Unter den Passatwinden

Nach dem Frühstück fuhren wir los, über die Hochebene westlich von Lannion. Richtung Morlaix. Eine Weile führte die Straße der Küste entlang, die grüne Wasseroberfläche war vom Regen grau schraffiert. Bei Sainte-Sève zweigten wir auf die D785 ab, ins Landesinnere, nach Huelgoat. Eine schmale Landstraße. Felder und Wiesen abgesoffen im Nebel und Regen. Düstere Granithäuser. Die Wälder bestanden aus Laub und Feuchtigkeit.
Wir waren unterwegs zum Grab von einem der frühen Vertreter intellektueller Vagabunden, in dessen Adern mehr als nur drei Tropfen heidnisches Blut floss. Passatwinde, Meeresengen und Gebirgspässe waren sein Lebensinhalt.

Küste bei Lannion

Victor Segalen, geboren 1879 in Brest, gestorben 1919 in der Nähe von Huelgoat. Ein Reisender. Ein Schauender. „Ich bin dazu geboren, umherzuschweifen, alles zu sehen und zu fühlen, was es auf der Welt zu sehen und zu fühlen gibt.“
Wir suchten lange nach dem Friedhof, er liegt oberhalb vom alten Städtchen. Doch das Grab mit dem flachen grob behauenen Stein fanden wir auf Anhieb. Darauf kaum erkennbar: Name, Geburts- und Todesjahr. Segalens Frau und sein Sohn sind ebenfalls hier beerdigt.
Der Besitzer einer Bar erklärte uns, wie man zum Ort kommt, wo Segalen gestorben war.
Die Stele steht auf einer Anhöhe mitten in der grünen Feuchtigkeit des Waldes, ein schmal aufragender Granitblock, der wie ein abgebrochener Flügel aussieht. Hier hat man ihn am 23. Mai 1919 gefunden.
Neben seinem Beruf als Arzt beschäftigte Segalen sich mit Literatur, Archäologie, Musik, Sinologie und Ethnologie. Die Vielfalt seiner Beschäftigungen spiegelt sich in der Vielfalt seiner Ausdrucksformen: Berichte zur Ethnologie und Archäologie, Essais, Gedichte, Romane, Tagebücher. Er hat keine Trennung zwischen Wissenschaft und Fiktion gemacht. In Wissenschaftskreisen wurde er belächelt, ein Amateur, zu sehr der Poesie und dem Exotischen zugetan. Andere sahen in ihm den erleuchteten Reisenden, den Visionär des Autochthonen. Seine Bücher zeichnen sich durch die lebendige Erfahrung einer rastlos tätigen Sensibilität und nicht durch eine steife, aller Subjektivität entleerten, wissenschaftlichen Methode aus. Marcel Proust hatte den Roman radikal verändert, Victor Segalen die ethnologische Beschreibung.

