Der 15. August 1994 war ein Montag. Ich saß am Bürotisch. Das Telefon klingelte. Ein Buchhändler aus Zürich war dran. Er erzählte mir, dass Elias Canetti gestorben sei. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, zog ich meine Jacke an und machte einen langen Spaziergang am See. Ich war ganz durcheinander ob dieser Nachricht und unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Im Geschäft wartete man auf mich. Eine Sitzung war anberaumt. Was ging mich der ganze Bürokram an. Ich ging schnell. Ein leichter Nieselregen fiel. Ich ging bis dorthin, wo der Weg hinauf zur Straße führte. Dann kehrte ich um. Der See sah grau und trostlos aus, darüber waberte Nebel. Das andere Ufer war nur schemenhaft zu erkennen. Meine Jacke war schon ganz nass. Auch die Schuhe begannen sich zu verfärben. Weiterlesen
Allgemein
Pariser Spaziergänge
Dieses Mal wohnten wir an der Rue de Vaugirard. Die Straße beginnt am Boulevard St. Michel, schneidet der Rue de Médicis den Weg ab, führt am Jardin du Luxembourg entlang und in einer langen Geraden hinauf zum Boulevard de Pasteur.
Für den Morgenkaffee gingen wir ins „Le Petit Suisse“, ein kleines Bistro an der Place Paul Claudel, wo, so schien es wenigstens, vor allem Leute aus dem Quartier ihren Kaffee tranken. Sie grüßten sich und schwatzten zusammen. Wir setzten uns draußen auf die Terrasse. Die Luft war kühl, der Himmel blau. Wir fühlten uns selber wie Pariser. Weiterlesen
Der Leuchtturm
Olhaõ liegt ungefähr dreißig Kilometer westlich der Mündung des Guadinanas, dem Fluss, der im Süden Portugal von Spanien trennt. Eine weite, grau schimmernde Lagune schirmt das Städtchen gegen das offene Meer ab. Weit draußen im Haff steht der Leuchtturm. Am Rand des Städtchens gab es eine Fischfabrik. Manchmal war der Gestank so penetrant, dass es einem übel davon wurde.
Aufgrund einer Postkarte, die ich in einem Souvenirladen in Lissabon fand, stellte ich mir Olhaõ als maurisches Städtchen vor, leuchtend weiß, verschachtelt und verwinkelt, mit würfelförmigen Bauten, geheimnisvollen Treppen, Innenhöfen, Dachterrassen und runden Kaminen, die Minaretten gleichen.
Zu meiner Enttäuschung sah Olhaõ nicht besonders maurisch aus. Weiterlesen
Ein Kauz im Pariser Wandschrank
Der französische Schriftsteller Paul Léautaud, am 18. Januar 1872 in Paris geboren, war ein Sonderling erster Güte, unangepasst bis zur Unerträglichkeit, ein Lästermaul, Menschenfeind, Frauenverächter – Tierliebhaber. Weiterlesen
Vorüberziehende Wolken
Von Mai bis August arbeitete ich auf dem Gasleitungsbau. Oberhalb von Wolhusen, an der Straße nach Ruswil, wurde mitten in der ländlichen Hügelwelt eine Verteilstation für russisches Erdgas gebaut. Die Gasstation bestand aus kugelförmigen Kesseln, Pumpen und einem komplizierten System von dicken Stahlrohren. Der Ingenieur und die Facharbeiter waren Italiener, erfahrene Leute, die im Orient und in Nordafrika auf dem Ölleitungsbau tätig gewesen waren. Ein paar Schweizer hatte man als Hilfskräfte eingestellt. Weiterlesen
Balzac beim Yoga
Während einer Yoga-Woche im buddhistischen Zentrum Felsentor auf der Rigi, las ich Verlorene Illusionen von Honoré de Balzac.
Das war ein hübscher Kontrast. Ein idealer Ausgleich! Da der Yogalehrer, der das Ego mit all seinen Affekten (Habgier, Stolz, Missgunst, Verblendung) verurteilte, weil es dem Streben nach Höherem im Weg stünde, dort die Figuren von Balzac, die nur Geld, Luxus und gesellschaftlichen Erfolg im Kopf haben. Weiterlesen
Genealogie
Die Liebe zu den Büchern habe ich von meiner Mutter. Sie war eine leidenschaftliche Leserin. Mit zwanzig las sie den ganzen Shakespeare. Bei uns zu Hause gab es ein Regal voller Bücher, darunter etliche Bände von Jeremias Gotthelf. Sie haben mich nie interessiert. Was gingen mich die Emmentaler Bauern an? Ich wollte in die Welt. Die großen Städte waren für mich die Welt. Weiterlesen
Reise ohne Wiederkehr
Nach vielen Jahren lese ich wieder einmal Das Totenschiff, eines der ersten Bücher, das ich in meiner Buchhändlerlehre gekauft hatte. B. Travens erster in Buchform veröffentlichter Roman, 1926 erschienen. Darin ist ein neuer, damals unerhörter Ton zu vernehmen. Der Ton eines Rebellen, der sich längstens keine Illusionen mehr macht: rau, ruppig, träfe, von beißender Ironie und schroffer Sozialkritik, in einem von Amerikanismen durchsetzten Deutsch. Carl von Ossietzky, Bertold Brecht und Kurt Tucholsky waren begeistert.
Trotz den trostlosen Zuständen, die das Buch schildert, strömt es Vitalität und Überlebenswillen aus, einen Humor, den nur jene kennen, die nichts zu verlieren haben.
Gammler-Lokale
Hubert Fichte hatte seine Palette, ich mein Café Rio. Beides Gammler-Lokale. Die Gammler sind längstens aus dem gesellschaftlichen Bild verschwunden. Einst erregten sie mit ihren Jeans, Parkas, ausgeleierten Pullovern und langen Haaren den Zorn der fleißig arbeitenden und ordentlich gekleideten Bürger. Weiterlesen
Lebensverströmer
Eines Nachmittags saß ich im Sihlfeldfriedhof auf einer Bank und las etwas von Friedrich Glauser, diesem liebenswürdigen Schlawiner, der, kaum zwanzigjährig, in Zürich in die Dada-Szene und an die Drogen geriet. Die Kurve in ein bürgerliches Dasein hat er nie geschafft. Er bewegte sich auf brüchigem Eis durchs Leben: Vormundschaft, Einsitzen in Gefängnissen und Irrenanstalten wegen Drogenkonsum, Rezeptfälschungen, Diebstahl und Einbrüchen, Fremdenlegion, billige Jobs als Küchengehilfe, Gruben- und Gartenarbeiter. Glauser war ein Verschwender und Lebensverströmer, der einen luftigen, federleichten, dem Ernst des Lebens abträglichen Erzählstil pflegte und dabei einen scharfen Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Zustände von damals hatte. Sanfte Ironie, schalkhafter Witz und spitzbubenhafte Komik verbinden sich mit einer unglaublich poetischen Präzision. Seine Anmut und befreiende Leichtigkeit erinnert an die Beatles. Weiterlesen
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