Lebe schnell, sterbe jung

Wir kamen an einem sonnigen Nachmittag nach Swansea.
Die Stadtmitte sah so aus, als hätte sie ihren Platz mit der Peripherie vertauscht: Reizlose Betonklötze, Shopping-Malls und ein Busparkplatz so groß wie ein Fußballfeld mit gelben Karos darauf.
Ich habe mir diese „windzerfahrene Stadt“ viel mehr von gestern vorgestellt, lange schattige Häuserzeilen aus dem 19. Jahrhundert, die sich den Hang hochwinden, altes Kopfsteinpflaster, dunkle Pubs und Läden, in denen Sachen angeboten werden, die anderenorts schon vor zwanzig Jahren aus den Regalen verschwunden sind.
Im 2. Weltkrieg war das Zentrum von den Deutschen zerbombt worden, in den neunziger Jahren folgte der Niedergang der Eisen- und Kohleindustrie. Damit war das Schicksal des Hafens besiegelt.
Wir gingen durch das Marine-Viertel hinunter zum Meer. Der Hafen ist nun ein hippes Wohnquartier, mit langen Zeilen roter Backsteinhäuser, einem Dylan Thomas Square und einem Hochhaus, das wie der Leib einer Seebrasse aussieht; Segelboote und Yachten im Hafenbecken.
Die „lange, großartig geschwungene Küste“ – eine braunschillernde Leere im späten Augustlicht. Man sah keine alten Männer mehr, die in den abgetragenen Anzügen der Wohlfahrtsvereine herumlaufen, keine Prediger, die von Seifenkisten herab das Ende der Welt verkündeten, keine herumstrolchenden Jungen, die die Schule schwänzten. Jogger keuchten die Strandpromenade entlang, ein lauerndes Auge auf das Messgerät an ihrem Oberarm. Im Westen ragte der alte Granitbuckel Gower ins Meer hinaus. Auf dem weit geschwungenen Sandstrand hätte man bis zu seiner äußersten Spitze spazieren können.

Hafenviertel Swansea

Es war schon lange einmal mein Wunsch, die grünen Hügel von Wales zu sehen, das singende Licht der Küste, die Klippen, Flussmündungen, Strände, Städte und Dörfer, seine Gerüche einatmen, die Stimmen der Menschen hören, der Welt von Dylan Thomas näherkommen.
Wie oft hatte ich mir das Hörspiel Unter dem Milchwald angehört, beim Bügeln meiner Hemden, vor vielen Jahren in der kleinen Wohnung an der Kreuzstraße in Zürich, damit ich die Woche über wie ein Schwan mit frisch gesteifter Brust am Bürotisch saß. Ein Spiel für Stimmen, sein Untertitel. Man muss es hören, erst beim Hören entfaltet es seine anrührende Komik.
Es wird ein Tag im Leben des fiktiven walisischen Fischerstädtchen Llareggub erzählt. Dutzende von Stimmen kommen zu Wort: Fischer, Bäcker, Schneider, Postbote, Schuster, Pfarrer, Lehrer, Organist, reinliche Hausfrauen und barfüßige Muschelweiber. Geschwätz, Intrigen, Missgunst, Gerüchte, Geheimniskrämereien und Liebeshändel bestimmen ihren Alltag. Die Zeit scheint anders zu fließen in der „Hauptstadt der Dämmerung“, wo die Toten ein geisterhaftes Dasein führen.
Dylan Thomas war Dichter, Waliser, Säufer, Bohemien, Kobold. Er führte ein schnelles, bedenkenloses und selbstzerstörerisches Leben. Sein Hang zum rauschhaften Dasein und liederlicher Sorglosigkeit verschlägt einem fast die Sprache. Neben T.S. Eliot und W. H. Auden gehört er zu den einflussreichsten Dichtern der englischen Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Hier sein Steckbrief! Von ihm selbst verfasst:
„Er ist übermittelgroß für Wales, 1 Meter 68½. Dicke Lippen, Stupsnase, mausbraune Locken; ein Vorderzahn ausgebrochen, als er im Wirtshaus Mermaid in Mumbles das Spiel Hund und Katze gespielt hat. Spricht ziemlich geziert, dickköpfig, kann einem alles Mögliche einreden, schneidet ein bisschen auf. Knickerbockerhosen, tipptopp, aber kein Frühstück, Sie kennen ja den Typ; Gedichte von ihm waren gedruckt im Herold of Wales. So einer der geschwollen daherredet, ein ländlicher Bohemien mit einer Künstlerkrawatte mit einem Mordsknoten. Ein vielredender, ehrgeiziger, kraftprotziger, prätentiöser junger Mann; und auch so ein Maulwurf, wühlerisch und wählerisch.“

