Die Späherin

Kurz vor Weihnachten 2022 ist sie gestorben.
Auf Fotos sieht Marie-Luise Scherer mit ihrem strähnigen Haar und der Zigarette zwischen den roten Lippen wie eine Femme Fatale aus. Sie war eine großartige Schriftstellerin. Was sie schrieb, ist gutsitzendes, elegantes Schuhwerk, rahmengenäht selbstverständlich. Für den feinfühligen literarischen Geschmack wohl zu hart, zu sehr an der Realität, sofern es das überhaupt gibt.
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Eine Operettensängerin in Tibet

„Weggehen oder zugrunde gehen“, war das Motto einer der abenteuerlichsten und mutigsten Frauen des 20. Jahrhunderts.

Alexandra David-Néel war Reisende, Forscherin, Orientalistin, Schriftstellerin und eine der ersten weißen Frau, die vom 13. Dalai Lama empfangen wurde. In den nepalischen Wäldern blickte sie einem Tiger direkt ins Auge und in Benares meditierte sie im Gazellen Hain, an dem Ort also, wo Buddha zum ersten Mal seine Lehre verkündet hatte. Als ihr größtes Abenteuer bezeichnete sie ihre heimliche Wanderung nach Lhasa, damals für Fremde eine verbotene Stadt. Alle Europäer vor ihr waren gescheitert bei dem Vorhaben, in die Stadt des Dalai Lama zu kommen. Sogar Sven Hedin wurde im Westen Tibets abgefangen und zurückgewiesen. Der Bericht Voyage d’une Parisienne à Lhassa ist wohl ihr bekanntestes Buch. Auf Deutsch hat es den blöden Titel Mein Weg durch Himmel und Hölle. Weiterlesen

Jet Set Nomade

Als Bruce Chatwin berühmt wurde, fragte man Elizabeth, seine Frau, nach seinen typischsten häuslichen Verhaltensmustern. Sie antwortete, die ständige Abwesenheit sei wohl das Typischste an ihm.
Er galt als der reisende Schriftsteller schlechthin. Er muss ein begnadeter Erzähler gewesen sein, der über ein enzyklopädisches Wissen verfügte, frei erfinden und improvisieren und bis zum Umfallen reden konnte.
Dieser ruhelose, gut aussehende, eitle, energiegeladene, wortgewandte und ewig jung gebliebene Bursche schien durch die Welt zu schwirren; ohne feste Bindung, ohne Wurzeln, fasziniert von allem Fremdartigen, ein Irrlicht, das sich bald da, bald dort zeigte. Weiterlesen

Nächtliche Wanderung

„Ich bin ein Fußgänger, und weiter nichts“, schreibt Arthur Rimbaud in einem seiner Briefe.
Ich habe mich schon oft gefragt, ob dieser Satz nicht bestens zu Robert Walser passen würde, war er nicht ein Fußgänger ohnegleichen, einer, der sich aufs Wandern kapriziert hatte und in seinen Büchern oft auf Spaziergänge, Fußmärsche, auf das Gehen überhaupt zu sprechen kommt. Im Stück Der Ausflug wird das Gehen als „Königslust“ bezeichnet, in Poetenleben ist es „eine helle, lichtblaue Freude“ und an anderer Stelle schreibt er: „Ich wanderte und wandere“. Carl Seelig gegenüber, seinem späteren Vormund und Förderer seiner Werke, bekennt der fast Sechzigjährige, dass er immer eine Bewunderung für die Schönheit der Landstraßen gehabt habe. Er war einer, der sich unterwegs einiges dachte und zurechtlegte, das später, wenn er wieder in seinem spärlich möblierten Zimmer saß, Eingang fand in sein dichterisches Schaffen. Weiterlesen

