Unter dem Berg des Donnergottes

Wir fahren die kurvige Straße hinab. Der Beaume entlang. Das Flussbett ist voller Steine und Felsbrocken. Kastanienwälder die Berghänge hinauf. Auf kleinen Wiesen stehen einsame Häuser aus Granit. Nach so einem Haus suchen wir.
Hier muss es sein, sagt A. Sie stoppt den Wagen. Wir steigen aus und gehen den Weg zum Steg hinunter, der über den Fluss führt.
Dass wir das Tal wieder ein Stück hinab gefahren sind, durch das wir gestern hochgekommen waren, irritiert mich. Ich habe mir vorgestellt, Gourgounel liege nach Valgorge, rechts vom Fluss und der Tanargue im Süden. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Eine Gegend, die man von der Lektüre her kennt, besucht man nicht ohne Folgen. Sie berichtigt rücksichtslos die Bilder, die man sich von ihr beim Lesen gemacht hat. Geographische Kenntnisse helfen ein Buch besser zu verstehen, sie vertiefen die Lektüre, passt man nicht auf, werden die Bilder zerstört, die man sich beim Lesen gemacht hat.
Unsere Nachforschungen haben gestern im Touristenbüro von Joyeuse begonnen. Die Angestellte kannte Gourgounel nicht. Sie breitete eine Karte der Ardèche vor uns aus. Darauf konnten wir es nicht finden.
Dafür auf jener, die uns der Patron des Hotels Tanargue in Valgorge, wo wir übernachten, mitgegeben hat. Er selbst kennt Kenneth Whites Haus nicht, nimmt aber regen Anteil an unserer kleinen Forschungsexpedition.
Auf der Karte ist der Steg eingezeichnet. Das Haus links davon auch. Es heißt Les Praduches und darüber steht Gourgounel. Zwei Pferde grasen auf der Weide.
Ich will ganz sicher sein und gehe zum Haus hinüber, um zu fragen. Die blauen Läden sind geschlossen. Ein grüner Lieferwagen steht vor dem Haus. Wäsche hängt an einer Leine. Gerümpel liegt herum. Im Haus bellt ein Hund. Ich klopfe an die Scheibe der Tür. Der Hund springt drinnen an der Tür hoch und bellt wie ein Irrer. Nichts rührt sich sonst. Ich klopfe nochmals. Nichts. Nur der Hund. Im Inneren sehe ich einen Tisch mit einem Strohhut darauf. Neben dem Hut einen schmutzigen Teller mit einer Gabel auf dem Rand, was mich an den Anfang von Briefe aus Gourgounel erinnert. Als White das Haus mit dem Makler und dem Besitzer betrat, stand auch noch ein Teller mit einer Gabel auf dem Tisch. Als ob der frühere Bewohner nur rasch weggegangen wäre. Dabei war er drei Jahre zuvor gestorben. Ich klopfe und rufe nochmals. Dann gebe ich es auf.
Ich gehe zu A. zurück, die unterhalb der Rossweide wartet. Ein Auto hält. Vier Männer in orangefarbigen Westen steigen aus. Prima, denke ich, Straßenarbeiter, sie werden uns weiterhelfen. Sie öffnen den Kofferraum und holen ihre Jagdflinten heraus.
Ich frage sie, wo Gourgounel genau sei. Davon hätten sie noch nie gehört. Ich zeige es ihnen auf der Karte. Sie schütteln die Köpfe. Ich erwähne Kenneth White, den schottischen Schriftsteller und Reisenden, der hier ein Buch geschrieben hat. Auch davon haben sie noch nie etwas gehört. Aber sie bestätigten uns, dass der Platz da Les Praduches ist. Immerhin.
Sie schultern ihre Flinten und verschwinden in den Büschen, die es längs der Beaume gibt.

