Sils Maria

Ein kleines, gelbgestrichenes, zweistöckiges Haus. Es steht zurückversetzt, am Fuss eines Abhanges, im Kieferschatten. Hier wohnt einer, der den Menschen den Rücken zugekehrt hat, dachte ich, als ich es das erste Mal sah. Einst wohnte Friedrich Nietzsche da. Jetzt ist es ein kleines Museum zu seinem Gedenken. Unter Glasvitrinen liegen Erstdrucke seiner Bücher, meist billige, zerfledderte Broschüren. An den Wänden hängen Fotos von ihm und von seinen Vorfahren. Die strenge Mutter am Arm ihres Sohnes. Eine Büste aus weißen Marmor. Nietzsche soll sie während der Entstehung liebevoll gestreichelt haben.
Briefauszüge. Faksimiles seiner ersten Gedichte. Er schrieb sie mit sechzehn Jahren und ließ sie in Schülerzeitungen publizieren. Fotos von Freunden: Lou André-Salomé, Hans von Bülow, Paul Rée. Dokumente von Schriftstellern und Philosophen, die in späteren Zeiten ins Engadin kamen (Marcel Proust, Thomas Mann, Theodor W. Adorno). Fotokopien aus dem Gästebuch des Museums, auf denen berühmte Namen stehen: Elias Canetti* (siehe unten) zum Beispiel, er hat Nietzsches Denken als „Philosophie zum Aufblähen“ bezeichnet.
Alles war sauber mit Reisnägeln an die Wände gepinnt.
Ein Fetzen alter, brüchiger Tapete hängt an der Tür zu seiner Kammer im oberen Stock. Daneben ein Auszug aus einem Brief an seine Mutter, in dem Nietzsche von der Tapete schreibt. Die Kammer selbst ist einfach und schmucklos, von den Wänden ist die besagte Tapete verschwunden. Sonst soll der Raum so eingerichtet sein, wie er es zu Nietzsches Zeiten gewesen war. In der linken Ecke vor dem Fenster stand ein Sofa, davor ein Tisch und ein Stuhl und an der gegenüberliegenden Wand ein schwerer, gedrungener Schrank.
Ich machte einen Schritt in die Kammer und tat sofort wieder einen zurück. Gleich links neben der Tür war ein gemachtes Bett zu sehen. Die weißen Laken, die Decke und das Kissen berührten mich peinlich, als schaute ich einem anderen unerwünscht in seine intimen Angelegenheiten. Holzwände, Diele und Decke hatten die Farbe von blankgeschabten Knochen, was die Nüchternheit des niedrigen Raumes noch stärker betonte. So habe ich mir immer das Zimmer eines Denkers vorgestellt.
Ich kaufte mir Die Götzendämmerung und eine Postkarte und trug mich ebenfalls ins Gästebuch ein.
„Der pyramidale Block bei Surlej (fettgedruckt) Silvaplanersee / wo Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr fasste“ (kleingedruckt), steht auf der Rückseite der Postkarte.
Ich schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las folgende Worte: „On ne peut penser et écrire qu’assis (G. Flaubert). – Damit habe ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.“
Ich schloss das Buch und steckte es samt der Postkarte ein, verließ das Haus und ging mit raschem Gang den Weg hinauf, der neben dem Haus in langen Serpentinen in die Höhe Richtung Fextal führt.
Die raue Berglandschaft und die stille Einsamkeit des Pfades brachten mir Nietzsche näher. Ich fragte mich, an welch gefährlichem Abgrund, hoch über einer Schlucht, in die ein tosender Gießbach fällt, er wohl gelegen haben mochte, so gleichgültig nahe am Abgrund, dass es seinen Begleitern grauste und kalt über den Rücken lief.
Ich hörte das Gebimmel von Kuhglocken. Ein grelles Licht floss von den Nadelbäumen und von den Kuhfladen flohen dichte Fliegenschwärme. Einen Moment lang glaubte ich am Ende des 19. Jahrhunderts zu leben und schaute zurück, hinunter ins Tal. Ich sah die Hochspannungsleitungen, Autos, Wohnblöcke und auf dem flaschengrünen Silvaplanersee segelten Windsurfer.
Zum Nachtessen fuhren wir ins Bergell. Als wir auf dem Rückweg am Silvaplanersee vorbeikamen, ging der Mond auf zwischen den hohen Berggipfeln. Er war fast voll. Er goss sein fahles Licht auf den schwarzen Spiegel des Sees. Die schmale bewaldete Halbinsel, auf der der „pyramidale Block“ steht, war ein düsterer Kamm, den man in den nächtlichen See gesteckt hatte. Es schien mir, als ob See und Halbinsel die Düsternis und Dunkelheit verkörperten, in die Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch fiel.

  • Es handelte sich bei diesem Eintrag nicht um den Schriftsteller und Nobelpreisträger Canetti, sondern um dessen Cousin aus Paris mit gleichem Namen.
    In vergangenen Herbst sind die Briefe von Elias Canetti erschienen. Im Brief vom 13. September 1977 schreibt er an Daniel Bodmer: „Im August waren wir bei einem Besuch in Sils Maria auch im Nietzsche-Haus und haben jenes Rätsel, an das Sie sich gewiss auch erinnern werden, gelöst. Unter dem 27. Juli findet sich da die Eintragung „Marian und Elias Canetti“ – ein gleichnamiger älterer Vetter von mir mit seiner Frau, der in Paris lebt und manchmal zur Erholung nach Sils fährt.“