Am anderen Tag regnete es in Strömen. Am Vormittag flüchteten wir ins Dylan-Thomas-Center, gleich hinter dem Morgan Hotel. Am Nachmittag nahmen wir ein Taxi nach Uplands, einem Außenquartier im Westen von Swansea. Das doppelstöckige Reihenhaus am Cwmdonkin-Drive 5, wo Dylan Marlais Thomas am 27. Oktober 1914 zur Welt kam, ist nun ein Museum. Wer mag, kann da auch übernachten. An der Fassade ist eine blaue Gedenkplatte angebracht, man findet sie an allen Gebäuden in Wales, die eine gewisse Bedeutung im Leben und Schaffen des Dichters hatten. Das Haus war 2006 restauriert, alle Modernisierungen entfernt und anhand von Beschreibungen und Fotos in den alten Zustand zurück verwandelt worden, mit Möbeln aus den Trödelläden. Salon, Wohnzimmer, Studierzimmer des Vaters, Küche, Schlafzimmer der Eltern, das zündholzschachtelgroße Zimmer von Dylan (kein Wunder ist er so klein geblieben), Schlafzimmer von Nancy, seiner älteren Schwester, WC und Badezimmer.
Der Vater, D.J. Thomas, war Englisch-Lehrer am College, das auch Dylan besuchen wird. Ein strenger, gebildeter, zurückhaltender Mann mit einer großartigen Bibliothek.
Die Mutter stammte aus dem ländlichen Camarthenshire. Als Junge verbrachte Dylan seine Ferien oft bei den Großeltern oder bei Tante Annie und ihrem Mann Jim. In seinen Gedichten und Geschichten wird er diese verlorene Zeit wieder zum Leben erwecken.
Dylan Thomas hat sich nie von seiner Kindheit gelöst. Die nie erloschene Kindheit mit ihrer Unbedarftheit und Spontanität war ein bestimmender Antrieb für sein Werk, seine eigentliche schöpferische Quelle. Bilder, Geräusche und Gerüche aus jener entlegenen Zeit fanden Eingang in sein Werk. Und damals hat er auch alles Walisische und Keltische eingesogen, das seinem Werk eine eigentümliche Grundierung verleiht.
Er war ein kränkliches Kind mit schwachen Lungen, bei nassem Wetter durfte er nicht ins Freie. Er war hochintelligent, sensibel, querköpfig, von der Mutter verhätschelt.
Es heißt, er habe mit drei Jahren lesen gelernt. Die Bibliothek des Vaters wurde Ersatz für den Park und die Straßen, wo seine Kameraden herumtollten. Er wuchs mit Büchern auf, las wahllos und ununterbrochen, sehr früh wurde er mit Milton, Shakespeare und anderen Klassikern vertraut. Dann entdeckte er die moderne Lyrik und verschlang mit Begeisterung William Butler Yeats, Richard Aldington, D.H. Lawrence. So bekam er dieses außergewöhnliche Gefühl für Sprache, das bezeichnend ist für seine Dichtung.
Dylan war ein mäßiger Schüler. Mit vierzehn wurde er Mitarbeiter, dann Redakteur der Schülerzeitung. Mit sechzehn verließ er das Gymnasium, einzig in Englisch machte er einen Abschluss. Die anderen Fächer interessierten ihn nicht. Sein Leben lang wird er haargenau wissen, was für ihn von Interesse ist und was nicht. Am Gymnasium lernte er Daniel Jenkin Jones kennen, einen Brillenträger, der Komponist werden wollte. Bei ihrer ersten Begegnung prügelten sie sich bis die Kleider zerrissen waren und die Nasen bluteten. Dann wurden sie Freunde fürs Leben. Daniel Jones wird nach dem Tod von Dylan Thomas der Herausgeber des Nachlasses.
Dylan wurde Jungreporter bei der South Wales Daily Post. Nach etwas mehr als einem Jahr entließ man ihn wieder, angeblich weil er keine Stenographie konnte, aber wohl eher mangelndem Interesse wegen. Was gingen ihn all die lokalen Sensationen an!
Sein überschäumendes Genie wollte einzig und allein seiner „unheilbaren Krankheit“ dienen: Gedichte schreiben, obwohl ihm klar war, dass „Gedichte keine Goldammer am Leben erhalten“. Zwischen siebzehn und zwanzig hatte er einen Schaffensausbruch wie er ihn später nie mehr haben wird. Er schrieb mehr als zweihundert Gedichte und Geschichten in seine Notizbücher. Das waren keine Anfängeretüden, darunter befanden sich Gedichte wie The Hunchback in the Park, After the Funeral oder I See the Boys of Summer.
Mit zwanzig verschwand er nach London, Wales war ihm zu eng, zu schmutzig und zu hinterwäldlerisch. Die Metropole mit ihrem hektischen und pulsierenden Treiben, seinen Künstlern und Literaten berauschte und inspirierte ihn. Doch war ihm bald klar, dass er da zu sehr abgelenkt wurde und nichts Richtiges zustande brachte. Er begann sich nach Wales zurückzusehnen.

