In einem entlegenen Tessiner Bergtal

Campanile von Berzona

Berzona ist ein kleines Dorf im Onsernone, ein abgeschiedenes Tal nördlich vom Lago Maggiore. Hier geht es entweder hinauf oder hinunter. Die Straße ist eng und kurvenreich.
Die herbstlichen Hänge leuchteten braun, gelb und rot. Darüber sah man die graue Schraffur der Berge, ein blasser Himmel.
Ich betrat den Friedhof, am unteren Ende des Dorfes. Zwei Thuja-Sträucher und davor zwei flache Granitplatten. Hier sind Alfred und Gisela Andersch begraben.
Das Künstlerpaar war 1958 nach Berzona gekommen. 1972 sind sie Schweizer Staatsbürger geworden. Im ganzen Dorf gibt es sonst keinen Hinweis darauf, dass sie hier gelebt haben. Für Max Frisch hingegen, der 1964 auf Rat von Andersch in Berzona ein Haus gekauft und umgebaut hatte, hängt eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer. War Frisch finanziell der Großzügigere gewesen? Die alte Dame zu Besuch?
Buntes Laub schwamm auf dem dunklen Wasser der gedeckten Waschstelle, links vom Friedhof, geradeaus steht der schlanke Kirchturm, „der schönste Campanile des Tessin“, schrieb Andersch seiner Mutter. Ich ging das Dorf hinauf, enge verwinkelte Gässchen, hervorspringende Ecken, dunkle Granithäuser, etliche renoviert.
– Das Haus unterhalb des Platzes hatte ihm gehört, es sieht mit seinem schrägen Dach wie das Gebäude einer Seilbahnstation aus, sagte der Deutschschweizer auf meine Frage, welches das Haus von Andersch gewesen sei.
Ich ging zögernd um das Haus herum; eine Mischung aus Rustico und Bauhaus. Es schien niemand da zu sein. Von der Terrasse aus hatte man einen weiten Blick in das hohe Tal und auf den Monte di Comino gegenüber.

Grab von Alfred und Gisela Andersch

Mit einundzwanzig Jahren bin ich total auf Alfred Andersch abgefahren. Ich war von seinen Büchern begeistert, seinem Wissen, dem eigensinnigen Lebensweg und spröden Einzelgängertum. Ich mochte seine präzise und lakonische Art zu schreiben und habe alles von ihm gelesen, vieles mehrmals, seine Figuren sind mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ich hielt Alfred Andersch für den interessanteren Autor als Max Frisch und zog Efraim dem Stiller vor. Warum wird Frisch als ungleich bedeutender angesehen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur als Andersch? Im Gegensatz zu Frisch war Andersch nie ein Auflagenmillionär. Was fehlt bei Andersch, das der Leser bei Frisch zu finden glaubt? Gut! Es ist die Prosa eines Pfeifenrauchers. Doch das war Frisch auch.
Mein Andersch-Bild hat sich inzwischen gewandelt, aber darum geht es nicht, nach dem Besuch von Berzona wollte ich die Faszination von damals wieder finden. Ich hatte ihn im Sommer 1976 entdeckt. Ich war seit einem Jahr Lehrling in einem katholischen Verlag in Luzern. Es war ein heißer und trockener Sommer, ohne Regen. Für mich war es ein Sommer des Aufbruchs und des Expansionsdrangs. Ich stand unter einer permanenten Hochspannung und sog alles auf, womit ich konfrontiert wurde. Es war vom Marxismus, Psychoanalyse und Existentialismus die Rede, von Konzept- und Aktionskunst, von Nouveau Réalisme und Nouveau Roman, den Beatniks, vom Feminismus, Zen-Buddhismus, Makrobiotik, Ausdruckstanz, Free-Jazz, Reggea, Punk. Der Mai 1968 wirkte noch nach, in den Kneipen wurden endlose politische Debatten geführt, aber viele streckten die Fühler bereits nach anderen Dingen aus.
Ich weiß nicht mehr, wie und warum genau Andersch bei mir gezündet hat. Die Rote wollte ich zuerst nicht lesen, weil ich dachte, ohne mich vorher zu informieren, es handle sich um die Geschichte einer Kommunistin oder DDR-Spionin, und darauf hatte ich keine Lust. Ich las die erste Seite von Sansibar oder der letzte Grund, das Selbstgespräch des Jungen, der versteckt unter einer Trauerweide Huckleberry Finns Abenteuer liest und von Sansibar träumt – und was folgte, war eine Leidenschaft, die mich durch die ganze Buchhändlerlehre trug.