Stele von Victor Segalen

1902 bricht der frisch promovierte Mediziner nach Tahiti auf, wo er zwei Jahre lang als Marinearzt arbeitet.
Im August 1903 kommt er auf die Marquesas-Insel Hiva-Oa, wo am 3. Mai Paul Gauguin gestorben war. Segalen besucht die leere Hütte des Malers. Über dem Eingang hängt ein farbiges Flachrelief aus Holz mit dem Spruch: HAUS DER FREUDE. Das Leben Gauguins war von allem anderen als von Freude gezeichnet; es war ein von Morphin, Alkohol, Krankheit, Geldsorgen und den Konflikten mit den Kolonialbehörden zermürbtes Leben, aus dem paradoxerweise Bilder mit einer einzigartigen Leuchtkraft entstanden. Segalen sichert den Nachlass des Künstlers, viel ist es nicht – der Maler hatte kurz vor seinem Tod eine Sendung nach Paris abgeschickt – darunter Skizzenbücher, ein Selbstporträt und zwei Bilder: Das Selbstporträt hat der Maler Nahe bei Golgatha betitelt und eines der Bilder Bretonisches Dorf im Schnee. Für Segalen ist es der vollkommene Ausdruck einer exotischen Sehnsucht, die den umgekehrten Weg geht, von den Tropen fort in den kühlen Norden Europas.
Als Segalen nach Frankreich heimkehrt, hat er mehrere literarische Projekte im Reisekoffer. Ein Essay über Paul Gauguin, einer über Exotismus, ein dritter über Arthur Rimbaud, dessen Spuren er auf der Rückreise in Djibouti verfolgt und einen Roman über die Maori, den Eingeborenen Polynesiens.
Segalen findet sich im Fadenkreuz der gegenläufigen Lebensgeschichten von Paul Gauguin und Arthur Rimbaud wieder, zwei heißglühende Leuchtspuren in seinem geistigen Kosmos, Gesetzlose, die keiner moralischen, sozialen oder intellektuellen Kategorie zugeordnet werden können, welche in der Regel zur Verortung einer Persönlichkeit genügen. Mit ihrer Rastlosigkeit haben sie gesellschaftliche Zwänge gesprengt. Segalen versucht die Richtungen zu erkennen, aus denen sie auf ihn zukamen und sich wieder von ihm entfernten. Der Börsenmakler Paul Gauguin gab im Alter von dreißig Jahren seine bürgerliche Existenz auf, um Maler zu werden. Arthur Rimbaud verwarf mit neunzehn Jahren seine Dichtung, um fortan ein Leben als Händler und Abenteurer zu führen. Frankreich war ihnen zu eng, es trieb sie fort: den Maler auf die ozeanischen Inseln im Pazifik, den Dichter ans Horn von Afrika. In einem Punkt sind sie sich ähnlich: erst der radikale Bruch mit der Vergangenheit ermöglichte es ihnen, Abenteurer zu werden. Gauguin wollte ein Wilder werden, ein Eingeborener, soweit ging Rimbaud nicht.
„Ich kann behaupten, von diesem Land und den Maori nichts gesehen zu haben, bevor ich nicht Gauguins Skizzen durchgeblättert und gleichsam nacherlebt habe“, schreibt Segalen in einem Brief vom 29. November 1903 aus Polynesien. Gauguin sei eine Art Heide, der mit seiner rauen und primitiven Sensibilität das Wesen der Eingeborenen erfasst habe.
Segalen hofft, den Dichter von Illuminations und Le Bateau ivre besser zu begreifen, wenn er den Fuß auf den Boden seiner Abenteuer setzt. In Djibouti kommt er mit zwei Griechen in Kontakt, die mit Rimbaud zusammengearbeitet haben. Dass Rimbaud gedichtet hat, war ihnen nicht bekannt, sie kannten bloß den Händler und Fußgänger.
Segalen findet keinerlei Hinweise, dass Rimbaud in Afrika auch nur den leisesten Gedanken an seine dichterische Vergangenheit verschwendet hatte. Warum wandte sich der Erwachsene ganz dem Reisen und den Handelsgeschäften zu und schwor der Literatur vollkommen ab?
„Zwischen dem Autor von Illuminations und dem Waffenhändler in Harar steht eine Mauer, wie sie vollständiger und undurchlässiger nicht sein könnte.“ Zugleich ist es für Segalen klar, dass Rimbaud sich „durch seine wundersamen Fahrten durch das Land des Geistes als Vorläufer jenes unermüdlichen Vagabunden erwiesen hatte, der in der Folge die Oberhand gewann“. Segalen spricht vom doppelgesichtigen Rimbaud, (dem Seher und dem Reisenden), von einer „Spaltung der Ethik“, einem krassen Fall von Bouvarismus. Der Bouvarist ist nach dem Philosophen Jules Gaultier ein Mensch, der sich anders sieht als er tatsächlich ist (was wohl für die meisten Menschen zutrifft), dem aber die Fähigkeit abgeht, diese andere Auffassung von sich selbst zu verwirklichen. Rimbaud habe den Händler in sich höher bewertet als den Dichter. In seinen Jugendjahren seien die Verse nur so aus ihm herausgeflossen, weshalb der streng puritanisch Erzogene dieser Begabung misstraut habe, denn was man ohne Anstrengung erreicht, konnte nur von minderer Qualität sein. Die Handelsgeschäfte dagegen, für die ihn Segalen vollkommen unbegabt hielt – was ihm die griechischen Geschäftsfreunde in Djibouti indirekt bestätigten – seien für Rimbaud ein ständiger Kampf und deshalb die eigentliche Herausforderung gewesen. Die Theorie scheint Segalen nicht ganz zu befriedigen: „Wenn bei ihm ein Fall von Bouvarismus vorliegt, welcher von beiden war dann der wahre? Der Handelsreisende oder der Dichter?“

Der Essai sur l’Exotisme, in dem Segalen die Absicht hatte, eine Ästhetik des Exotischen zu entwickeln, kam nie zustande. Wie die meisten seiner Bücher erschien auch dieses posthum, zusammengestellt aus Entwürfen, Notizen und Briefauszügen.
Obwohl in katholischen Internaten erzogen, ist Segalen vom Andersartigen fremder Kulturen fasziniert. Seine Neugier ist unersättlich. Er möchte Heide werden, in die Haut der Eingeborenen schlüpfen, in ihre Welt eintauchen, um anders aufzufassen und anders zu empfinden, das Unbegreifliche und Irritierende begreifen.
„Nichts ist in der Fremde exotisch als der Fremde selbst“, schreibt Ernst Bloch. Nicht, was sehe ich, ist für Segalen wichtig, sondern wie nehmen die Eingeborenen den fremden Eindringling wahr? Welche Auswirkung hat die persönliche Präsenz im Fremden? Er erkennt klar, dass Kolonialisierung und Christianisierung die fremden Kulturen verdarben und zerstörten. Dennoch bleibt er in ausgeprägtem Maß ein Vertreter der europäischen Kultur. Er nimmt das vom Fremden wahr, was im Rahmen seines Denkens, Fühlens und Auffassens möglich ist.