Den Park, der gegenüber dem Cwmdonkin-Drive im nassen, trüben Grau dieses verregneten Tages hockte, ließen wir rechts liegen. Hier hatte Dylan als Knabe oft gespielt, sofern er nicht das Haus hüten musste. Über den Buckligen im Park, den die Kinder seiner Missbildung wegen verhöhnten, wird er viele Jahre später eines seiner schönsten Gedichte schreiben. Wir gingen die steile Straße hinab zum Uplands Pub an der Crescent Road, einst ein Stammlokal des jungen Bohemien. Die Bierhähnen leuchteten wie ein utopisches Versprechen auf der dunklen Theke. Wir setzten uns an einen Tisch neben dem Erker-Fenster. Fotos von Dylan Thomas hingen an der Wand.
Das Pub war dunkel wie dieser Regentag, aber warm, trocken, gemütlich und laut. Wir hörten die Stimmen der alten Waliser, die neben uns sassen, ihr eigentümliches Englisch. Hier brauchte man sich keine Gedanken zu machen über die farblose Flüssigkeit, die vom Himmel fiel und Schuhe, Hosenstösse und Ärmel in einen feuchten Schwamm verwandelte. Eine junge Serviererin mit einem riesigen Tablett in den Händen und einer bordeauxroten Schürze bis hinunter auf die Turnschuhe brachte uns das bittere Ale.
Dylan Thomas hatte einen schönen Teil seines Lebens in den Pubs verbracht. In ihrer ganzen Ehe sei er nicht einen einzigen Abend zu Hause geblieben, beklagte sich Caitlin, seine Frau, in ihren Erinnerungen. Im Laufe der Jahre wurde aus dem schmalen Cherub mit den sherryfarbigen Locken, dem zarten Gesicht und den wachen Augen, den die Frauen sofort bemuttern wollten, wenn sie ihn sahen, ein vom Bier aufgeschwemmte Tonne mit Bauch, dicken Backen und roter Knollennase.
Viele der Schänken aus seiner Zeit sind verschwunden. So das Three Lamps, das in seinen Reportertagen eine wichtige Rolle gespielt und dem er im Erzählband Porträt des Künstlers als junger Hund ein Denkmal gesetzt hatte. Fred Farr, ein älterer Kollege von der South Wales Daily Post, nahm den Sechzehnjährigen mit ins Three Lamps und ins Fishguards, damit er auch die handfesten Seiten des Reporterlebens kennenlernte. Dylan fühlte sich geschmeichelt. Wie Farr wird er später ständig eine Zigarette im Mundwinkel hängen haben.
„Das Hinterzimmer des Three Lamps war voll älterer Männer. Mr. Farr war noch nicht da. Ich lehnte an der Bar, zwischen einem Ratsmitglied und einem Rechtsanwalt, und trank Bitterbier und wünschte mir, mein Vater könnte mich sehen, und war gleichzeitig froh, dass er Onkel A. in Aberavon besuchte. Er würde einsehen müssen, dass ich kein Junge mehr war, auch wäre er unweigerlich böse über den Winkel meiner Zigarette und meines Hutes und die Bedrohung durch den Bierkrug in meiner Hand. Mir gefiel der Geschmack von Bier, sein lebendiger, weißer Schaum, seine kupferhellen Tiefen, die plötzlichen Welten, die sich durch die nassen, braunen Glaswände auftaten, das schräge Anfluten an die Lippen und das langsame Schlucken hinunter zum verlangenden Bauch, das Salz an der Zunge, den Schaum im Mundwinkel.“

