Auf den großen Boulevards

Es war früh am Morgen, als der Nachtzug aus Basel an der Gare de l’Est eintraf. Ich war müde und hellwach zugleich, als ich auf den Platz vor dem Bahnhof trat. Verrückt dachte ich, ich bin in Paris, verrückt. Ich betrachtete die hohen Häuser aus hellem Sandstein und die schmalen schmiedeisernen Balkons, die an den Fassaden klebten. Ich sah den Boulevard de Strasbourg, eine lange abwärtsgehende Gerade. Ich ging ins 9. Arrondissement, man hatte mir das Hotel du Nord an der Rue Faubourg Poissonnière empfohlen. Die Straßen lagen noch im Schatten, einzig die Hausdächer wurden von der Morgensonne vergoldet. Wasser strömte den Rinnstein hinunter, Sandsäcke kanalisierten es in die Schächte.
Wenig Menschen, wenig Verkehr. Ich ging in ein Bistro und bestellte einen Milchkaffee. Während ich den Kaffee trank, betrachtete ich den Kellner, der hinter der Theke Gläser abtrocknete und mit einer jungen Frau schwatzte. Verrückt, dachte ich wieder und schaute mich im Lokal um. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, Buchhändlerlehrling und zum ersten Mal in Paris. Alles kam mir ein bisschen unwirklich vor. Zugleich war mir die Stadt so vertraut, als wäre ich schon öfters hier gewesen.
Vielleicht kam das von den Büchern, die ich gelesen hatte. Eines davon hatte ich in meinem Koffer. Es war der unmittelbare Anlass für diese Reise gewesen.
Die Rue Faubourg Poissonnière ist eine enge Straße mit hohen Häusern, sie führt vom Barbès Rochechquart hinunter zu den großen Boulevards. Man hat das Gefühl, diese Straße habe sich seit hundert Jahren nicht verändert, eine typische Pariserstraße.
Im Hotel du Nord hatten sie ein Zimmer für mich frei. Es war ein ganz kleiner Raum im fünften Stock. Darin gab es nur ein altes schmales Eisenbett, eine Kommode, einen Kleiderständer und ein Lavabo. Vom Fenster aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Dächer von Paris. Ich packte meine Sachen aus. Den blauen Samtanzug, den ich extra für die Reise gekauft hatte, hängte ich an den Kleiderständer. Das Buch legte ich auf die Kommode. Es hat ein auffällig langes schmales Format und einen hellblauen Leineneinband. Auf dem Schutzumschlag ist ein Bild zu sehen, das in braune und graue Rechtecke eingeteilt ist, in den Rechtecken sind Büsten abgebildet wie sie die Schneider brauchen und eine Baumallee, die in ein nächtliches, gespenstisches Licht getaucht ist.
Lange verkörperte ein Foto des Autors für mich ganz Paris, ich setzte die Stadt an der Seine mit der Ecke eines gutbürgerlichen Salons gleich, mit Fauteuil, Sofa und Ständerlampe. Ein junger Mann mit dunklem zurückgekämmtem Haar und offenem Hemdkragen liegt auf dem Sofa, er reibt sich verschlafen die Augen. Das Foto ist in Nadja abgebildet, André Bretons berühmtestem Buch. Nadja hätte ebenfalls Anlass für eine Reise nach Paris sein können oder Odile von Raymond Queneau, die ironisch-bittere Persiflage auf den Surrealismus. Doch ich habe Den Abenteuern des Freibeuters Sanglot von Robert Desnos den Vorzug gegeben. Auf Französisch heisst das Buch La Liberté ou l’Amour. Mit zweiundzwanzig Jahren waren das die Themen, die mich bewegten: die Freiheit und die Liebe. Robert Desnos ist für mich DER Surrealist. Man sagt von ihm, dass alles, was er berührte, sich in Poesie verwandelte. Die Abenteuer des Freibeuters Sanglot sind ein erotischer Rausch und eine surreale Verzauberung, bei der es um die Geheimnisse der Nacht und um die Frauen geht. Kostbarstes Requisit im Buch sind die Batisthöschen von Louise Lame, die Sanglot in den nächtlichen Straßen von Paris aufliest und sich voll Wonne an die Nase hält. Was für eine Welt! Als das Buch 1927 erschien, fiel es der staatlichen Zensur zum Opfer.