Ein bibliomanischer Vagabund

Ein fiebriger, unruhiger Geist – dieser Blaise Cendrars. Abenteurer, Weltreisender, Vagabund. Er war stets auf zwei Kontinenten unterwegs, auf allen Meeren und in allen Häfen der Welt. Du Monde entier heißt einer seiner Gedichtbände: Die ganze Welt! Er probierte vieles aus, zahlreiche Berufe, ohne dass sie ihn wirklich ausgefüllt hätten. Immer waren da ein Gefühl des Mangels und die Angst, woanders etwas Wichtigeres zu verpassen. Sein Reisefieber bezeichnete er als unheilbar.
Die ungewöhnliche, zerklüftete Physiognomie seines Gesichts ist wie eine Land- oder Reisekarte, eine Relief fremder und vertrauter Landschaften zugleich; es manifestiert Ruhelosigkeit und Konzentration in einem. Weiterlesen

Randzonen des Vulkans

Ich hielt mich für ein paar Tage in Lissabon auf, bevor ich in den Norden Portugals reiste.
Am Rande des Bairo Alto, hoch über der Avenida da Liberdade, hatte ich eine Jazz-Bar entdeckt, in der Live-Musik gespielt wurde. Ich lernte da einen Typen kennen, der Wolf Wondratschek aufs Haar glich. Er sagte, er heiße Helmut Krause. Er sei Journalist und arbeite für LUI. Genau wie Wondratschek auch. Vielleicht mussten die Journis, die für LUI arbeiteten, alle wie Wondratschek aussehen, dachte ich. Wir sind dann auf Wondratschek zu reden gekommen. Er kannte ihn gut, sie wohnten beide in München. Im Schwabing-Viertel. Er bewunderte ihn sehr. Ich kannte nur die Reportagen-Sammlung Menschen, Orte, Fäuste. Helmut fand die Story über Max Schelling übertrieben, Schelling sei nie der geniale Boxer gewesen, als den ihn Wondratschek dargestellt habe. Weiterlesen

Die alten Pfade oder der letzte Beatnik

An der Kleinverlagsmesse in Zürich hatte ich mir ein paar Nummern von NARACHAN gekauft, eine Zeitschrift für Ethnopoesie, die Thomas Kaiser herausgab. „Narachan heißt Schlangenplatz, ein keltisches Wort“, stand im Editorial. Der Untertitel der Zeitschrift lautete: „Lieder, Notierungen, Texte.“
Darin gab es auch ein Interview, das Peter Barry Chowka 1977 mit Gary Snyder geführt hatte.
Die Intensität des Gesprächs hat mich sofort für Snyder eingenommen. Ich erhielt ein starkes Bild von diesem Dichter, Zen-Buddhisten, Wanderer, Ethnologen, Kenner indianischer Gesänge und Mythen,  Umweltaktivisten, und schamanischen Intellektuellen. Weiterlesen

Porträt eines Vergessenen

Wer kennt ihn noch, den Schriftsteller Walter Kolbenhoff (1908-1993)? Seine Bücher sind vergessen. Was schade ist! Die Romane Von unserem Fleisch und Blut und Heimkehr in die Fremde sind bemerkenswerte Zeugnisse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wenig gealtert, immer noch gut lesbar. Trümmerliteratur. Deutschland lag in Trümmern. Die Städte zerbombt. Die Misere groß.
Auch in der 1984 erschienenen Autobiographie Schellingstraße 48. Erfahrungen mit Deutschland  beschäftigt er sich vornehmlich mit den Nachkriegsjahren. In den 1980ern erlebte er eine kurze Renaissance, seine früheren Bücher wurden neu aufgelegt. Weiterlesen

Beim alten Riesen

Wenn man heutzutage etwas über die Artenvielfalt erfahren will, geht man am besten in einen botanischen Garten. Genau das tat ich eines Nachmittags, als ich in Berlin war.  Mit der Vielzahl der Pflanzen stellt sich auch die der Tiere ein. Das Gezirp und Gezwitscher der Vögel war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit unglaublich. Der Lärm der Grillen. Aber da mischten sich auch Verkehrslärm mit ein, Presslufthämmer, Bagger, Lastwagen, Autos und am Himmel die Flugzeuge. Weiterlesen