Gehöft von Gourgounel
Gehöft von Gourgounel

Wir gehen den Waldpfad hinauf. Bald sehen wir ein Hausdach aus dem feucht glänzenden Kastanienlaub herausragen. Es gehört zu einem länglichen Gebäude mit drei Stockwerken. Ich erinnere mich, dass White von drei Stockwerken und neun Räumen schreibt. Das muss es sein. Ganz sicher bin ich nicht. Eine Treppe aus Natursteinen führt zum Innenhof hinab, der durch eine Senkung des Bodens entstanden ist. All das stimmt mit den Beschreibungen überein. Ich glaube mich zu erinnern, dass White von einem Turm spricht, was mich irritiert, denn der Turm fehlt, außer man betrachtet den Schuppen linkerhand als Turm. Ich gehe ums Haus herum. Auch da sind die Läden verschlossen.
Die Südflanke des Tanargue ist vom Nebel verhangen. Hoch oben gleiten die Dörfer Monteuil und Laboule im Dunst dahin. Im Reiseprospekt, den uns die Frau im Touristenbüro von Joyeuse mitgegeben hat, steht: „Das Tanargue-Massiv, dieses Gebirge ist nach dem keltischen Donnergott Tanaris benannt.“
Ich setze mich oberhalb des Hauses auf einen Stein und versuche mir vorzustellen, wie Kenneth White anfangs der 1960-ger Jahre hier eingezogen war, wie ihn Panik ergriff ob dem fremden Klima und der fremden Sonne, wie er sein gewohntes Ich vollkommen verlor und sich ausgeliefert und allein gelassen fühlte. Er war mit dem Nachtzug von Paris nach Montélimar gereist. Am Bahnhof mietete er ein Velo und fuhr damit zehn Tage lang durch die Gegend. Er hatte gehört, dass es in der Ardèche billig Häuser zu kaufen gab, weil die Menschen fortzogen. Schließlich fand er Gourgounel („das gluckerte, das sprach die Sprache der Quellen“). Er wollte sich für eine gewisse Zeit isolieren, Leben und Denken sammeln, der Tyrannei der äußeren Reize entkommen, die uns dazu verurteilen, unsere Kraft mit Reagieren zu vergeuden, statt sie für spontane Handlungen zu bündeln. White macht vieles, was gewöhnliche Dichter nie tun würden. In Gourgounel sammelte er seine Erinnerungen, nicht, um daraus ein literarisches Werk zu fabrizieren, sondern, um sie zu verbrennen. Er wollte Ballast loswerden, um unbeschwert umherzustreifen.
„Vielleicht ist Gourgounel dank den Seiten, die ich dort schreiben konnte, und dank einiger Verleger, die daraus ein Buch gemacht haben, ein Ort des Geistes geworden, überall und nirgends gelegen.“
Solche Sätze haben in mir den Wunsch geweckt, einmal nach Gourgounel zu reisen, dem Ort des Geistes.

Briefe aus Gourgounel ist ein kleines, sprunghaftes Buch mit „einer Topographie voller Abwechslung“. Man findet darin eine fließende Welt mit albernen Winden und einer Luft voller Gewitter. Ich habe es vor vielen Jahren in der Zürcher Buchhandlung Zum Elsässer entdeckt, die es schon lange nicht mehr gibt. Auf einem Tisch lagen zwischen Neuerscheinungen die ersten Bände einer neuen Reihe, die Der Bärenhüter im Waldgut hieß. Bleisatz, Buchdruck, Fadenheftung, fester Pappband aus Bütten, der Schutzumschlag ebenfalls aus Bütten. Bücher von solcher Qualität sucht man heutzutage vergeblich. Im Stehen las ich das erste Vorwort, das zweite. Unglaublich. Das war es. Die Zeilen strömten leicht über die Seiten. Jeder Satz war pure Energie. Diese Prosa lebt von Gegenwärtigkeit und Spontanität. Ein unvermittelter, präziser, rascher Stil. Voll Geist und schnellen Gedanken. Ich schloss die Augen. Ich wusste, ich hatte Gold gefunden. Ich streifte weiter durch die Buchhandlung, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund mehr gab. Um ein Haar hätte ich es übersehen: Der blaue Weg. Eine Reise. Nach Labrador. Vom gleichen Autor. Ich las das Vorwort und wieder hatte ich das Gefühl, an einen unbekannten Stromkreis angeschlossen zu sein. Ich war damals im Begriff, für ein paar Monate nach Berlin zu reisen. Mit diesen zwei Büchern war mein Gepäck vollständig.
Briefe aus Gourgounel ist erstmals 1966 in einem Verlag in London erschienen. Es erregte einiges Aufsehen, weil es originell und außerhalb dessen war, was in England als Literatur wahrgenommen wurde. Kommerziell gesehen war es kein Hit. Um sich als erfolgreichen Schriftsteller zu etablieren, empfahl der Verleger, solle White einen düsteren Familienroman inklusive Inzest schreiben, der im Glasgow handelt. Doch für White hat wirkliches Schreiben mit etwas ganz anderem zu tun, mit ekstatischem Wandern zum Beispiel.
– Du bist wie ein Teenager, der zum Haus seines angebeteten Stars pilgert und hofft, einen flüchtigen Blick auf ihn werfen zu können, spottet A. als wir weiter durch den vom Nebel feuchten Kastanienwald wandern, was ist das für eine schrullige Idee, Plätze von Schriftstellern und Dichtern, die du bewunderst, aufzusuchen.
–Das hat nichts mit Starkult zu tun. Es ist meine Form von literarischer Forschung, den Fuß auf den konkreten Boden eines Textes zu setzen, ein Gefühl für den geographischen Raum zu kriegen, in dem ein Werk entstanden ist. Aber vielleicht wäre es besser, nach seinem eigenen literarischen Raum zu suchen und daraus sein eigenes Werk zu schaffen, statt diese sonderbaren Pilgerreisen zu veranstalten. White macht einen Unterschied zwischen Dichtern, die Welten erschaffen und solchen, die bloß Zustände beschreiben.