Von Kind auf war Dylan verliebt in Worte, sie faszinierten ihn wie nichts sonst auf der Welt, ihr Farbton und ihr Klang; Bedeutung und Inhalt waren sekundär, Ideen spielten eine untergeordnete Rolle.
Die außergewöhnliche Begabung dieses Sprachmagiers und Sprachkünstlers erinnert an die schöpferische Trunkenheit von Arthur Rimbaud. Als die ersten Gedichte von ihm in The New English Weekly und The Sunday Referee gedruckt wurden, haben T.S Eliot, Stephen Spender und Edith Sitwell, die damals den Ton in der englischen Lyrik angaben, sofort erkannt, dass da ein junges Dichtergenie seinen Platz anmeldete.
1934 erschien sein erstes Bändchen: 18 Poems, zwei Jahre später Twenty-Five Poems, dann The Map of Love und The World I Breathe, die sowohl Gedichte als auch Prosatexte enthielten. Die Gedichte haben ihren eigenen komplexen Rhythmus, sie sind nichts für Eilige. Jedes Gedicht ist eine Wort- und Bilderflut, wogend, üppig, verschwenderisch, mitreißend, voll dunkler Geheimnisse, Andeutungen, ausgefallener Metaphern und ungewöhnlicher Adjektive. Er hat aus Quellen geschöpft, die ihm selber verborgen schienen. Es war mehr ein intuitiver als ein bewusster Schaffensprozess. Aber jedes Gedicht wurde mit einer rigiden Strenge durchgearbeitet, bis es den gewünschten Klang hatte.
Die Leuchtkraft des Daseins und der Geruch des Todes, Leben und Sterben, Werden und Vergehen verschmelzen darin zu einer eigenen Legierung.
Alles Akademische und Intellektuelle war ihm suspekt. Poesie war für ihn primär eine wortschöpferische Kraft, eine Frage der Intensität, der Glut, der Hitze. Oft hatte er das Gefühl, er drücke nur einen geringen Teil dessen aus, was er auszudrücken gedachte. Ich vermute, sein Antiintellektualismus ist in der Angst begründet, die geheimen Quellen könnten versiegen, die Hitze erkalten, wenn der Intellekt die Vorherrschaft übernehmen würde.
Dylan Thomas zu lesen ist wie sich flüssiges LSD ins Hirn zu gießen, das Bewusstsein spektralen Umwälzungen auszusetzen, die verschatteten Zonen durch ein sommerliches Frühlicht auszuleuchten.

Halbinsel Gower mit Worm’s Head

Im Bus fuhren wir nach Rosshilli, ein kleines Dörfchen draußen auf der Halbinsel Gower. Die Böschungen beidseitig der Straße waren mit Büschen und Hecken überwachsen. Gelegentlich war die Straße so eng, dass der Bus und ein entgegenkommendes Auto kaum aneinander vorbeikamen.
Dylan Thomas war ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Er mochte lange Küstenwanderungen. Rhossili war einer seiner Lieblingsplätze.
Hier enden die grünen Hügelkuppen an den steil ins Meer hinabfallenden Klippen. Auf dem weiten Sandstrand sah man Muschelsucher, Fischer und Spaziergänger. Im Nordwesten verlor sich die Küste als dunkler Kohlestrich im silbrigen Dunst. Das Geräusch des Windes übertönte das der Wellen.
„Die Bucht ist die wildeste, trostloseste und verlassenste, die ich kenne – vier oder fünf Meilen gelber Kälte, die sich in die Ferne der See erstrecken“, schrieb Dylan Thomas an seine erste Geliebte Pamela Hansford Johnson. Das ist natürlich stark übertrieben. Diese Landschaft ist rau und sanft zugleich. Wir sehen wie die Flut ansteigt und die vorgelagerte Insel Worm’s Head vom Festland abgetrennt wird.
Eines Nachmittags war der junge Dylan Thomas mit Buch und Proviantbeutel hinaus auf das Eiland geklettert, für ihn „ein wahrhaftiges Kap der Depression“, legte sich dort ins gelbe Gras und schlief bei der Lektüre ein. Als er wieder erwachte, stand die Sonne schon tief im Westen, die Flut hatte die Insel vom Festland abgesondert. Er bekam entsetzliche Angst, vor den Ratten, die es da draußen geben soll und vor Dingen, die er lieber nicht erwähnte. Gegen Mitternacht begannen die Zacken der Felskette wieder aus dem Wasser hervorzuragen und er konnte hinüberklettern ans rettende Ufer. Vor ihm lagen achtzehn Meilen Nachtmarsch nach Swansea. Auf der Straße sah er weiße durchsichtige Frauen an ihm vorüber huschen.
Wir aßen im Pub über der Klippe. An den Wänden hingen Sprüche und Fotos des Dichters. Dylan Thomas ist Kult in Wales! Überall, wo er einmal ein Bier getrunken hat, wird daran erinnert.

