Rom im Januar

Die eisige Kälte fraß sich wie Rost durch die Kleider. Abhauen, dachte ich, weg von Scheisskälte und Schnee.
Wir flogen nach Rom.
Es war kühler, als wir erwartet hatten, ein rauchiges, winterliches Rom, aber man konnte die Tage draußen auf den Plätzen und in den Gassen verbringen. Und der Himmel war von einem intensiven Blau.
Ich packte Rom, Blicke von Rolf Dieter Brinkmann ein. Einst gehörte es zu DEN BÜCHERN. Ich hatte es immer wieder und wieder gelesen. Es ist ein heftiges, ausuferndes Buch. Ein wildes Schimpfen auf eine ausgelaugte Gegenwart, den Schrottzustand der Welt, die vergammelte Alltäglichkeit, auf Menschenmassen und den Gestank und Lärm der Autos. Es ist jedoch viel mehr als das! Wenn Brinkmann Zorn und Wut vergisst, einfach von dem schreibt, was er sieht, riecht, hört und erfährt, dann erhält seine Sprache eine dichte Sinnlichkeit, eine poetische Intensität, die ihm so rasch nicht einer nachmacht. Nichts Gekünsteltes, Gaghaftes, Gewundenes. Klar, direkt und unverschnörkelt kommt es dann.
Er war ein gegenwartsversessener Dichter, der gegen die Erstarrung des Lebens und der Literatur aufbegehrte. Er besaß eine faszinierende Beobachtungsgabe, eine unglaubliche Wahrnehmungskraft. Doch was er sah, weckte oft seinen Abscheu, machte ihn wütend und reizbar. Er hatte ein aggressives, zwiespältiges Verhältnis zur Realität, denn er war ihr völlig ausgeliefert. Er war bereit, weit zu gehen, immer weiter. Denn er wollte eine andere Gegenwart, eine andere Literatur, ein anderes Leben überhaupt und: Keine Kluft zwischen Leben und Literatur!
Brinkmann provozierte. Verärgerte. Er war der Halbstarke der deutschen Nachkriegsliteratur. „Das war ein ungewöhnlich ordinärer und abstoßender Mensch“, erklärte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Er musste es wissen. „Wenn dieses Buch ein Gewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen“, hat Brinkmann 1968 in Berlin an einer Podiumsdiskussion zu Reich-Ranicki gesagt. Brinkmann muss gespürt haben, dass sich da ein Spießbürger als Dompteur der deutschen Nachkriegsliteratur aufführte.
Rom, Blicke besteht aus Notizen, Gedankengängen, Briefen, Fotos, Postkarten, Quittungen, Lektüreauszügen und Stadtplänen, auf denen die Wege eingezeichnet sind, die er gegangen ist. Entstanden ist es 1972/73, veröffentlicht wurde es 1979 aus dem Nachlass. Brinkmann hatte für zehn Monate ein Künstler-Stipendium der Villa Massimo in Rom erhalten. Doch er mochte die Villa nicht. Er vergleicht sie mit „einem abgewrackten Tierpark“. Eine Kulissenwelt gegen das schöpferische Bewusstsein, gegen den schöpferischen Impuls. Die anderen Stipendiaten sind nichts als „freundliche Arschkriecher, elende hinrvergammelte Schwätzer“, peinlich lächerlich mit ihren kleinlichen Ansprüchen wie eine eigene Kaffeemaschine im Atelier zu haben, zweimal die Woche die Handtücher ausgewechselt bekommen, organisierter Kinderhütedienst etc. Ihre Arbeiten seien „handwerklich perfekt – und das steht in genauem Verhältnis zur Dünne ihrer Bilder, Musiken und Werke. Fleißige Schüler, ein wenig begabt, das andere macht dann ihr Verwertungshaus, ihre Verwertungssucht.“
Brinkmann war allein in Rom, ohne seine Frau Maleen, ohne Robert, ihrem Kind. Sie waren in Köln geblieben. Ich hingegen war mit A. zusammen da. Wir gingen Hand in Hand durch Rom. „Nice Couple“, köderte uns ein schwarzer Straßenhändler auf der Piazza Madonna di Loreto. Wir taten so, als hätten wir es nicht gehört, sonst hätte er versucht, uns seinen Ramsch aufzuschwatzen, solche Komplimente sind nicht gratis. Man spürt, dass die Ehe mit Maleen in einer schweren Krise ist. Die Briefe, die Brinkmann ihr aus Rom schickt, sind immer auch ein Ringen um sie. Wenn er sich ihr ganz zuwendet („die Negationen sich in den Gedanken verloren haben und aus dem Körper ein ruhiges Empfinden aufsteigt und sich verbreitet“), strömt eine ungeheure Zärtlichkeit aus seinen Zeilen. Die Briefe werden zu einem eigentlichen Liebesgeflüster, das tief berührt und das man diesem Wüterich nie zugetraut hätte. “Ich möchte Dir etwas Ruhiges, Zärtliches sagen, so zärtlich und ruhig und so freundlich wie die Wärme im Zimmer, die Stille im Zimmer, und so intensiv wie die Tatsache, dass es Dich gibt.“

Ponte Vittorio Emanuele II.

