Kurz vor Weihnachten 2022 ist sie gestorben.
Auf Fotos sieht Marie-Luise Scherer mit ihrem strähnigen Haar und der Zigarette zwischen den roten Lippen wie eine Femme Fatale aus. Sie war eine großartige Schriftstellerin. Was sie schrieb, ist gutsitzendes, elegantes Schuhwerk, rahmengenäht selbstverständlich. Für den feinfühligen literarischen Geschmack wohl zu hart, zu sehr an der Realität, sofern es das überhaupt gibt.
Weiterlesen
Paris
Pariser Spaziergänge
Dieses Mal wohnten wir an der Rue de Vaugirard. Die Straße beginnt am Boulevard St. Michel, schneidet der Rue de Médicis den Weg ab, führt am Jardin du Luxembourg entlang und in einer langen Geraden hinauf zum Boulevard de Pasteur.
Für den Morgenkaffee gingen wir ins „Le Petit Suisse“, ein kleines Bistro an der Place Paul Claudel, wo, so schien es wenigstens, vor allem Leute aus dem Quartier ihren Kaffee tranken. Sie grüßten sich und schwatzten zusammen. Wir setzten uns draußen auf die Terrasse. Die Luft war kühl, der Himmel blau. Wir fühlten uns selber wie Pariser. Weiterlesen
Ein Kauz im Pariser Wandschrank
Der französische Schriftsteller Paul Léautaud, am 18. Januar 1872 in Paris geboren, war ein Sonderling erster Güte, unangepasst bis zur Unerträglichkeit, ein Lästermaul, Menschenfeind, Frauenverächter – Tierliebhaber. Weiterlesen
In Alberto Giacomettis Atelier
Im Grand Hotel in Cabourg lag in der Empfangshalle die New York Times auf. Ich hätte sie nicht geöffnet, wäre nicht auf der ersten Seite der Name Alberto Giacometti gestanden. So habe ich von der Ausstellung im renovierten Jugendstilgebäude an der Pariser Rue Victor Schoelcher oben beim Friedhof Montparnasse erfahren. Man habe da auch Giacomettis Atelier nachgebildet, hieß es im Artikel. Ich fragte mich, wozu dies gut sein sollte. Auch ein Museum kann die Zerstörungen durch die Zeit nicht aufhalten.

Ein Brief an Paul Nizon
Lieber Paul Nizon
Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie sich Riesenauflagen von Ihren Büchern wünschen. Verständlich! Sie wären dann richtig reich. Ein Auflagenmillionär à la Max Frisch oder Peter Handke. Darum nehme ich nicht an, dass es Sie schrecklich interessieren wird, was ich Ihnen zu schreiben habe, bei Riesenauflagen schielt man nach den Massen und hat nicht den einzelnen Leser im Auge.
Ich habe Sie erst spät entdeckt. Ich geriet an eines Ihrer Journale, fand darin eine Stelle über Elias Canetti, las mich fest. Weiterlesen
Pariser Buchhandlungen
Wir wohnten oben im Belleville, am Rand des Chinesen-Viertels, an der Sambre-et-Meuse. Ein kleines Studio im vierten Stock, dunkles, braungestrichenes Treppenhaus, doppeltes Schloss. Wer in Paris einen großen Raum bewohnen will, braucht entweder viel Geld oder die Fähigkeiten eines Hochstaplers.
Wir verließen das Haus kurz nach zehn Uhr. Ein kühler Morgen. Die Sonne blass. Wir gingen den von Chinesen und Schwarzen bevölkerten Boulevard de Belleville hinunter zur Metrostation. Vorbei an den chinesischen Restaurants, dem chinesischen Supermarkt, den chinesischen Läden und den Süffeln, die auf dem breiten Mittelstreifen des Boulevards herumhingen. Die Luft schien voll unsichtbarer Zeichen zu sein. Weiterlesen
Auf den großen Boulevards
Es war früh am Morgen, als der Nachtzug aus Basel an der Gare de l’Est eintraf. Ich war müde und hellwach zugleich, als ich auf den Platz vor dem Bahnhof trat. Verrückt dachte ich, ich bin in Paris, verrückt. Ich betrachtete die hohen Häuser aus hellem Sandstein und die schmalen schmiedeisernen Balkons, die an den Fassaden klebten. Ich sah den Boulevard de Strasbourg, eine lange abwärtsgehende Gerade. Ich ging ins 9. Arrondissement, man hatte mir das Hotel du Nord an der Rue Faubourg Poissonnière empfohlen. Die Straßen lagen noch im Schatten, einzig die Hausdächer wurden von der Morgensonne vergoldet. Wasser strömte den Rinnstein hinunter, Sandsäcke kanalisierten es in die Schächte. Weiterlesen
Neue Schuhe

Heute habe ich mir ein Paar neue Schuhe gekauft und sie mitten ins Wohnzimmer gestellt. Halbhohe Stiefeletten zum Schnüren, aus weichem braunem Leder, das wie zerknittert aussieht, glänzende Spitzen, rahmengenäht. Wunderbare Schuhe. Ganz nach meinem Geschmack. Die Schuhe, so mitten im Wohnzimmer, haben wie ein Gedicht ausgesehen, ein Gedicht von Gottfried Benn oder Rainer Maria Rilke. Wobei Rilke Knöpfstiefel getragen haben muss, worum ich ihn beneide. Auf dem Heimweg war mir klar geworden, dass es auch anders ginge. Weiterlesen
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.