Die Auskunft der Frau am Bahnhof von Swansea war falsch. Am Sonntag fährt kein Bus von Carmathen nach Laugharn. Wir mussten ein Taxi nehmen.
Was uns nach Laugharn führe, wollte die Fahrerin wissen. Wir sagten es ihr.
„In der Schule mussten wir uns bis zum Überdruss mit Unter dem Milchwald beschäftigen“, erzählte sie, “vieles kann ich immer noch auswendig.“ Und sie zitierte:
„Anfangen, wo es anfängt. Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflaster still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See hinab.“
Ich wurde richtig neidisch da auf dem Hintersitz im Taxi. Warum habe ich mir das Hörspiel so lange nicht mehr angehört? Hemden bügeln muss ich ja immer noch.
Laugharn besteht aus einer Haupt- und ein paar Nebenstraßen, von zweistöckigen Häusern gesäumt. Die Hauptstraße windet sich zwischen grünen Hügeln zum Haff hinab und auf der anderen Seite wieder den Hügel hoch. Oben im Städtchen gibt es das Gemeindehaus, ein paar Pubs, eine kleine Kirche und das Browns Hotel. Oberhalb des Städtchens steht die alte Kirche St. Martin. Auf dem Friedhof ist Dylan Thomas begraben. Ein helles Holzkreuz bezeichnet die Stelle.
Im Browns Hotel gab man uns das Zimmer auf dessen Tür „Fern Hill“ stand. Ein gutes Omen, dachte ich. Fern Hill ist eines meiner Lieblingsgedichte.

Als ich jung war und leicht unter den Apfelzweigen
Um das schwingende Haus und fröhlich grün wie das Gras,
Sternennacht über dem dunklen Grund,
Ließ rufend aufgehen mich die Zeit,
Golden in brausenden Tagen ihrer Augen,
Und geehrt bei den Karren war Fürst ich der Apfelstädte
Und außerzeiten verfügte ich Gänseblümchen und Gerste
In der Schleppe von Bäumen und Blättern
Auf Strömen des windabgeworfenen Lichts.

Bootshaus über der Bucht von Laugharne

Im Mai 1949 zogen Dylan und Caitlin mit den drei Kindern nach Laugharne. Dylan liebte das kleine stille Städtchen, es war für ihn ein Sehnsuchtsort. Margaret Taylor, eine seiner Mäzeninnen, hatte für sie das Bootshaus erworben. Es steht abseits vom Dorf, auf der Klippe über der Flussmündung, weiß gestrichen und wie auf Stelzen. Die Jahre davor hatten sie ein rastloses Nomaden- und Vagabundenleben geführt, immer an anderen Orten, in Wohnungen und Häusern, die ihnen andere großzügig zur Verfügung gestellt hatten. Der eigene Besitz habe in einem Mauseloch Platz gehabt, schrieb Dylan Thomas in einem Brief.

Drei Flüsse kommen hier zusammen. Bei Ebbe ist das Haff eine weite braune Schlammfläche mit dünnen Rinnsalen. Bei Flut füllt das hereinströmende Meer die Bucht und schaukelt die orangefarbigen Bojen und das hellblaue Boot, die bei Ebbe faul im Morast liegen. In der Ferne steht die Silhouette eines Leuchtturms. Irgendwo dahinter muss das Meer sein, es ist nicht zu sehen. Im Westen die bewaldete Anhöhe von Sir John’s Hill, im Osten Abhänge mit grünen in Rechtecke unterteilte Weiden. Kühe und Schafe wie Punkte darauf. Ein paar verstreute Häuser.
Das Marschland ist ein Puzzle aus mattgrünen Kissen.

