Vorüberziehende Wolken

Von Mai bis August arbeitete ich auf dem Gasleitungsbau. Oberhalb von Wolhusen, an der Straße nach Ruswil, wurde mitten in der ländlichen Hügelwelt eine Verteilstation für russisches Erdgas gebaut. Die Gasstation bestand aus kugelförmigen Kesseln, Pumpen und einem komplizierten System von dicken Stahlrohren. Der Ingenieur und die Facharbeiter waren Italiener, erfahrene Leute, die im Orient und in Nordafrika auf dem Ölleitungsbau tätig gewesen waren. Ein paar Schweizer hatte man als Hilfskräfte eingestellt.
Die Italiener hatten eine Ungezwungenheit, die uns Schweizern abging. Da war Patista, ein großer, drahtiger Mailänder, mit einer riesigen Nase im markanten Gesicht, Francesco, ein Turiner, ebenfalls groß und hager, braunes Haar, Clint-Eastwood-Blick, Guiseppe, klein und rundlich, Florentiner, zu Hause hatte er eine Frau und zwei kleine Töchter. An die anderen habe ich keine Erinnerungen mehr. Jeder Fachkraft war ein Hilfsarbeiter zugeteilt. Ich arbeitete für Guiseppe. Wir mussten die Rohre aufbocken, beim Schneiden helfen, die Kanten anschleifen, dafür sorgen, dass genügend Brennstäbe fürs Schweißen bereit waren und die Schlacke von den Nähten polieren, jede Schweißnaht bestand aus mehreren Lagen. Mittels Röntgenstrahlen wurde geprüft, ob die Nähte dicht waren. Wir mussten uns währenddessen in der Baracke einschließen, denn bei der Prüfung wurde eine ordentliche Menge Radioaktivität freigesetzt. Wir arbeiteten elf oder zwölf Stunden am Tag. Ich kam nie vor acht Uhr abends nach Hause. Die Italiener wohnten anfänglich in einem Hotel in Wolhusen, als es ihnen da zu langweilig wurde, suchten sie sich eine Unterkunft in Luzern. Am Abend traf man sich im Café Pisa an der Baselstraße, meistens spielten sie Karten, oft ging es um Geld.

Neben den Mittagsbroten und der Thermosflasche mit dem Kaffee gehörten auch die Erzählungen von Isaak Babel in meine Tasche. Den ganzen Sommer lang habe ich nichts anderes als Babels Geschichten gelesen. Ich war gleich nach Konstantin Paustowskij an ihn geraten. Bei Babel fehlt der romantische Unterstrom, der Paustowskijs Erzählungen trägt. Das menschliche Leiden ist sein Thema.
In Die Geschichte meines Taubenschlages verspricht der Vater, ein armer jüdischer Händler aus Odessa, dem kleinen Isaak einen Taubenschlag, wenn er die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium schafft. Nichts wünscht sich der Knabe mehr, als einen Taubenschlag. Auf vierzig Jungen wurden pro Jahr nur zwei Juden zugelassen. Isaak Babel schaffte die Prüfung, erhielt in den Fächern Russisch und Mathematik die benötigte Eins. Ein wohlhabender Jude bezahlte für seinen Sohn ein ordentliches Schmiergeld, Babel erhielt nur eine Eins minus und der Sohn des reichen Getreidehändlers wurde zugelassen. Ein Jahr später bestand er die Prüfungen gleichwohl. Der Vater weinte vor Rührung und gab ihm das Geld für drei Taubenpärchen. Der Onkel zimmerte aus Kistenbrettern einen Taubenschlag und malte ihn hellbraun an. Isaak Babel ging auf den Markt, kaufte sich ein Paar kirschrote Tauben mit dichten Schwänzen und ein Paar Schopftauben und barg sie in einem Beutel, den er unter dem Hemd nach Hause trug. Auf dem Heimweg entriss ihm ein Krüppel den Beutel und schmetterte ihm die Tauben über den Kopf bis die blutigen Innereien der Tiere an ihm herunter liefen. In Odessa war ein Juden-Pogrom ausgebrochen. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, Babels Onkel getötet. Es war der Herbst 1905.
Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr musste er Hebräisch, die Bibel und den Talmud studieren. Am Gymnasium gab es einen Französischlehrer namens Vadon, ein Bretone und passionierter Literat. Er weckte bei dem Jungen eine Leidenschaft für die französische Literatur, besonders für Guy de Maupassant. Nach Abschluss des Gymnasiums ging Babel nach Kiew, dann nach St. Petersburg. Er besaß keine Aufenthaltsgenehmigung für die Zarenstadt und musste aufpassen, dass er nicht von der Polizei erwischt wurde. Er wohnte im Keller eines versoffenen Arbeiters und bot den Zeitungsredaktionen seine Geschichten an. Sie meinten, es wäre besser, wenn er die Finger vom Schreiben ließe und sich eine Stelle als Ladengehilfe suchen würde. Er ging zu Maxim Gorki, der veröffentlichte in seiner Monatszeitschrift Letopis einige der Geschichten. Gorki wurde sein Förderer und Beschützer. Als Gorki erkannte, dass die Geschichten mehr auf Zufall als auf wirklichem Können beruhten, schickte er Babel unter die Menschen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 arbeitete Babel als Übersetzer für die Tscheka, beteiligte sich an der bolschewistischen Requirierung von Nahrungsmitteln im Wolga-Gebiet, war Soldat in Budjonnys Reiterarmee und Reporter in St. Petersburg und Tiflis. Danach fing er wieder zu schreiben an. Es erschienen die Erzählungen Salz, Der Brief, Dolguschows Tod, Gedalje, und Der König. Das literarische Russland spürte sofort, dass da eine neue brillante Stimme zu hören war.
1926 veröffentliche er Budjonnys Reiterarmee, Geschichten über den glücklosen und mörderischen Feldzug der Kosaken in Polen. Vor allem die Juden hatten unter der grausamen Gewalt der Kosaken zu leiden. Budjonny, inzwischen von Stalin zum Feldmarschall befördert, war von Babels Buch wenig begeistert, in seinen Augen eine Diffamierung seines heldenhaften Krieges, den er im Dienst der Sowjetunion geführt hatte. Fünf Jahre später erschienen Geschichten aus Odessa, Erzählungen über die Unterwelt der Stadt am Schwarzen Meer und autobiographische Geschichten. Diese beiden Bände machen fast schon den ganzen Babel aus. In den dreißiger Jahren wurde es für ihn immer schwieriger zu veröffentlichen. Zuerst wurde er als „Mitläufer“, später als „Renegat“ eingestuft. Er reiste verschiedentlich in den Westen, seine Frau war nach Paris emigriert, Mutter und Schwester nach Belgien, doch jedes Mal kehrte er nach Russland zurück. Nach dem Tod von Maxim Gorki lebte er in ständiger Angst¸ im Mai 1939 wurde er verhaftet und ein Jahr darauf standrechtlich erschossen.
Erst später erfuhr ich, dass Paustowskij und Babel befreundet gewesen waren. Als Paustowskij in Odessa lebte, wohnten beide in Fontan, einer leerstehenden Ferienhäuschen-Kolonie, die im Westen der Stadt lag. Sie gingen oft am Meer spazieren, ließen flache Kieselsteine übers Wasser hüpfen und sprachen über Literatur. Paustowskij fühlte sich in Babels Gegenwart immer etwas befangen, denn Babel war voll Spott, Ironie und Angriffslust, sein durchdringender Blick machte den Menschen Angst. Paustowskij war begeistert von Babels Erzählgenie, der ungewöhnlichen Frische und Knappheit der Sprache, sie sei drastischer und bildhafter als jene vieler anderer Autoren. Ein verbissener Arbeiter obendrein, der an seinen Erzählungen feilte, bis sie wie Diamanten funkelten, wobei arbeiten in erster Linie kürzen und straffen bedeutete, es durfte kein Wort zu viel in einer Erzählung stehen, Babel eliminierte es erbarmungslos. Er verachtete Autoren, die sich in Sprachsuaden ergingen. Er lieferte seine Manuskripte nie termingerecht ab, weil es darin immer noch Stellen gab, die überarbeitet werden mussten. Eines Tages zeigte Babel Paustowskij ein Manuskript von mehr als zweihundert Seiten. Paustowskij war verblüfft, er hatte gemeint, Babel schriebe nur Geschichten und keine Romane. Es stellte sich heraus, dass es sich um zweiundzwanzig Fassungen der gleichen Geschichte handelte.