In Berlin habe ich Briefe aus Gourgounel gleich ein paar Mal hintereinander gelesen. Ich sehe mich noch am langen Tisch im Wohnzimmer sitzen. Teppich und Wände waren voller Farbspritzer. Rechts vom Tisch war das Fenster, das auf einen Hinterhof hinausging. Die Wohnung lag im dritten Stock an der Wilmersdorfer Straße. Sie war mein Gourgounel. Statt der Kastanienwälder und dem Tanargue sah ich graue Kratzputzfassaden, Fenster, Kamine, Fernsehantennen. Ich führte mitten in Berlin das gleiche Einsiedlerleben wie White in der Ardèche, Berlin war mein Beaumetal, durch das ich lange Wanderungen machte.
Jeden Nachmittag hörte man eine Indiogruppe auf der Wilmersdorfer Straße Musik machen. Am Abend gingen die Verkäuferinnen aus dem Jeansdschungel singend und schwatzend nach Hause.
Ich hatte die Wohnung von W., einer befreundeten Malerin. Sie war aus Luzern und lebte schon eine Weile in Berlin. Solange ich in Berlin war, wohnte W. in ihrem Atelier, das sie in einem alten Fabrikgebäude an der Lehrter Straße hatte. Eine ganze Künstlerkolonie lebte da. Vom Lehrter Bahnhof musste man eine lange Allee mit hohen Bäumen hinunter gehen. Es gab Schrebergärten, Lagerschuppen, Werkstätten und kleine Arbeiterhäuser. Mit dem neuen Hauptbahnhof von Berlin ist das alles verschwunden. Ich wollte Schriftsteller werden. Freunde rieten mir, für eine Weile ins Ausland zu gehen, das würde mir einen kreativen Schub geben. Ich sparte Geld und reiste nach Berlin. Die Zeit verging. Der Schub blieb aus. Vielleicht hätte es dafür etwas Wilderes, Abenteuerliches gebraucht, doch im Gegensatz zu A. scheine ich nicht für das Abenteuer gemacht zu sein.
Am Nachmittag fahren wir zum Col de Meyrand hinauf, den Windungen der schmalen Straße folgend. Kenneth White ist viel durch die Ardèche gewandert. All die Straßen, die wir im Auto zurücklegen, ist er zu Fuß gegangen.
Im letzten Kapitel des Buches erzählt er von einer Wanderung, die er hier hinauf zum Pass gemacht hat. Er ist um vier Uhr in der Früh losgezogen, der Mond leuchtete hell am Himmel.
Der Pass ist nicht sonderlich hoch, doch man hat das Gefühl, tief in den Bergen zu sein. Hier oben gibt es nur noch wenige weit verstreute Häuser. Die Wiesen sehen nackt und braun aus. Rundherum nichts als Nebel. Bei klarem Wetter kann man im Osten die Alpen und im Südwesten die Cevennen sehen.

Beim Nachtessen fragte uns die Chefin des Hotels Tanargue, ob wir Whites Haus gefunden hätten. Ihr Mann schien ihr von unserer Absicht erzählt zu haben.
Wir denken schon, aber ganz sicher sind wir nicht.
Die Wirtin erzählte uns, dass White jeweils seine Freunde im Hotel Tanargue einquartierte, wenn sie bei ihm zu Besuch waren, denn in Gourgounel gab es dafür keinen Platz. Vor ein paar Jahren hatte er das Haus einem Belgier verkauft. Er hatte ihrer Mutter zwei Bücher mit Widmungen geschenkt. Nach dem Essen brachte sie uns Lettre de Gourgounel aus der Edition Les Cahiers Rouges mit folgender Widmung darin: „Pour Denise Coste, de les Sentiers de Gourgounel, Kenneth White Juillet 1984.“ Den Fotoband konnte sie nicht mehr finden.