Haff von Laugharne bei Flut

Das Meer flutet durch sein ganzes Schaffen, Gezeiten und Brandung prägen den Rhythmus seiner Texte. Der Name Dylan ist walisisch und bedeutet „große Flut“, abgeleitet von den Wörtern „dy“ (groß-/artig) und „llanw“ (Flut/Strom im Sinn von Ebbe und Flut). Der Vater hatte diesen Namen ausgewählt, die Mutter war eher befremdet; es war damals kein gebräuchlicher Name.
Das Mündungsgebiet mit seinen Stimmungen, seinem Wetter und den Vögeln hat in seinen späten Gedichte Eingang gefunden. Als wir eines Abends den Kliff-Weg zum Bootshaus hinuntergingen, stand ein Reiher im ansteigenden Wasser, hingegen die Kormorane noch Kraniche, die das Haff zu Dylan Thomas Zeiten bevölkert hatten, verschwunden zu sein.
Wir spazierten dem Dylan-Thomas-Birthday-Walk entlang, der sich am Fuß des Sir John’s Hill durch den nassgrünen Wald schlängelt. Auf den Holztafeln, die am Pfad entlang aufgestellt waren, war das Gedicht Poem in October zu lesen. Sein eigenes Leben sei „ein von Wasser und Wind poliertes Treibholz“, die hereinströmende Flut eine „schuppige Steppe der Wellen“.

Zwischen dem Städtchen und dem Bootshaus steht eine mächtige Burgruine. Am Kliff-Weg, der über der Flussmündung zum Bootshaus führt, klebt die Schreibbaracke des Dichters.
Die hellblaue Tür von damals hängt nun an einer Spanholzwand im Dylan-Thomas-Center in Swansea. Bei der neuen Tür hat man ein kleines Fenster eingebaut, damit man einen Blick ins Innere werfen kann.
Wie ein Handwerker ist er jeden Tag in seine Wortwerkstatt gegangen, immer am Nachmittag zwischen zwei und sieben Uhr. Dann war ein „intensives Kritzeln, Murmeln, Wispern, Intonieren, Brüllen und Jonglieren mit Worten“ zu hören. Hier hat er große Teile von Unter dem Milchwald geschrieben.
Die Hütte ist so eingerichtet, als ob er nur schnell fortgegangen wäre, auf ein Bier im Browns oder so. Der Schreibtisch am Fenster ist mit Blättern übersät, zwei Lampen, eine Flasche und eine Tasse stehen darauf, Bücher und ein Füllfederhalter liegen da. Am Stuhl hängt eine helle Jacke. Links steht ein Bücherregal mit ein paar verstaubten Schmökern darauf. Ein kleiner gusseiserner Ofen, ein Stapel Brennholz daneben. Fotos und Reproduktionen von Kunstdrucken an den Wänden, vom Alter verblasst, geringelt und gelb geworden.

Schreibbaracke von Dylan Thomas in Laugharne

Wo mag Dylan Thomas in der Bar des Browns Hotels gestanden haben? Das bittere Ale schlürfend, die anderen Gäste lautstark unterhaltend mit seinen Witzen, endlosen Geschichten, Schwänken und Clownereien. Auch hier hängen Fotos und Zeichnungen von ihm an den Wänden, der Schutzumschlag von In Country Sleep, eingerahmt wie ein Bild. Auf den beiden Fotos neben dem Erkerfenster sehen Dylan und Caitlin noch ganz jung aus, ihre Liebe voller Zuversicht. Sie sitzen an einem Tisch in der Bar. Dylan hält ein Glas in der Hand. Sie haben gehofft, in Laugharne ihr altes Glück wiederzufinden, denn mittlerweile haben Alkohol, Geldmangel und Untreue von beiden Seiten die Beziehung vergiftet; Streit, Zank, Prügeleien gehörten zu ihrem Alltag.
„Unsere Ehe war keine Love-Story. Es war eine Trinker-Story“, schrieb Caitlin in ihren Erinnerungen. Der eine Dylan sei immer verantwortungsloser geworden, ein riesiger Schlawiner und Schwindler was Finanzen, Familie und Freunde betrifft, während seine dichterische Kraft ständig zu wachsen schien. Weder Dylan noch Caitlin konnten mit Geld umgehen. Hatten sie welches, wurde es sofort ausgegeben. Sie steckten chronisch in finanziellen Nöten und standen bei den Händlern in der Kreide, auch dann noch als Dylan beim Film und der BBC gut verdiente und reiche Verehrerinnen ihn tatkräftig unterstützten.