Café in Morlaix

Die Unvordenklichen, erscheinen 1907 in Paris, sind ganz aus der Optik der Maori geschrieben, den Eingeborenen Polynesiens, diesen Nomaden der Meereswege; ein vollkommen neuer Blickwinkel in der Ethnographie.
„Ich habe versucht, die Tahitianer auf eine Art und Weise zu beschreiben, die derjenigen entspricht, wie Gauguin sie gesehen hat, um sie zu malen: in sich selbst und von innen nach aussen.“
Das Buch spielt zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts. Die Maori, Opfer der französischen und englischen Eroberer, sind in ihrer Existenz bedroht. Durch die Christianisierung wurden sie von den eigenen kulturellen Wurzeln abgeschnitten.
Die Helden des Buches sind zwei Haeropo (Wanderer der Nacht): Paofai und sein Schüler Terii. Die Haeropo memorieren auf nächtlichen Wanderungen die Gesänge, Mythen und Legenden ihres Volkes, damit sie nicht vergessen gehen. Ein Geflecht aus Schnüren, das sie dabei durch die Finger gleiten lassen, dient ihnen als Gedächtnishilfe.
Sowohl Paofai wie Terii verlassen Tahiti und verbringen viele Jahre auf einer Odyssee im pazifischen Ozean. Der Ältere ist auf der Suche nach den „verständigen Hölzern“, eine Art Schreibtäfelchen, auf denen die Schrift der Maori festgehalten ist, für das Gedächtnis verlässlicher als die Bündel geflochtener Schnüre. Der Jüngere muss fliehen, weil er sich bei seinem ersten öffentlichen Vortrag verheddert, Namen und Legenden durcheinander gebracht hat; ein Sakrileg, das mit dem Tod vergolten wurde. Bei ihrer Heimkehr müssen sie feststellen, dass das lustgesättigte Leben und die alte Religion von den Missionaren rücksichtslos unterdrückt wurden. Anstelle der körperlichen Lust und den Hymnen auf die alten Götter, sind Keuschheit, hochgeschlossene Kleider und saure Predigten getreten.
Terii konvertiert zum Christentum, lernt lesen und wird ein treuer Diener der englischen Missionare. Er vergisst nicht nur, was Paofai ihn einst gelehrt hat, er verrät seinen alten Lehrer als unverbesserlichen Heiden an die Missionare.