Andersch Bücher waren für mich die Brücke vom Marxismus hinüber zu Literatur und Kunst. Kurz zuvor hatte ich mich von der trotzkistischen Gruppe getrennt, der ich drei Jahre lang angehörte. Das politische Leben begann mich immer mehr einzuengen, ob den endlosen theoretischen Diskussionen gingen Schönheit und Tiefe verloren.
Bei drei  Figuren in Andersch Werk haben wir es mit enttäuschten Kommunisten oder gescheiterten Revolutionären zu tun, denen die Überzeugung abhandengekommen und das ideologische Korsett zu eng geworden war. Sie suchten nach etwas Neuem, das ihnen mehr Elastizität bot im Leben. Ich konnte mich gut in ihre Situation hineinfühlen. Sie sind nicht einfach nur resigniert oder gescheitert, sondern entwickelten eine Sensibilität, die ihnen erlaubte, das Leben aus einem erweiterten Blickwinkel zu betrachten. Etwa wenn Gregor in Sansibar über die Holzfigur des lesenden Klosterschülers sinniert oder über das Unheimliche der beiden Türme, die aus dem kleinen Hafenstädtchen Rerik an der Ostsee herausragen, wohin ihn das Zentralkomitee der Kommunistische Partei geschickt hatte, um eine Widerstandszelle gegen das nationalsozialistische Regime aufzubauen, oder wenn der Geiger Fabio Crepaz (ein ehemaliger Widerstands- und Spanienkämpfer) in Die Rote anhand eines Bildes von Giorgione über das Verhältnis von Mann und Frau grübelt, oder Hainstock im Roman Winterspelt die Topographie der Eifel erforscht. In ihrer klugen Skepsis mischen sich Intelligenz, Lebenserfahrung und Wissen miteinander. Zugleich verstand ich Gregors moralische Skrupel, als er den Entschluss fasste, die Kommunistische Partei zu verlassen. Auch ich hatte Hemmungen, mich von den Revolutionären Marxisten zu trennen. Sie waren meine geistige Heimat gewesen, bei ihnen hatte ich mein Denken geschult. Zellenabende, Schulungswochenenden, Flugblätter verteilen, Plakate kleben, hatten meinen Alltag bestimmt, die Atmosphäre von linksradikalem Untergrund. Was sollte aus mir werden, wenn ich dieses Terrain verließ? Aussteigen hieß, ins Leere treten, mich der Orientierungslosigkeit aussetzen. Es hieß, mich zu verbürgerlichen, ein unpolitischer Spießer zu werden und ein paar Freunde zu verlieren, mit denen ich meine ganze Zeit verbracht hatte.
Mehr als Andersch Romane hat mich der autobiographische Bericht Die Kirschen der Freiheit berührt.
„Mein Buch hat nur eine Aufgabe: einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben“, sagt Andersch darin. Es ist die Geschichte seiner Desertion aus der deutschen Wehrmacht am 6. Juni 1944 in der Nähe von Nettuno in Italien. Im Schlusskapitel Die Wildnis erzählt Andersch, wie er in einem abgelegenen Tal, das aus Felsen, Macchiabüschen, Bäumen und einem fast ausgetrockneten Flussbett bestand, Karabiner, Helm und Koppel fortwirft, sich in die Büsche schlägt und verschwindet. Für eine kurze Zeit bewegt er sich im Niemandsland zwischen den Fronten, dann stellt er sich den Amerikanern. Vielleicht sind Die Kirschen der Freiheit kein Meisterwerk, wie ein deutscher Großkritiker urteilte, aber es ist das Zeugnis eines Mannes, der viel Mut bewiesen hat. Es ist ein nervöser, kantiger Bericht mit einer äußerst knappen, summarischen Erzählweise, eher diskontinuierlich als entfaltend, von einer poetischen Härte, die mir gefiel. Ich halte seine Gedanken über die Freiheit auch jetzt, mehr als sechzig Jahre nach Erscheinen des Buches, immer noch für bedenkenswert. „Die Freiheit lebt in der Wildnis“, oder „man ist nicht frei, solange man gegen das Schicksal kämpft. Man ist überhaupt niemals frei außer in Augenblicken, in denen man sich aus dem Schicksal herausfallen lässt, niemals kann Freiheit in unserem Leben länger dauern als ein paar Atemzüge lang, aber für sie leben wir.“
Der erste Satz in den Kirschen, an dem ich hängen geblieben bin, war: „Sie (die Lehrer) hätten besser daran getan, einzusehen, dass ich überhaupt nichts „lernen“ wollte; was ich wollte war: schauen, fühlen, begreifen.“ Mit diesem Satz hatte mich Andersch vollends im Sack. Ich habe die Schule nie gemocht, sie war für mich eine Zwangsanstalt. Ich war vielleicht nicht dumm, aber was ich da lernte, ging mich einfach nichts an. Schauen, fühlen, begreifen – darum geht es, genau das wollte auch ich, nichts anderes.