New Quay ist Fischerhafen und Seebad, etwas nördlicher gelegen. Es ist viel belebter und lärmiger als Laugharne. Strand, Bootshafen und Delphinschauen draußen in der Bucht sorgen für seine Attraktivität. Das Städtchen besteht aus zwei steilen Straßen, die wie die Schenkel eines Dreiecks unten beim Hafen zu einem spitzen Winkel zusammenlaufen. Es gibt Restaurants, Shops für Strandzeug, Kleiderboutiquen, Eisdielen und Büros, die Bootstrips zu den Delphinen anbieten. Oben auf dem Hügel verbinden ein paar querlaufende Straßen die beiden Schenkel miteinander. Eine wuchtige Brandungsmauer schützt das Hafenbecken mit seinen Motor- und Segelbooten. Der runde Sandstrand wird im Westen von einem bewaldeten Hügel abgeschlossen.

Hafen von New Quay bei Ebbe

An diesem Wochenende (einem Bank-Holliday-Weekend) wurde New Quay von Touristen überspült. Alle hatten frei. Alle wollten ans Meer. Die Leute liefen in T-Shirts, Shorts und Schlappen und mit riesigen Picknick-Taschen und aufblasbaren Kunststofftieren herum. Die meisten waren am Eis lecken, viele unglaublich dick.
Nach unserem ersten Spaziergang durchs Städtchen tranken wir in der Bar des Black Lion Hotels ein Bier. Ein leeres, fades Lokal mit hellen, quadratischen Tischen und Fotos von Dylan Thomas an den Wänden.
Er hatte im letzten Kriegsjahr in Llanina, in der Nähe von New Quay gewohnt. Täglich kam er ins kleine Seebad herüber, um sich im Black Lion einen zu genehmigen und mit den Leuten zu quatschen.
Wir gingen hinüber nach Llanina auf der anderen Seite der Bucht. Der kleine Weiler besteht aus einer Kirche, einem Friedhof und ein paar Steinhäusern. Er liegt nicht direkt am Meer, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern über dem Kliff an einem von Büschen und alten krummen Bäumen verschatteten Flüsschen.
Die Frau, der Llanina Mansion gehört, bot uns an, von ihrem Garten aus Fotos vom Apfelhaus zu machen, das ganz am unteren Ende steht. „Man kommt nicht mehr hin, das Gestrüpp ist zu dicht und zu hoch“, sagte sie. Das Apfelhaus war nur noch eine Ruine, überwuchert von Gebüsch und Brombeerhecken. Es hatte dem Poeten damals als Schreibrefugium gedient. Er arbeitete für Film und Radio. Die neuen Medien faszinierten ihn. Für BBC schrieb er Essays, Reportagen und Hörstücke und trug auch persönlich vor. Die autobiographischen Hörfolgen (Erinnerung an Weihnachten, Rückreise, Zu Besuch in Amerika) gehören zum Besten, was er fürs Radio gemacht hat.Hier entstand Ganz früh eines Morgens, ein Vorläufer von Unter dem Milchwald: „Die Stadt war noch nicht wach und ich ging durch die Strassen wie ein Fremder, der aus dem Meer gestiegen ist und mit jedem Schritt Holz und Wellenschlag und Dunkelheit abschüttelt, oder wie ein neugieriger Schatten, der entschlossen ist, sich nichts entgehen zu lassen.“

Dylan und Caitlin hatten in einen billigen Bungalow namens Majoda gewohnt, der inzwischen durch ein stattliches Cottage ersetzt worden ist. In der Nähe steht Ffynnonfeddyg, das Vera und William Killick gehört hatte, Freunden des Dichters. Nach einem Streit im Black Lion, bei dem Dylan Thomas den Offizier bis aufs Blut gereizt hatte, ging der nach Hause, holte sein Gewehr und schoss auf den billigen Bungalow, in dem die Thomas wohnten. Das Gericht sprach William Killick frei, seiner guten Dienste als Major in der Royal Army wegen.