Ich hatte die Absicht, auf den Spuren von Sanglot durch die Straßen von Paris zu schlendern, Sanglot, der hinter Louise Lame her war. Ich wollte all die öffentlichen Plätze sehen, die Place la Fayette, Place des Victoires, Place Vendôme, Place Dauphine, Place de la Concorde, die im Buch vorkommen. Die Pariser Landschaft sieht im Buch wie eine Unterwasserlandschaft oder wie jene auf den Bildern von Giorgio de Chirico aus.

Aufgrund des Fotos in Nadja wissen wir wie Robert Desnos gestorben ist. Er gehörte im 2. Weltkrieg der französischen Résistance an. 1944 wurde er denunziert und von der Gestapo verhaftet. Er hätte untertauchen können, wollte aber Youki, seine Frau, nicht gefährden. Er wurde zuerst in französischen Lagern interniert, dann nach Deutschland deportiert. Als die Offensive der Alliierten einsetzte, wurde er im Mai 1945 mit anderen Gefangenen aus einem Lager in Fulda weiter nach Osten verfrachtet. Viele starben unterwegs. Schließlich wurden diejenigen, die überlebten, ins Konzentrationslager von Theresienstadt gebracht. Als die Sowjets in Tschechien einmarschierten, fanden sie die Menschen im Lager in einem erbärmlichen Zustand. Unter den Betreuern, die sich um die Strafgefangenen von Theresienstadt kümmerten, gab es auch tschechische Studenten. Einer von ihnen war Josef Stuna; er stieß beim Check der Gefangenenlisten auf den Namen Robert Desnos, der ihm von seiner Lektüre französischer Surrealisten her vertraut war. Er kannte das Foto in Nadja. Er fragte unter den Gefangenen, ob jemand den französischen Dichter Robert Desnos kenne. Das bin ich, sagte Desnos mit schwacher Stimme. Er hatte sich mit Typhus angesteckt, sein Fieber sank nie unter 39,6 Grad. Stuna und eine Krankenschwester pflegten ihn und führten Gespräche mit ihm, soweit er zum Sprechen noch fähig war. Am 8. Juni 1945 starb Desnos.

Ich war die ganzen Tage in den Straßen von Paris unterwegs. Meistens zu Fuß. Meistens in meinen blauen Samtanzug. Der Anzug war sehr schmal geschnitten. Ich wirkte darin noch dünner als ich schon war. Eine blauer Luftwirbel, der durch Paris drehte und kreiste.
Ich schritt die großen Boulevards entlang – Montmartre, des Italiens, des Capucines, Haussmann, Malesherbes – und spürte wie es angesichts ihrer überwältigen Dimensionen in meinem Inneren zu tektonischen Verwerfungen kam, worüber ich in einen wirklichen Taumel geriet. Nachdem ich mit den Ausmaßen dieser Straßen vertraut geworden war, war es eine Lust, sie abzuschreiten. Ich bekam nicht genug davon. Bei manchen Straßen hatte ich den Eindruck, sie würden über den Horizont hinaus in den Himmel laufen, auf einen anderen Stern zu. Die Sonne glitt wie ein himmlisches Auge über die Stadt. Die Blätter der Kastanienbäume bekamen eine rostrote Farbe. Es war, als ob mich Bonnards Farbwirbel verschlingen wollten.
Paris war ein unerschöpfliches Feld von Möglichkeiten. Ich hatte zwar einen Stadtplan bei mir, zog ihn aber selten hervor. Wie die Surrealisten wollte ich alles dem Zufall überlassen, der Zufall war mein Stadtführer. Wer sich einfach treiben lässt, kann sich nicht verirren.
Ich schlenderte durch die Rue des Pyramides. Der Wind trieb wie in La Liberté ou l’Amour totes Laub durch die Straße, aber aus den Blättern wurden keine Handschuhe, als sie zu Boden fielen, sondern sie blieben einfach nur Blätter.
Ich wanderte weiter zur Place de la Concorde, um nach jenem Pflasterstein zu suchen, von dem Desnos erzählt; der Pflasterstein hatte über einen Lautsprecher die Namen all jener aufgezählt, die im Laufe der Zeiten auf ihn getreten waren.