Ein starkes Kapitel im Buch ist das über seinen kranken Vater, ein Mann von deutschnationaler Gesinnung, Ludendorff-Anhänger, mit Ehrenkreuz und vielen Verwundungen aus dem 1. Weltkrieg heimgekommen, Beinamputation, als ein Granatsplitter im Bein zu schwären beginnt und nicht mehr heilen will, sein langsames Sterben, die Schmerzen, das Morphium. Eine tiefe Einsamkeit umgibt den Schwerkranken, die Geschäfte laufen schlecht, „weil er die Niederlage Deutschlands zu seiner eigenen gemacht hatte.“ Er geht an zwei Krücken, einmal stürzt er vor dem Haus, der Sohn eilt zu Hilfe. Der Achtzehnjährige kann das alles kaum ertragen, er flüchtet aus dem Elternhaus, streift durch die Parks und die nahen Berge von München.
Nach dem Tod des Vaters tritt er in die Kommunistische Partei ein und wird kurze Zeit später Leiter des südbayerischen Jugendverbandes. Doch er erlebte nur noch den Niedergang der Partei. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde die Kommunistische Partei verboten, Andersch eines Morgens von der Gestapo abgeholt. Zuerst Gefängnis. Dann Dachau. Er wurde wieder entlassen. Die Mutter hatte mit den Ehrenauszeichnungen des Vaters einen Gnadenerweis erwirkt. Er wird ein zweites Mal verhaftet. Im Gefängnis hört er von den Grausamkeiten in Dachau, eine unbeschreibliche Angst packt ihn. „An jenem Tag wäre ich zu jeder Aussage bereit gewesen, die man im Verhör von mir verlangt hätte.“
Er löst sich vom Kommunismus, kapselt sich ein und flüchtet in die Kunst und die Literatur. Er macht Radtouren, einsame Wanderungen, Italienreisen. „Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“

Alfred Andersch ist ein Europäer. Sein Werk ist nicht an eine bestimmte Provinz gebunden, vor allem ist er kein bundesrepublikanischer Autor. Er hat Romane, Erzählungen, Essays und Reisebücher geschrieben. Die Ostsee, Berlin, München, Rom, London, Venedig, Wales, Frankreich und die amerikanische Ostküste sind die Schauplätze in seinen Romanen und Erzählungen. Die Reiseberichte führen nach Skandinavien, Italien, Spanien, Portugal, Belgien, Mexiko und auf die Spitzberge. Seine Weltläufigkeit gefiel mir. Ein Autor muss überall zu Hause sein, er soll nicht an einem Ort kleben bleiben. Seine Texte entwickeln sich aus den Orten heraus, die er besucht hat; die Orte sind Teil der Handlung. Im Gegensatz zu Max Frisch hat er nie eine Erzählung über das abgelegene Onsernone-Tal geschrieben.
Ich ging jeden Morgen durch die Baselstraße Richtung St. Karliquai in den Verlag. Die Baselstraße lag noch ganz im Schatten, ein angenehm kühler Schatten, der sich in meiner Erinnerung mit den Büchern von Andersch verschmolzen hat, auch sie sind kühl, kühl und trocken. In einer Plastiktüte trug ich seine Bücher mit mir herum. Ich verließ am Morgen nie mein Zimmer an der Bernstraße, ohne sie einzupacken.
Meine Freunde schwärmten vom Dadaismus, vom Surrealismus, von Pasolini, Rimbaud, Baudelaire, Lautréaumont, dem amerikanischen Underground. In ihren Augen war Andersch ein Langweiler, dem die explosive Kraft fehlte, die einem aus dem Alltag hinaus in eine wildere Umlaufbahn katapultierte. Jedes Mal, wenn sie mich mit meiner Plastiktüte sahen, überschütteten sie mich mit ihren Ratschlägen.