Eines Morgens weigerten sich die Italiener aus ihrer Baracke zu kommen und mit der Arbeit anzufangen. Sie wollten ihren Vorarbeiter loswerden, in ihren Augen ein despotischer Tyrann, der sie mit einem obskuren System von Regeln schikanierte und allerlei Vorwände erfand, um ihnen den Lohn zu kürzen. Was für eine Aufregung! Die Baustellenleitung war empört. Ich sehe den Vorarbeiter noch vor mir, einen rundlichen, bullig wirkenden Mann mit grauem Kraushaar, nicht unsympathisch, aber vielleicht hatte er etwas Hinterhältiges. Da man mit der Arbeit nicht in Verzug geraten wollte, musste rasch gehandelt werden. Ein paar Tage lang gingen die Querelen noch weiter, dann räumte der Vorarbeiter seinen Platz. Er schüttelte jedem von uns Hilfsarbeitern die Hand. Wir hatten nie Probleme mit ihm gehabt, aber wir waren nicht ihm, sondern dem Ingenieur unterstellt.

Das grelle Augustlicht blendete, die Hitze trieb uns den Schweiß aus den Poren. Battista saß auf seinem gelben Kranwagen und hob ein riesiges Rohr hoch, das Rohr schaukelte durch die Luft, man musste aufpassen, dass man ihm nicht zu nahe kam. Ich konnte kaum glauben, dass ich bald nicht mehr in den Zug nach Wohlhusen steigen, mit Franz zur Baustelle hochfahren, mein Überkleid anziehen und fröstelnd in den kühlen Schatten des Morgens hinaustreten würde. Ich betrachtete die Arbeitskollegen, wie sie in lockerer Konzentration ihre Arbeit erledigten. Es tat mir leid, sie verlassen zu müssen. Ich hatte sie liebgewonnen, wir verstanden uns gut, obwohl die Sprache manche Barriere bildete. Bald würde ich in der katholischen Buchhandlung stehen, ohne zu wissen, was mich dort erwartete. Ich dachte an den Bücherdandy, der mich im Januar dazu bewogen hatte, selber Buchhändler zu werden. Sein Bild hatte sich auf dem Gasleitungsbau ordentlich abgenutzt. Zweifel beschlichen mich, ob das die richtige Entscheidung gewesen und die verstaubte Buchhandlung mit den frommen Büchern der richtige Platz für meine Zukunft war.