„Was sehen sie“, fragt Brinkmann, „ist da etwas, das sie wirklich mögen?“ Er sieht hin. Er sieht genau hin. Er registriert Dinge, die wir gewohnt sind, zu übersehen. Wachheit und Wachsamkeit sind zwei zentrale Eckwerte bei ihm. Er wollte seine Sinne befreien von Erklärungen, Begriffen und vorgestanzten Bildern.
Ja, was sehe ich, wenn ich durch Rom wandere? Sehe ich überhaupt etwas?
Die ersten zwei Tage war ich wie zugenagelt, desinteressiert, unaufmerksam. Die Santa Maria sopra Minerva mit ihren Deckengemälden und den riesigen Bildern in den Nischen überforderte mich heillos. Also versuchte ich mich auf die Jesus-Figur von Michelangelo zu konzentrieren. Der tuntige Arsch passt irgendwie nicht zum männlichen Oberkörper und den kräftigen Waden. Trotz dem Kreuz, das er umklammert hält, strahlt die Figur eine unglaubliche Sinnlichkeit aus, kein Leiden, kein vom Schmerz verzerrtes Gesicht; kein Wunder, haben die Kirchenbonzen diesem Jesus ein bronzenes Tuch zwischen den Beinen befestigt.
Um wirklich in einer Stadt anzukommen, sollte man die ersten Tage keine Ziele haben, sich einfach treiben lassen, nur den flüchtigen Eindrücken folgen, die unmittelbar ins Auge gehen. So öffnet man sich langsam, wird aufmerksam all jenen unscheinbaren Dingen gegenüber, die den Reiz einer Stadt ausmachen, der Blick wird freier, sensibler, empfänglicher. „Schönes Trödeln, das ich erst wieder lernen muss“, schreibt Brinkmann.
Ich sehe den blauen Himmel über einer kleinen Piazza, die überalterten Straßen mit den verschachtelten Häusern und rostfarbigen Fassaden, das verwaschene Weinrot bei einer anderen, die Regenspuren darauf, darüber der luftige Anblick einer verglasten Terrasse, Töpfe mit Grünzeug davor und stumpfe Kamine, ein Glockenturm, der mich an die in den Italo-Western erinnert, das glänzende, bucklige Kopfsteinpflaster, das Relief, auf dem Maria mit Jesu im Arm abgebildet ist. Es klebt an einer Hausecke unter einem schwarzen Baldachin. Die grauweiße Frontfassade einer Kirche mit ihren Säulen, Statuen, Friesen und der alten wuchtigen Holztür, die Ecke eines senfgelben Palastes, dahinter eine Gasse, schattig, eng und dunkel, ein romanischer Campanile aus unverputzten Ziegeln, der Halbkreis eines Daches aus runden, römischen Ziegeln. Ich sehe den Balkon im obersten Stockwerk eines Gebäudes, das wie ein umgekipptes V in den Platz hineinragt. Der Balkon läuft auf beiden Seiten des Gebäudes entlang, Tisch und Stühle in der Spitze, am Schnittpunkt der aufeinander zulaufenden Balkone. Mein Blick gleitet wie eine Kamera darüber. Ich gerate ins Sinnieren, Träumen, sitze selber da oben am Tischchen, lese, trinke Kaffee, schaue auf die kleine Piazza hinab, wo in diesem Moment zwei Touristen stehenbleiben, zu mir hinaufschauen und denken, wie angenehm es wäre, da oben auf dem Balkon zu sitzen, zu lesen und Kaffee zu trinken?
Ich bin Sinnenmensch, Flaneur, der von kurzen Einfällen und schnellen Eindrücken lebt. Nichts lieber, als tagelang durch eine fremde Stadt zu strolchen. Umherschweifen, stehen bleiben, hinschauen, weiter gehen, wieder stehen bleiben, plötzlich nach links oder rechts abbiegen, weil etwas in der Ferne den Blick erregt hat, ein flüchtiger Eindruck, ohne sagen zu können, was es ist, vielleicht etwas, das an die Vergangenheit erinnert und nun meine Schritte durch die fremde Stadt lenkt und Anlass zu Tagträumereien gibt.
Ich habe diesen Zwang nie verspürt, den Sehenswürdigkeiten einer Stadt nachzulaufen, das alltägliche Leben auf den Plätzen und in den Straßen ist viel faszinierender. Touristen haben bestimmte Bilder im Kopf, denen sie hinterher laufen, es sind buchstäblich Gemeinplätze, von Millionen anderen bereits abgelichtet. Ich versuche unter diesen Bildern hindurch zu tauchen, eine andere Städtewirklichkeit zu erforschen.