In Frankreich konnten sich damals Marineoffiziere zwei Jahre lang bei vollem Sold vom Dienst freimachen, um Chinesisch zu lernen. Victor Segalen erinnert sich an die Faszination, die die chinesische Oper in San Francisco mit ihrer fremdartigen Musik, den Masken und Kostümen auf ihn ausgeübt hat und meldet sich für das Chinesisch-Studium. Zwei Jahre später besteht er die Prüfungen und bricht am 25. April 1909 als Dolmetscher erneut Richtung Osten auf.
Er will ins Unvordenkliche der alten Kultur Chinas eintauchen. In Peking besucht er Paläste, Grabanlagen, Monumente und Tempel, Zeugen einer großen Vergangenheit. Er suche nicht nach einem „objektiven Bild“ Chinas, sondern nach einer „bestimmten Vision von China“, schreibt er in einem Brief an Claude Debussy. Mit Gilbert de Voisin reist er quer durch China an die Grenze Tibets und auf einer Dschunke den Jang-Dse-Kian hinab bis zur Mündung ins Gelbe Meer. Für Segalen wird der Fluss mit seinen Stromschnellen, Wirbeln und Verengungen zu einem zentralen geopoetischen Element. Hohe Konzentration und blitzschnelle, instinktsichere Reaktionen sind unentbehrlich, um Gefahren auszuweichen, bevor sie überhaupt auftreten. Auf diesen Reisen führt er eine Art Tagebuch: Ziegel & Schindeln. Für die Übersetzerin Maria Zinfert „ein einzigartiger Bilderbogen eines archaischen Chinas“.
In Peking lernt er Maurice Roy kennen, den Helden des Romans René Leys, der ihm Sprachunterricht gibt und seine unwahrscheinlich klingende Lebens- und Liebesgeschichte erzählt. Roy war ein junger Belgier, Sohn eines Kolonialwarenhändlers und einer Französin. Er kam als Knabe nach China und lernte früh Chinesisch. Er fand Einlass in die Verbotene Stadt, wurde Chef des kaiserlichen Geheimdienstes, Freund und Ratgeber des Regenten, – und Geliebter der Kaiserin-Witwe. Das Buch, angesiedelt im Grenzbereich von Traum, Wahn und Wirklichkeit, erinnert an eine mysteriöse Kriminalgeschichte, es bleibt offen, ob das, was Maurice Roy alias René Leys erzählt, wahr oder erlogen ist.
Dann wurde die Republik ausgerufen, der Kinds-Kaiser abgesetzt und die Tore, der bis anhin hermetisch verschlossenen Kaiserstadt, für alle geöffnet. Für Segalen ein Geheimnisverlust ohnegleichen! Er fühlt sich in seiner Bewunderung für das Reich des Himmels-Sohnes betrogen.
Am 1. Februar 1914 bricht er zu einer zweiten großen Reise durch China auf. Gilbert de Voisin gehört wieder dazu, und Jean Lartigue, ein Marineoffizier. Sie reisen der Nordgrenze Chinas entlang, durch die Provinzen Chensi, Chansi und Setzschuan, in denen bisher noch kein Weißer gewesen war. Segalen interessieren die großen Grabhügel aus der Han-Zeit (220 vor Chr. – 200 nach Chr.). Die Archäologie soll seinen „Durst nach dem Autochthonen“ löschen. Die Han-Zeit war in seinen Augen das ideale Zeitalter; die Kaiser bemühten sich um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Volksschichten und schufen so eine stabile, über Jahrhunderte hinweg in sich ruhende Kultur.

Beim Ausbruch des 1. Weltkrieges, erhalten sie den Stellungsbefehl aus Frankreich. Ein zweites Mal muss Segalen an den Grenzen Tibets umkehren, ohne die Möglichkeit zu haben, die archaische Hochkultur auf dem Dach der Welt zu erforschen.
Auf dem Schiff nach Europa, schreibt er Aufbruch ins Land der Wirklichkeit. Darin verschmilzt er seine zwei großen Chinareisen zu einer einzigen. Er experimentiert mit dem Genre des Reiseberichts und unterläuft es zugleich. Im Gegensatz zu Pierre Loti oder Paul Claudel ist ihm das Gemisch aus Abenteuergeschichten und Reisebericht suspekt. Das Buch ist in achtundzwanzig Etappen gegliedert, ein Zickzacklauf zwischen dem Imaginären und dem Realen. Sich aus dem „Schauder des Traumes“ befreien, um den realen Weg unter die Füße zu kriegen, kein Ort, an den man das erste Mal kommt, sieht so aus, wie man ihn sich vorgestellt hat. Jede Reise ist eine ständige Konfrontation zwischen der eigenen Einbildungskraft und der Realität der konkreten Bilder. Er betrachtet sich als Geographen, der „ein Logbuch eines in die Ferne schweifenden Traumes“ führt.

Im Mai 1915 meldet sich Segalen freiwillig zum 1. Regiment der Marine-Füsiliere, um aktiv am Kriegsgeschehen teilzunehmen. Er wird krank und kehrt nach Brest zurück. Im Januar 1917 bricht er erneut nach China auf, um die Grab-Denkmäler rund um Nanking zu erforschen. Nach der Rückkehr behandelt er im Marinespital von Brest Soldaten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind.
Er wird auf mysteriöse Weise krank, ohne etwas Näheres darüber herauszufinden. In einem Brief an Jean Lartigue schreibt er: „Ich werde feige von meinem Körper verraten. Seit langen schon beunruhigt er mich (….); ich habe keine bekannte Krankheit (….) und dennoch läuft alles „so als ob“ es mich schwer erwischt hat. Ich wiege mich nicht mehr. Ich kümmere mich nicht mehr um Heilmittel. Ich stelle einfach fest, dass das Leben sich von mir entfernt.“
Zur Erholung reist er nach Huelgoat. Am 21.5.1919 bricht er zu einem Waldspaziergang auf, kehrt am Abend aber nicht zurück. Zwei Tage später findet man ihn. Er saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, den Hamlet neben sich im Gras, eine Wunde am rechten Fuß, die er notdürftig verbunden hat, aber sie konnte nicht die Ursache für seinen Tod sein. Er ist nur einundvierzig Jahre alt geworden.