Tanargue - Berg des Donnergottes
Tanargue – Berg des Donnergottes

Am anderen Tag ist der Himmel blankgefegt. Die Kastanienwälder leuchten in der Morgensonne, die dunklen Flecken der Tannen darin. Auf der schmalen Straße fahren wir nach Sarrabasche hinauf, wo wir aussteigen, um Fotos vom Tanargue zu machen, der in seiner ganzen Größe sichtbar ist. Ein Alter in einem ausgebleichten Overall, graues Haar, runde Brille, lädt Holz in seine Karette. Er fragt uns, ob wir etwas verloren hätten.
– Nein, wir möchten bloß ein paar Fotos vom Tanargue machen.
– Hier in Sarrabasche wohnt eine Baslerin, erzählt er uns, nachdem er erfahren hat, dass wir aus Zürich sind. Er selber stammt ursprünglich aus dem Jura. Das Haus über der Straße gehört ihm. Ein stattliches Haus, die eine Hälfte ist aus Granit wie alle Häuser in der Gegend, der Anbau hat einem lachsfarbenen Verputz. Der Anbau gefällt ihm nicht mehr. Auf meinen Vorschlag hin, diesen Teil mit Granit einzukleiden, zuckt er resigniert die Schultern.
– Zu hoch. Würde zu viel Arbeit bedeuten. Als Rentner hat man zwar Zeit, aber nicht mehr die nötige Kraft. Das wäre zu viel.
– Wovon lebt man hier, frage ich.
– Von Kastanien und Kastanien und von Schafen, Ziegen, Hühnern. Eine arme Gegend. Ich habe einen Garten und Hühner. Und was führt euch in die Ardèche, in dieses abgeschiedene Tal, wenn man das wissen darf.
Ich erzähle ihm von Kenneth White und dem Wunsch, Gourgounel zu sehen.
– Ich habe Kenneth White gut gekannt. Ich bin ein paar Mal nach Gourgounel hinüber geritten, den Abhang entlang durch die Wälder. Das Haus steht gleich oberhalb von Les Praduches, man kann es von der Straße aus sehen. Ein großes, langgezogenes Haus. Ich finde Whites Idee der Geopoesie genial. Er kommt hierher in die Ardèche, lebt da, saugt die Gegend in sich auf, beobachtet, spricht mit den Menschen und macht ein Buch daraus. Aus einer geographischen wird eine geistige Landschaft. So funktioniert Geopoesie – Geographie und Poesie in einem. Es sind keine Landschaftsbeschreibungen, White nimmt Landschaft wahr, das ist etwas ganz Anderes. Auch seine Gedichte handeln meist von einer geographischen Wirklichkeit. Für mein Empfinden ist das absolut großartige Poesie.

Wir fahren auf der schmalen Straße weiter nach Saint Mélany. Das Drobietal liegt in der warmen Oktobersonne. Der Fluss hat kleine Wannen aus dem Granit gespült, die wie Perlen an einer Kette aufgereiht sind.
– Es gibt etwas, das ich bei White ebenso schätze wie seine Geopoesie, sage ich zu A., die sich auf die kurvenreiche Straße konzentriert. Er hat ein offenes Ohr für den Osten und seine Fühler weit nach Asien hin ausgestreckt. Es geht ihm dabei nicht um Yoga, Ayurveda, Feng Shui, Meditationskurse, Bogenschießen usw. Er hat nichts gegen all das, aber er mag sich nicht damit beschäftigen. Was ihn interessiert, ist die Poesie und die Philosophie aus Tibet, China und Japan, die Bilder und Energieströme darin. Mit sechzehn Jahren las er die Upanischaden, die er in einer Privatbibliothek in Glasgow, zu der er Zugang hatte, entdeckte. Später ging er nach Japan und wanderte auf dem Haiku-Pfad von Matsuo Bashô in den tiefen Norden. In Les Cygnes sauvages bezeichnet er diese Wanderung als „einen Kopfsprung in die Leere“. Das ist doch genial, nicht?
A. blickt mich fragend an, dann konzentriert sie sich wieder auf die Straße.
Auf dem Sentier des Lauzes wandern wir hoch über der bewaldeten Schlucht nach Dompnac, vorbei an alten Granithäusern, Rebhängen, wilden Apfelbäumen; Kastanien fallen herab und zerplatzen wie smaragdfarbige Sterne auf den Granitplatten des Weges.