Fotoausstellung am Tiber

Karl Philipp Moritz hat Rom als „klassischer Boden“ bezeichnet. Dagegen Brinkmanns radikaler Antiblick. „Rom, der letzte Dreck: fällt mir ein!“
Natürlich gibt es auch Hässliches in dieser Stadt, Groteskes; im Vergleich zu Paris fehlt Rom eine klare Gliederung, das Centro Storico mit seinen engen, krummen Gassen ist vollgestopft mit Häusern, Palästen, Kirchen. Unglaublich diese Menge an Kirchen. Kein Mensch kann so viel beten. Und überall Barock. Er ist ein Mangel an Ausdruckskraft, eine Schwächung des menschlichen Geistes; Stuck, Gold und Puten statt geistiger Biss. Und trotzdem: – Rom besitzt ein ganz eigentümlicher Charme, eine ihm eigene Nonchalance. Im Gegensatz zu Brinkmann mag ich Rom sehr, ich fühle mich wohl hier. Etwa, wenn ich an der Piazza Farnese im Santa Margaritha an der Sonne sitze und einer Gruppe von alten Italienern zuhöre, die ebenfalls an der Sonne sitzen, ihren Kaffee trinken und zusammen schwatzen. Sie scheinen alle Zeit der Welt zu haben.
Wenn Markt war, gingen wir am Morgen zum Campo dei Fiori, einem kleinen Platz, nicht weit von der Piazza della Rotonda weg. Ich achtete mehr auf das, was bei den einzelnen Ständen angeboten wurde (also auf Gemüse, Früchte, Käse, Makkaroni, Fleisch, Fisch, die riesigen Berge von Artischocken, für die es nun Saison ist – eine herrliche aufgeschichtete Form- und Farbenwelt), als auf die dunkle Statue auf ihrer hohen Säule. Wie gierig man im Winter auf Farbe ist.
Giordano Bruno steht hoch über dem Platz in einem weiten Mantel und die Kapuze tief im Gesicht, eine düstere, tragische Gestalt. Er hat erklärt, dass die Unendlichkeit des Universums weder einen Anfang noch ein Ende kennt, es lasse weder ein Jüngstes Gericht noch ein Jenseits zu. Kein Wunder schreckte das die Prälaten und Kardinäle aus ihrer dumpfen Frömmigkeit auf. Es war zu viel für sie. Sie errichteten auf dem Platz der Blumen einen Scheiterhaufen und verbrannten Giordano Bruno am 17. Februar 1600 bei lebendigem Leib. Für Brinkmann ist Giordano Bruno eine der großen solitären Figuren der Geschichte. „Ich mag Einzelne. Alles andere ist Ramsch.“
Wir gingen die Via Sistina bis zum oberen Ende der Spanischen Treppe hinauf. Die Treppe sieht von da oben völlig unspektakulär aus. Auch Brinkmann schreibt, „äußerst unimposant, die Postkarten davon sind beeindruckender“. Er fand, es werde zu viel Trara um diese Treppe gemacht, die ganze Szenerie sei lächerlich. Damals war die Treppe voll von Hippies, Gammlern und Langhaarigen aus ganz Europa. Viele kifften, andere lagen nackt in der Sonne. Von da oben hat man einen wunderbaren Blick auf das Relief der Stadt, das Gewirr von Häusern, Palästen, Kirchen, Türmen, Straßen, Dächern, Fassaden und weiter weg schwebt die Kuppel des Petersdom wie ein Ufo darüber.