– Andersch verströmt sich nie, sagte Rainer, ein Kunstschüler, er schreibt nicht über den Rand hinaus. Er pflegt eine Eleganz, die sich den Ärmel nicht nass machen will. Es fehlt das Überschäumende, Unbändige, eine fieberhafte Obsession; immer ist eine gewisse Zurückhaltung spürbar, keine Geschwindigkeitsübertretung. Er mag den Jazz, sagst du jedenfalls, aber wohl nicht die schnellen Rhythmen des Bebop oder die wilden Improvisationen eines John Coltrane, eher den wohltemperierten Modern Jazz, Oscar Petersen, Feierabendmusik. Warum liest du nicht Alfred Jarry, seinen Ubu, wenn es schon ein Alfred sein muss. Abgesehen davon, könnte man deine Vorliebe für Andersch psychoanalytisch deuten! Bist nicht auch du ein davon gelaufener Revolutionär?
Nach den Kirschen las ich Die Rote schließlich doch noch. Ich folgte der rothaarigen Franziska auf ihrem einsamen, verlorenen Gang durch die Gassen Venedigs. Sie stammte aus dem rheinischen Düren, war Dolmetscherin, verheiratet und schwanger. Sie hat ihren Mann in Mailand unvermittelt verlassen, weil er ihre Schwangerschaft als einen Betriebsunfall abgetan hat und sich in Abenteuer und Freiheit gestürzt. Verlassen hat sie damit auch ihren Liebhaber, den Chef ihres Mannes. Fern von Deutschland mit seinem Wirtschaftswunder und seinem faden Leben (dem „Land ohne Geheimnisse“) will sie einen Neuanfang machen, ihren eigenen Weg gehen. Sie ist ohne Gepäck und mit nur wenig Geld aufgebrochen, was in Venedig immer wieder zu verzweifelten Kassenstürzen führte. Was den Kritikern bei Erscheinen des Buches 1960 als unglaubwürdig vorgekommen war, dass eine erfolgreiche Dolmetscherin spontan aus ihrem angenehmen und sicheren Leben davon läuft, in ein Abenteuer mit unbestimmtem Ausgang, leuchtete mir sofort ein. Ich bewunderte Franziskas Mut, ihren Aufbruch ins Ungewisse. Weil der Zug nach Venedig derjenige war, der als nächster aus Mailand wegfuhr, wurde Venedig die Stadt ihres Abenteuers, wo man sie als Köder für einen politischen Racheakt benützen wollte. Vor kurzem habe ich den Roman wieder gelesen, eine spannende, gut erzählte Geschichte, die erstaunlich wenig Patina angesetzt hat.
Die Rote hatte noch eine andere Wirkung auf mich: Ich weiß nicht mehr, wie oft ich während meiner Buchhändlerlehre nach Venedig gefahren bin, aber es müssen etliche Male gewesen sein. Die Dogenstadt mit seinem dekadenten Charme zog mich an, sie passte gut zu einem jungen Buchhändler, der nach den harten marxistischen Jahren das Leben eines Dandys ausprobierte. Ich wollte die Plätze von Franziskas Abenteuer mit eigenen Augen sehen. Einmal fuhr ich zwischen Weihnacht und Neujahr hin. Es hatte geschneit, Dächer, Statuen und Brunnen hatten eine weiße Mütze auf. Es war eisig kalt. Mein billiges Hotelzimmer hatte keine Heizung. Ich irrte den ganzen Tag frierend durch die Stadt, in der Hoffnung, irgendwo einen warmen Raum zu finden. Die teuren Cafés wie das Florian oder die Bar des Hotels Danieli, wo Franziska den Nazijäger Patrick O’Malley kennenlernte, konnte ich mir nicht leisten; in den billigen Lokalen trank man den Kaffee im Stehen und ging sofort wieder.

Herr Balmer, der Lehrer für Literatur an der Buchhändlerschule, hatte mir versprochen, mich einmal ins Onsernone-Tal mitzunehmen. Er besaß in Berzona ein Ferienhaus und kannte Andersch gut. Prima, großartig, dachte ich! Ich würde ein Freund von Alfred Andersch werden, er würde mich das Schreiben lernen und zeigen, wie man ein großer Dichter wird. Doch Herr Balmer wurde krank, der Unterricht fiel immer öfters aus, und als wir im letzten Lehrjahr waren, starb er. Als Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung hatten wir eine Klausurwoche in Morschach über dem Vierwaldstättersee. Wir luden dazu auch Autoren ein. Ich schrieb an Alfred Andersch. Er lehnte ab. Er war damals schon sehr krank, lebte der regelmäßigen Dialysen wegen nicht mehr im Onsernone-Tal sondern in Zürich, zwei Jahre später starb auch er, an einem Nierenversagen.