Ich blieb vor den Schaufenstern der Juweliergeschäfte stehen und sah wie Frauen ihre Handschuhe abstreiften und Ringe anprobierten. Wenn mir eine Frau gefiel, verfolgte ich sie auf ihrem Weg, ich ging diskret ein paar Meter hinter ihr her. Das waren Augenblicke des Erschauerns, der nervösen Exaltation. Ich sah ihre Figur, den wiegenden Gang. Ich stellte mir vor, wie die Kleider ihre Haut berührten und sanft an den Hüften rieben. Nie erreicht die Schönheit eine solche Vollkommenheit wie in jenen Momenten, in denen wir uns ihr ganz hingeben. Nie war mein Verlangen grösser gewesen als in jenen Tagen in Paris. Ein betörender Duft hüllte diese Frauen wie eine unsichtbare Wolke ein. Welcher Moschusochse von der asiatischen Tundra hat je ein solches Aroma verströmt. Sogar die sibirischen Schamanen würden ob diesem Duft den Verstand verlieren. Da draußen auf den wilden Steppen, über die die Hirtennomaden mit ihren Tieren trotten, tragen die Winde herbere Gerüche mit sich, unpassend für ein Pariser Batisthöschen. Ich sah wie ganze Herden von Moschusochsen, Kamelen, Rentieren und Yaks durch die Straßen von Paris zogen.

Eines Abends zog ich wieder meinen blauen Anzug und trat in die Nacht von Paris hinaus. Mit der Metro fuhr ich zur Place du Louvre. In der Menschenmenge entdeckte ich eine Frau, die Louise Lame hätte sein können. Ich folgte ihr. Die Frau ging die Rue Rivoli entlang, die Rue la Monnaie und über die Pont Neuf. Ein Mann stand vor ihr auf dem Brückengeländer. Als die Frau fast auf seiner Höhe war, sprang er ins Wasser. Man hörte das Geräusch des Wassers, als der Körper aufprallte, dann nichts mehr. Sie tat so, als ob nichts passiert wäre und ging ohne einen Moment zu zögern weiter. Wer ins Wasser springt, muss schwimmen können; das ist eine Grundregel des Lebens. Ich sah die dunkle Oberfläche der Seine, auf der die Lichter der Stadt glitzerten und konnte den Körper der Frau buchstäblich unter ihren Kleidern fühlen. Nacht, Körper, Batisthöschen explodierte es in meinem Kopf, während ich hinter Louise Lame herging, die wahrscheinlich nicht Louise Lame war und von der ich wohl nie erfahren würde, wer sie wirklich war. Am Quai Conti bog sie in die Rue Guénégaud ein, dann in die Rue Mazarine. Und was für Schuhe sie trug; ich wäre vollkommen glücklich gewesen, die Schuhe täglich auf Hochglanz polieren zu dürfen, das wäre für mich der absolute Liebesrausch gewesen. Plötzlich blieb sie stehen, kramte aus ihrer Handtasche einen Schlüssel hervor und öffnete die Haustür. Ich ging an ihr vorbei, wir schauten uns an, ihre hellen, durchsichtigen Augen, ich sah, es war die Hausnummer 19, dann fiel die Tür ins Schloss, ein Geräusch, das sich wie ein Schrapnell in meine Ohren bohrte. Ich drehte mich noch einmal um und sah etwas Weißes auf dem Trottoir liegen. Ich stieß einen Schrei aus, der jeden Tiger in die Flucht geschlagen hätte. Louise Lame, dachte ich, deine Hüften. Ein Auto fuhr vorbei. Die Liebe ist wie zwei sich kreuzende Schnellzüge, man hat nicht einmal Zeit, sich zuzuwinken. Am Himmel standen die Sterne wie zitronengelbe Seifensplitter.

Von den Hallen war nichts mehr da. Bloß noch eine riesige, tiefe Baugrube, in der sich gelbe und orangenfarbige Bauhelme wie blutende Pilze bewegten. Dummköpfe mit schiefen Zähnen und aus der Hose heraushängenden Hemdzipfeln standen am Bauzaun und glotzten in das riesige Loch hinab, um den Fortschritt der Arbeit da unten in der Grube zu kommentieren.
Kann man das Hallenviertel noch Hallenviertel nennen, wenn die Hallen verschwunden sind? Es war „die verborgene Heimat“ von Robert Desnos, er war hier aufgewachsen. Ich ging durch die Rue des Lombards bis Ecke Rue Saint-Martin. Ich hob den Blick, sah einen Knaben auf dem Balkon im sechsten Stock stehen. Ich grüßte ihn, es war Robert Desnos, als er noch jung war und an das Wunderbare glaubte, das keine zeitlichen Beschränkungen kennt. Ich versuchte mir die Namen all der kleinen Straßen des Quartiers zu merken; sie schmeckten nach bretonischen Galettes, erinnerten an die Fischgräten-Korsetts fülliger Damen aus dem 18. Jahrhundert und an einen alten, abgelebten Adel, der in keinem Gotha mehr verzeichnet war: Rue Quincampoix, Rue Pernelle, Rue Bertin-Poirée, Rue des Orfèvres, Rue Lavandières-Ste-Opport, Rue Nicolas Flamel, Rue de la Grande-Truanderie, Rue de la Ferronerie, Rue Blancs-Manteaux, Rue Brisemiche. Das Sonderbare solcher Straßennamen zeichnet sich tief ins Innere jener ein, die mit ihnen aufwachsen, sie formen das Unbewusste in einer Art wie es gewöhnliche Straßennamen nicht zu tun vermögen.
