ausreißen, dieser Junge mit den „Sohlen im Wind“ und fast immer zu Fuß. Gehen war eine Spezialität dieses Bohemiens, Visionärs.
„Ich bin ein Fußgänger, und weiter nichts“, schrieb er in einem seiner Briefe aus Aden an die Mutter. Die Rebellion steckte ihm im Blut. Er wollte Seher sein, seine Sinne entgrenzen. Ausschweifung, Wahnsinn und Aufruhr als Quintessenz. Es war ein wildes, poetisches Gehen, das er praktizierte. „Er war ein Dichter“, schreibt Espedal, „der seine Beine zuschanden ging“. Obwohl er hätte reiten können, führte Rimbaud seine Handelskarawanen zu Fuß über den Hogan am Horn von Afrika. Er war siebenunddreißig, als man ihm das rechte Bein amputieren musste.
Espedal ist die Strecke Charleville-Paris auf seine Weise gegangen, „nicht so schnell, nicht hart und kompromisslos“ wie Rimbaud. Als Espedal nach Paris kommt und ein Bistro betritt, wird er nicht bedient, weil er mit seiner verdreckten Hose, der zerrissenen Jacke und dem unrasierten Kinn wie ein Penner aussieht. Er ist zufrieden mit seinem Aussehen, als er sich im Hotelzimmer im Spiegel betrachtet. So habe er schon immer aussehen wollen. Er ist ein anderer geworden.