Tür zu Llanina Mansion mit Dylan-Thomas-Plakette

Sowohl Swansea als auch Laugharne und New Quay erheben Anspruch darauf, als Vorbild und Modell für Llareggub gedient zu haben. Und wie es in solchen Fällen so ist, haben alle drei ihre guten Gründe dafür.
Für New Quay sprechen das Manchester-House oben im Städtchen, es sei das Vorbild für das von Mog Edwards gewesen. Der Shop Costcutter unten am Hafen war einst eine Bäckerei, die von Mr. John betrieben worden war, der wie Dai Bread im Hörspiel zwei Frauen gehabt hatte. Die Towyn Chapel wurde zu Dylan Thomas Zeiten von Orchwy Bowen geleitet, er war wie Eli Jenkins im Milchwald Pfarrer und Dichter zugleich gewesen. Der Shop im London-House beim Hafen wurde damals von Norman Evans betrieben, einem Freund von Dylan Thomas, Vorbild für Boyo Nichtsnutz. Er war noch zu faul, sich die Nase zu putzen. Gleich daneben stand einst ein Süßwarenladen, also jener von Myfanwy Price, die mit Mog Edwards oben vom Manchester-House glühende Liebesbriefe austauscht, ohne dass sie jemals zusammenkommen werden. Sie verspricht ihm, eine vergissmeinnichtblaue Börse zu stricken, damit das Geld sich darin wohlfühlt. Unterhalb des Black Lions hatte es die Eselswiese gegeben, auch sie hat ihren Platz in Unter dem Milchwald bekommen.

Wir fuhren weiter nach Fishguard. Das kleine Städtchen besteht aus Lower- und Upper-Fishguard. Es hat sich 1971 in den Dylan-Thomas-Kosmos hineingeschmuggelt, als es Schauplatz für die Verfilmung von Unter dem Milchwald von Andrew Sinclair wurde, mit Richard Burton, Elizabeth Taylor und Peter O’Toole in den Hauptrollen.
Wir wohnten im angejahrten Fishguard Bay, einem Hotel mit einer verstaubten Noblesse. Aus der Ferne sieht es wie ein weißes Schloss aus. Es steht im Wald über dem Hafen, wo die riesigen Fähren nach Irland anlegen.
Im großen Speisesaal bedienten uns ältere Damen mit strengen silbrigen Dauerwellen, Rouge auf den Wangen und einer weißen Schürze über den schwarzen Jupes, die züchtig über die Knie hinabgingen. Sie verkörperten die Eleganz aus einer anderen Zeit.

Lower Fishguard

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Amerika der Hunger nach europäischem Geist gewaltig. Sie verschlangen alles, was aus Europa kam.
Dylan Thomas reiste zwischen 1950 und 1953 vier Mal nach Amerika. Er hoffte, dort das große Geld zu machen. Und er hatte einen beispiellosen Erfolg mit seinen Vorträgen. Zur ersten Veranstaltung im Poetry Center in New York kamen über tausend Leute. Er bestritt Lesungen in mehr als dreißig Städten.
Überall wurde er auf Partys eingeladen, Presseleute belagerten ihn, Frauen wollten Autogramme und anderes mehr. Er ließ sich verführen und verführte und hatte zahlreiche Affären in Amerika. Das Geld gab er so schnell aus wie er es verdiente, seine Familie zuhause in Laugharne bekam davon nicht viel zu sehen, die Schulden wurden immer erdrückender.

Grab von Dylan Thomas in Laugharne

Er starb am 9. November 1953 in New York, infolge einer zu hohen Dosis Morphin und Barbiturate, die ihm der herbeigerufene Arzt verabreichte, um die akuten Atemnöte zu lindern. Er starb auf der Höhe seines Ruhms. Presse und Massenmedien hatten ihn zu einem Star hochgejubelt. Er war dem ganzen Scheißrummel nicht gewachsen gewesen, vielleicht war es das, was ihn schließlich umgebracht hatte, und nicht sein unaufhörliches spektakuläres Saufen.
Seine Leiche wurde auf der SS United States in die Heimat überführt. Neben dem Sarg stand ein Feldbett, in dem Caitlin schlief. Man hatte ihr telegrafiert, als er ins Koma gefallen war, sie war ins nächste Flugzeug gestiegen und nach New York geflogen. Manchmal kamen die Seeleute in den Laderaum hinab und spielten Karten auf dem Sarg. Das hätte Dylan Thomas sicherlich gefallen. Und wäre er noch am Leben gewesen, hätte er sich dazu gesetzt und mitgespielt. Er fühlte sich bei den einfachen Leuten heimisch, die intellektuellen Zirkel waren nie seine Sache gewesen.
Er wurde am 24. November in Laugharne beerdigt.

„Die Zeit vergeht. Horch. Die Zeit vergeht.“