In einem entlegenen Tessiner Bergtal

Campanile von Berzona

Berzona ist ein kleines Dorf im Onsernone, einem abgeschiedenen Tal nördlich des Lago Maggiore. Hier geht es entweder hinauf oder hinunter. Die Straße ist eng und kurvenreich.
Die herbstlichen Hänge leuchteten braun, gelb und rot. Darüber sah man die graue Schraffur der Berge und einen blassen Himmel.
Ich betrat den Friedhof, der am unteren Ende des Dorfes liegt. Vor zwei Thuja-Sträuchern sah ich zwei flache Granitplatten, die Grabstätten von Gisela und Alfred Andersch. Darauf Name, Geburts- und Todesjahr.
Das Künstlerpaar war 1958 nach Berzona gekommen. 1972 sind sie Schweizer Staatsbürger geworden. Im ganzen Dorf gibt es sonst keinen Hinweis darauf, dass sie hier gelebt haben. Für Max Frisch, der 1964 auf Rat von Andersch in Berzona ein Haus gekauft und umgebaut hatte, hängt eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer. Für die Andersch nicht. War Frisch finanziell der Großzügigere gewesen? Die alte Dame zu Besuch? Weiterlesen

Dichterin und Rockrebellin

Das alte Städtchen Saint-Florent liegt an einer hellen Bucht im Nordwesten von Korsika.
Dort fand ich im Presseladen die französische Ausgabe der Zeitschrift Rolling Stone. Und darin ein Interview mit Patti Smith. Ich stelle sie locker neben Marcel Proust. Ein schickes Paar, nicht? Die Rockrebellin mit dem harten New-Jersey-Slang und der überfeinerte und hochgebildete Pariser Literat. Das Sonnenlicht flutete auf den Platz herab. Ich ging hinüber ins Café mit den wuchtigen Platanen, setzte mich an einen Tisch und bestellte einen schwarzen Kaffee.
„Jeux de Miroir“ heißt der Titel des Interviews, „das Spiegelspiel“, das Paola Genone mit Patti Smith geführt hat. M Train, ein weiterer Band Erinnerungen, kurz zuvor erschienen, war der Anlass dafür. Es ist ein weiträumiges Gespräch, voll eigensinniger Gedanken, das mich in eine aufrührerisch-träumerische Stimmung versetzte.  Weiterlesen

Wer alt werden will, muss nach Asien reisen

„Ins Unbekannte hinausziehen, das ist neues Leben. Alles ist Wiederbeginn, ich weiß nicht, was vor mir liegt.“ Ella Maillart

An einem strahlenden Septembermorgen kamen wir über den Furkapass. Das Wallis dehnte sich vor uns aus. Blaue Bergflanken, weiße Spitzen, Granit.
Wir sahen die Nadelkurven der Passstraße hinunter ins Tal, rechts davon der schwindsüchtige Rhônegletscher. Es folgte das satte Grün des Obergoms, weidende Kühe, dunkle Holzhäuser auf pilzartigen Steinsockeln. Bei Sierre hätten wir um ein Haar die Abbiegung ins Val d’Anniviers verpasst. Eine enge Straße führte am bewaldeten Westhang des Illhorns in eine Höhe von Zweitausend Metern über Meer. Dort liegt Chandolin auf einer schmalen, abschüssigen Terrasse.
Wir gingen zum alten Teil des Dorfes hinunter. Die Kapelle Sainte-Barbe ist jetzt ein Museum, in Erinnerung an Ella Maillart, einer der mutigsten Frauen in der Literatur. Weiterlesen

Pariser Buchhandlungen

Wir wohnten oben im Belleville, am Rand des Chinesen-Viertels, an der Sambre-et-Meuse. Ein kleines Studio im vierten Stock, dunkles, braungestrichenes Treppenhaus, doppeltes Schloss. Wer in Paris einen großen Raum bewohnen will, braucht entweder viel Geld oder die Fähigkeiten eines Hochstaplers.
Wir verließen das Haus kurz nach zehn Uhr. Ein kühler Morgen. Die Sonne blass. Wir gingen den von Chinesen und Schwarzen bevölkerten Boulevard de Belleville hinunter zur Metrostation. Vorbei an den chinesischen Restaurants, dem chinesischen Supermarkt, den chinesischen Läden und den Süffeln, die auf dem breiten Mittelstreifen des Boulevards herumhingen. Die Luft schien voll unsichtbarer Zeichen zu sein. Weiterlesen

Der Philosophenturm

Im Bus fuhr ich durch das Rebhügel- und Kuhweidenuniversum des Périgord. Ein strahlender Morgen, der einen heißen Tag versprach. Leuchtende Wiesen. Das Laub des Weins. Mitten im Grün die alten, grauen Dörfer.
Ich ging einer hohen Mauer entlang. Schattige Bäume. Blumenrabatten. Lärmende Schulkinder auf dem Rasen. Ich trat durch das Tor und da war das Schloss, wuchtig, herrschaftlich, mit vielen Türmen, deren kegelförmige Dächer in der Junisonne dunkel glänzten. Seltsam. Im Prospekt, den ich im Touristenbüro in Bergerac erhalten hatte, war ein eleganter, leichter Renaissancebau abgebildet. Ich faltete den Prospekt nochmals auf und sah, dass es sich um das „Château de Matecoulon à Montepeyroux“ handelte, das meiner Meinung nach besser zu Michel de Montaigne gepasst hätte als dieser imposante und abweisende Protzbau da. Weiterlesen