Es gab noch etwas, das mir an Robert Desnos gefiel. Er hatte die Schule wie ich sehr früh verlassen, sie war für ihn eine Zwangsanstalt. Eine Zeitlang arbeitete er in einer Drogerie, aber die Lektüre von Baudelaire, Rimbaud, Lautréamont und Mallarmé war für ihn wichtiger als die Arbeit.
Ich tauchte in die Metrostationen hinab, durchwanderte lange gekachelte Gänge, sah Bettler, Straßenmusiker, fliegende Händler, Menschenmassen. Anderswo tauchte ich wieder auf und schritt von neuem aus. In einem anderen Quartier, in anderen Straßen. Diese Stadt erforscht du in zehntausend Jahren nicht, dachte ich. Dabei musste man immer ein Auge auf das Trottoir richten. Es war unglaublich, wieviel Hundescheisse in der Stadt der Liebe herumlag.

Odile Clarion, die Heldin in Raymond Queneaus Roman, hatte in der Rue Faubourg Poissonnière gewohnt, vielleicht im Hotel etwas weiter unten, Ecke Rue Richer, als das mit Tesson passierte, ihrem Liebhaber aus der Unterwelt, der von seinem eigenen Bruder umgebracht worden war. Die Gesetze da unten in der Unterwelt sind unerbittlich, da zählt nur die Beute, das Leben des Einzelnen dagegen nichts. Jedenfalls glaubte ich das nach der Lektüre zu wissen.
Ich hätte gerne Näheres gewusst und betrat eines Morgens das Hotel. Ein älterer Herr mit Glatze und in zerknittertem Hemd stand hinter der Rezeption. Es roch ein wenig muffig. Genau die Art Hotel, in die man absteigt, wenn man kein Geld hat, aber möglichst lange in Paris bleiben möchte.
– Guten Tag. Hat hier einmal eine Odile Clarion gewohnt?
– Vor kurzem nicht. Wann sollte das denn gewesen sein?
– Vor fünfzig Jahren ungefähr.
– Vor fünfzig Jahren? Was stellen Sie sich vor? Solange bewahren wir die Journale nicht auf, abgesehen davon führe ich das Hotel erst seit dreizehn Jahren. Wo haben sie das denn her?
– Aus einem Buch.
– Und sie glauben, was in den Büchern steht?
– Das versuche ich ja eben herauszufinden und ich habe gedacht, sie könnten mir dabei helfen.
– Sie sind gut. Warum versuchen sie es nicht beim Autor selber?
– Der ist vor einem Jahr gestorben.
– Das tut mir leid. Wo kommen sie übrigens her? Sie klingen nicht wie ein Franzose.
– Aus der Schweiz.
– Ich habe gedacht, die Schweizer seien ein vernünftiges Volk.
– Oh, nicht alle.
– Ja, das sehe ich.

Eines Tages schlenderte ich die Rue Lafayette entlang, um jene Stelle zu finden, wo sich Nadja und Breton zum ersten Mal begegnet waren, ebenfalls vor gut fünfzig Jahren. Ich hatte nur zwei dürftige Hinweise. Es muss zwischen der Buchhandlung Humanité und der neugotischen Kirche St.-Joseph-Artisan passiert sein. Die Buchhandlung gab es freilich nicht mehr. Nadja war „eine sehr ärmlich gekleidete junge Frau“ mit einem aufrechten Gang, sie bewegte sich außerhalb der sozialen Konventionen. Man wusste nicht so recht, von was sie lebte. Sie irrte ziellos durch die Straßen von Paris, so wie ich jetzt. Für Breton war sie zugleich eine absonderliche und bestrickende Macht, von der er sich angezogen und abgestoßen fühlte. Er sah in ihr das Sinnbild der freien Liebe, der Bewegung, der unerwarteten Wandlungen und des Lebensrausches. Nadja besaß hellseherische Fähigkeiten; Visionen und Halluzinationen bemächtigten sich ihrer, die sie mit präziser Klarheit zu schildern verstand.