Wenn die Dämmerung kam und es kühl wurde, kehrten wir ins Hotel zurück. Vom Fenster aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Piazza della Rotonda hinab. Dichtes Menschengewimmel da unten. Jeden Abend stand der gleiche Musiker mit seiner elektrischen Gitarre auf der Piazza und begleitete die hereinbrechende Abenddämmerung mit seinen bluesigen Songs. Jeden Abend waren es die gleichen Songs. Er stand mitten auf dem Platz, war wohl schon etwas älter, schulterlanges Haar, beginnende Stirnglatze, umgeben von einer Menschentraube, und spielte. Er spielte gut. Das Geräusch der Stimmen, das zwischen den einzelnen Songs vom Platz hinauf anschwoll.
Auf der rechten Seite war das Pantheon mit seinen antiken Säulen zu sehen. In der Mitte des Platzes der Brunnen. Darauf hat man einen Obelisk gesetzt, was komisch aussieht. Brunnen und Obelisk passen nicht zusammen. Der Brunnen ist rund, barock, pompös, aus weißem Marmor, der Obelisk schlank, kantig, braun. Auf seine Spitze hat man ein bronzenes Kreuz gesetzt, wahrscheinlich um ihm die fremde Magie zu nehmen. Bei den Katholiken ist ja viel Magie und Aberglauben mit im Spiel. „Dahinter das graue Muff-Gebäude des Pantheon“, schreibt Brinkmann, „in der Luft auf dem ägyptischen Obelisken ein Kreuz (: und das macht beispielsweise latent wütend, überall diese rotzige Frechheit der katholischen Kirche zu sehen, der miesen Katholiken, die Protestanten hätten gewiss in ihrer Kargheit das Ding verschwinden lassen! Geschieht wohl zu Recht, dass so ein langsam großes Abschlaffen und Zerfallen sich ausbreitet, langsam und gemächlich, ist schon längere Zeit im Gang und wird wohl längere Zeit anhalten.)“

Antikes Rom

Am Sonntag stiegen wir zum Kapitol-Hügel hinauf. Der Platz war von Michelangelo entworfen worden. Ein Ziel in meinem Leben ist es, einmal alle Objekte von Michelangelo in Natura gesehen zu haben.
Hier kommt Brinkmann ins Schwärmen: „Wirklich ein schöner befreiender Platz, mit einem feinen Raumgefühl entworfen, denn das Gefühl des Raumes teilt sich mir sofort mit. Ich hatte das Gefühl des Raumes und nicht das eines staubigen Durcheinanders, sobald ich von den Bauten ringsum und ihrem Zustand absah. – Hier konnte ich gehen, mich bewegen, über eine gleichmäßige Fläche, die angenehm war.“
Etwas, das ich nicht konnte, absehen von den scheußlichen Barockfassaden rundherum. Es stellte sich bei mir auch kein befreiendes Gefühl ein. Das Reiterstandbild von Marc Aurel mitten im Sternenmuster überflüssig, das Pferd plump, die gönnerische Geste Marc Aurels rechter Hand überheblich.
Wir gingen zum Forum Romanum weiter, für Brinkmann ein antiker Schrottplatz mit all den Säulenstümpfen, Mauerresten, Steinklötzen, zerbrochenen Treppen und halb zerfallenen Torbogen:
„Und was nützen mir historische Ruinen? Ich möchte Gegenwart!“
Auf der Via dei Fori Imperiali Richtung Kolosseum, rechts und links das antike Trümmerfeld, mit dem ich auch nichts anzufangen weiß, war eine Reggea-Band das Beste, was wir da zu sehen bekamen; sie spielten mit Lust und Leichtigkeit, man hörte ihnen gerne zu. Zwei Rastas mit Gitarren, zwischen ihnen am Boden sitzend ein bärtiger Weißer, der eine Art elektronisches Schlagzeug spielte.
Ganz in der Nähe ein gepanzertes Militärfahrzeug und daneben standen drei Soldaten mit automatischen Gewehren in der Hand. Grüne Filzhüte mit Federn auf dem Kopf, die nicht so recht zum Kampfanzug passten. Überhaupt viel Militär auf den Plätzen Roms. Glauben sie wirklich, so gegen terroristische Attentate gewappnet zu sein? Oder ist es Ritalin für die Menschenmassen in den Straßen?
Als die Türen um drei Uhr nachmittags wieder geöffnet wurden, strömten die Menschen in die Basilika San Pietro in Vicoli. Der Moses von Michelangelo war mit einem roten Band weiträumig abgesperrt. Männer in weißen Kitteln fotografierten und filmten im Zwischenraum. An einem Tischchen saß ein weiterer in weißem Kittel vor einem Computer, auf dem Display waren statistische Grafiken zu sehen.
Die Menschen drängten sich gegen das Absperrband, hielten ihr Smartphones in die Höhe, knipsten und verschwanden wieder, ohne den Moses groß zu beachten. „Stumpfsinniges Pack“, sagt Brinkmann.