Das Haiku braucht keine Hütte

Zen-Tempel - Bashô-Hütte im Hintergrund
Zen-Tempel – Bashô-Hütte im Hintergrund

In Kyoto gibt es mindestens drei Hütten, in denen sich Matsuo Bashô, der große Meister des Haiku-Gedichtes, aufgehalten haben soll. Bei einer kann man davon ausgehen, dass es so war, die zwei anderen sind lange nach seinem Tod gebaut worden. Als Bashô-an – Erinnerungsstätten, Eremitenklausen. Diese Orte strahlen die Stille einer verlorenen Zeit aus und verkörpern die bezaubernde und eigenartige Schönheit des alten Japans.
Es gibt zahlreiche solcher Stätten in Japan. Nicht nur in Kyoto. In alter Zeit wurde Bashô wie ein Gott verehrt. „Wir Japaner tragen Bashô in unserem Herzen“, sagte in Yamadera eine Frau zu mir. Weiterlesen

Dichter, Landwirt, Dandy

Am Fuss der Alpes Côte d‘Azur wurden die Pinienwälder vom bunten Laub der Kastanien, Eichen und Weinfelder abgelöst. Auf den Hochebenen stand das matte Grün der riesigen Lavendelfelder. Die Landschaft der Provence mit ihren Weiten, muldenartigen Tälern und weissen Kreidefelsen hat ganz eigene Qualitäten.
Wir kamen ins breite Tal der Durance. Ein schönes Tal, eigentlich. Doch an vielen Orten zugemüllt: Autobahnen, Strassen, Supermärkte, Tankstellen, Bürohäuser, Lagerhallen, Wohnblöcke, Parkplätze. Die ganze hässliche Lieblosigkeit, die man Fortschritt nennt. Das ästhetische Empfinden heruntergekommen. Dem Preis geopfert. Hauptsache billig, Hauptsache schnell hin gehudelt. Geprägt von Kostenbewusstsein, ökonomischer Effizienz, Wachstum – dem ganzen Geschwätz von jenen ab den Eliteschulen. Ihre Vorstellung von Schönheit reicht nicht weiter als bis zum Krawattenknopf. Auf der anderen Seite des Tales konnten wir Manosque sehen, das kleine Städtchen am Südfuss der Haute-Provence. Weiterlesen

Im fernen Westen

Michel holte mich am Flughafen von Helena ab.
Ich hatte ihn im Restaurant au 35 an der Rue Jacob in Paris kennengelernt.
– Wenn du mal nach Montana kommen möchtest, lade ich dich gerne ein, sagte er.
Er unterrichtete Physik am College in Helena, wohnte aber ausserhalb, in der Nähe vom Canyon Ferry Lake in einem Trailer. Im Trailer nebenan wohnten Tante Lisa und Bob. Lisa war eine fahrende Buchhändlerin. Sie handelte mit Büchern über die Geschichte des Wilden Westens, ein beliebtes Studienobjekt für pensionierte College-Lehrer. Sie fuhr zu Symposien und Tagungen und baute da ihre Büchertische auf.
Als ich ihr erzählte, dass ich wegen James Willard Schultz nach Montana gekommen sei, verschwand sie im hinteren Teil des Trailers. Weiterlesen

Die Küste entlang

„Wieder habe ich diese klare, lebhafte Empfindung von der Küste. Ein erster Ort. Die nackte Schönheit von allem.“
Kenneth White

Der schottische Schriftsteller und Reisende Kenneth White lebt seit vielen Jahren an der Côtes-du-Nord der Bretagne, also ungefähr in der Mitte zwischen den Hebriden und Portugal. Er ist ein kosmopoetischer Nomade, ein solitärer Wanderer, der eine Wind- und Wellen-Philosophie praktiziert. Was zählt, ist der Raum, der Weg, die Bewegung.
„Nennen sie mich Ismael, einen intellektuellen Nomaden.“ Weiterlesen

Unter dem Berg des Donnergottes

Wir fahren die kurvige Straße hinab. Der Beaume entlang. Das Flussbett ist voller Steine und Felsbrocken. Kastanienwälder die Berghänge hinauf. Auf kleinen Wiesen stehen einsame Häuser aus Granit. Nach so einem Haus suchen wir.
Hier muss es sein, sagt A. Sie stoppt den Wagen. Wir steigen aus und gehen den Weg zum Steg hinunter, der über den Fluss führt.
Dass wir das Tal wieder ein Stück hinab gefahren sind, durch das wir gestern hochgekommen waren, irritiert mich. Ich habe mir vorgestellt, Gourgounel liege nach Valgorge, rechts vom Fluss und der Tanargue im Süden. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Eine Gegend, die man von der Lektüre her kennt, besucht man nicht ohne Folgen. Sie berichtigt rücksichtslos die Bilder, die man sich von ihr beim Lesen gemacht hat. Geographische Kenntnisse helfen ein Buch besser zu verstehen, sie vertiefen die Lektüre, passt man nicht auf, werden die Bilder zerstört, die man sich beim Lesen gemacht hat. Weiterlesen