Nach der ersten Lektüre war ich mir gewiss, Breton hatte Nadja an die Psychiater ausgeliefert, er sei mitverantwortlich dafür gewesen, dass sie in die Anstalt kam. Nach der erneuten Lektüre kürzlich, musste ich mich fragen, wie ich bloß auf diese Idee gekommen bin, denn nichts weist im Text darauf hin. Der letzte Abschnitt des Buches ist sogar ein Angriff auf die psychiatrischen Anstalten; wer einmal eingesperrt ist, so Breton, sei automatisch einem Verblödungsprozess ausgeliefert, denn die Psychiater züchteten ihre Kranken heran. Für Breton ist die Grenze verrückt/normal, Wahn/Nicht-Wahn eine willkürlich gezogene Grenze, der er keinen Wert beimaß, denn sie sage wenig über die geistige Verfassung eines einzelnen aus, vielmehr etwas über die Toleranzgrenzen in unserer Gesellschaft.
Trotzdem wurde ich auch bei der wiederholten Lektüre das Gefühl nicht los, Breton sei es irgendwie recht gewesen, dass Nadja in der psychiatrischen Anstalt verschwunden war. Sie war ihm zu einer Last geworden. Er wollte sie loswerden, wusste aber nicht wie. Zugleich hatte er von Nadja das erhalten, was er brauchte, um an ihr zu demonstrieren, was Surrealismus eigentlich sein könnte, doch er selber blieb dabei immer nur Beobachter, darauf bedacht, sich den Ärmel nicht nass zu machen, die distanzierende Objektivität nicht zu verlieren. In meinen Augen ist seine Begründung, warum er Nadja nie in der Klapsmühle besucht hat, etwas fadenscheinig; seine Abneigung gegen psychiatrische Anstalten sei so heftig gewesen, dass er absolut nicht imstande gewesen sei, eine zu betreten, nicht einmal um Nadja zu sehen.
Ich ging weiter zum Boulevard Bonne-Nouvelle; hier auf dem kurzen Abschnitt zwischen dem Boulevard de Strasbourg und der Porte Saint Denis beginnt Bretons Geschichte, gewissermaßen. (Das stimmt vielleicht nicht ganz, aber es ist eigentlich nicht so wichtig. Der Ausgangspunkt ist das Hôtel des Grands Hommes, Place du Panthéon, wo André Breton und Philippe Soupault um 1919 herum wohnten und Les Champs magnétiques schrieben.) Als ich in die Rue Saint Denis einbog, rätselte ich über den letzten Satz in Bretons Buch, ohne ihn zu verstehen: „Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder sie wird nicht sein.“ Die Schönheit ein Schüttelkrampf, ein Beben, eine Erschütterung, ein Sturz, ein Anfall, ein Bewusstseinsverlust, ein Taumel? Angesichts der Huren, die in der Rue Saint Denis standen, vergaß ich den Satz augenblicklich, jetzt wurde ich von einem ganz anderen Taumel erfasst.

Ich schlenderte den Boulevard Beaumarchais hinab zur Bastille, um das Café zu suchen, in dem sich die Surrealisten in den zwanziger Jahren getroffen hatten, ohne dass ich sein Namen gewusst hätte. Man muss sich auf den eigenen Instinkt verlassen, dann findet man intuitiv das Gesuchte und die Dinge treten in ein so klares Licht, die Vernünftigen würden es wohl als irr bezeichnen. Café des Phares, las ich auf einer der Markisen. Das muss es gewesen sein! Spaziergänge durch Paris sind literarische Streifzüge, Leseabenteuer zu Fuß, literarische Geographie. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt auf der Welt, in der so viele Spuren von Schriftstellern und Poeten zu finden sind wie in Paris, unsichtbare Spuren, sie laufen kreuz und quer über das Pflaster und verknäulen sich wie Spaghetti ineinander, Spuren der Götter mit rot entzündeten Augen, der Triebtäter der Einsamkeit, der Gespenster der Nachtcafés. Ohne die Stadtlandschaft von Paris gäbe es den Surrealismus nicht.
Ich überquerte die Seine und stieg zum Panthéon hinauf. Ich warf einen Blick in die Eingangshalle des Hotels des Grands Hommes, um André Breton und Philippe Soupault zu grüssen.
An der Place Saint-Germain des Près ging ich am Café Bonaparte vorbei, am Deux-Magots, am Flore. Ich wusste, die Place war das intellektuelle Zentrum von Paris. Ich studierte die Menükarten der Cafés, die Preise waren jenseits meines Budgets. Ich musste vernünftig bleiben, trotz dem blauen Samtanzug, den ich an diesem Tag trug. Anstatt mich in eines der Cafés zu setzen, ging ich in die Kirche an der Place Saint-Germain. Da drinnen war es dämmrig und kühl. Ich hatte das Gefühl, in einem orientalischen Basar ohne Händler und ohne Waren zu stehen. Das komische war, dass die Decke das gleiche Blau wie mein Anzug hatte.
Nachdem ich die Kirche verlassen hatte und den Boulevard hinaufging, passierte es. Louise Lame trat aus dem Buch und ging vor mir her. Sie hatte einen kecken Gang und trällerte ein Liedchen. Gesegnet sei Freibeuter Sanglot, gesegnet sei Robert Desnos, ihr Erfinder.
Wir gingen auf ihr Zimmer. Das Fenster stand offen, der weiße Musselin der Vorhänge bauschte sich im Wind. Auf dem Toilettentisch standen ein weißer Wasserkrug und eine Waschschüssel aus Emaille. Louise Lame hatte die vollkommensten Hüften. Es war entzückend mit ihr an diesem warmen Nachmittag im September in Paris.

Die Tage von Paris glitten vorüber. Meine Füße schienen den Boden nicht wirklich zu berühren. Die Boulevards waren von einer flimmernden Leidenschaft, die Morgensonne belebte die Passanten, alle möglichen Zufälle warteten auf mich, das Spiel der Liebe, die Verzauberung des Augenblicks, die Wunder der Schönheit. Ich ließ mich treiben wie ein Sonnenschirm auf dem Meer, ganz den Ereignissen der Straße hingegeben, ein zielloses schweifendes Umherirren. Das intellektuelle-berechnende Denken machte angesichts der Aufregungen und Überraschungen auf der Straße einen Schrumpfungsprozess durch. Die Sinne hatten das Steuer übernommen. Dank ihnen konnte ich mir die wirkliche Ekstase erhoffen. Ich gab mich ganz der Sinnlichkeit hin, in ihr offenbarte sich mein ganzes Selbst. Ich war eine atmende, aufsaugende, einziehende Molluske. Mögen die Yogis ihre Sinne aushungern, sich ganz auf ihr Innerstes konzentrieren, um die höchste Glückseligkeit zu erreichen, ich wollte meine Sinne öffnen, ganz öffnen, ein Membran mit Tausenden von Härchen werden; ich konzentrierte mich ganz auf das, was ich zu sehen, hören und riechen bekam, auf den Augenblick; meistens waren es unbedeutende Dinge, die ich sofort wieder vergaß. Für einen kurzen Moment nahmen sie mich ganz in Anspruch, ich sog sie tief in mich hinein, Augenblicke des glückseligen Schwindels, dann wurden sie vom Wind fortgetragen und neue überschwemmten mich.

Am Abend ging ich jeweils ins Restaurant Chartier am Faubourg Montmartre essen, bevor ich mich der Nacht aussetzte. Vor der Tür des Esslokals bildete sich jeden Abend eine lange Schlange von Menschen, die geduldig darauf warteten, eingelassen zu werden. In diesem riesigen Art-deco-Saal mit seinen Marmorsockeln, dem Glasdach, den Lüstern mit den kugelförmigen Lampen balancierten die Kellner die vollen Teller auf ausgestreckten Armen zwischen den Tischen hindurch.
Am letzten Abend wies mir der Kellner einen Platz an einem Tisch zu, an dem bereits eine junge Frau saß. Sie trug eine Brille und hatte einen melancholisch umringten Blick. Sie hatte das Fleisch auf ihrem Teller in kleine Stücke zerschnitten, so dass sie die linke Hand frei hatte, damit sie beim Essen lesen konnte. Ich verschüttete fast meinen Wein, als ich sah, was sie las: Odile von Queneau, auf Französisch.
Eine Buchhändlerin aus Basel, wie sich später herausstellte, für einen Sprachaufenthalt in Paris. Was ich in Paris treibe, wollte sie von mir wissen. Äußerlich wirkte sie etwas bieder, aber sie lachte laut heraus, als ich ihr sagte, dass ich hinter Frauen her ginge und mir dabei allerhand vorstellen würde. Sie fragte mich, ob ich diese Frauen denn auch ansprechen würde.