Die Lebensgeschichte eines Visionärs

Wenn ich als Knabe krank war, las ich nichts lieber als Bücher über die Indianer. Ich wäre gerne ein Indianerjunge gewesen, der auf den Rücken seines Ponys springt und in die Prärie hinaus galoppiert oder mit seinen Freunden in den Flüssen um die Wette schwimmt. Zwischen Fieberanfällen und Schlaf verfolgte ich die Lebensgeschichten der großen Häuptlinge, ihre Namen haben sich tief in meinem Inneren abgelagert: Tashunka Witko, Tatanka Yotanka, Mapya Luta, Gokhlayeh.
Als ich etwas älter war, schenkte mir die Mutter Ich rufe mein Volk von Schwarzer Hirsch. Leben, Visionen und Vermächtnis des letzten großen Sehers der Oglala-Lakota. Im Englischen heisst es schlicht Black Elk speaks. Jetzt lese ich das Buch wieder. Die Lektüre ruft Bilder in mir wach, grossartige und aufwühlende Bilder. Dichtung und Wahrheit sind in diesem Buch auf eine einzigartige Weise verwoben. Dieser Jäger, Krieger und Heiler war ein großartiger Poet. Das Tipi – Symbol einer verschwundenen Kultur, für mich eine der schönsten überhaupt. Ein naiver Romantizismus? Vielleicht.  Weiterlesen

Der Mann mit den Sohlen aus Wind

1873 lässt ein neunzehnjähriger Gymnasiast seine Jugendgedichte unter dem merkwürdigen Titel Une Saison en Enfer drucken. Er verschickt ein paar Exemplare an ehemalige Schulkameraden und an Freunde in Paris. Der Rest der Auflage bleibt bei der Druckerei liegen. Er scheint augenblicklich das Interesse an der Sache verloren zu haben.

Warum hörte Arthur Rimbaud in einem Alter auf zu schreiben, in dem andere die ersten zaghaften Gedanken an eine Laufbahn als Schriftsteller wagen, um fortan ein Leben als Vagabund und Händler zu bestreiten? Weiterlesen

Die bisexuelle Weltkarte

„Aber ich wollte nicht nur weg.
Ich wollte auch wohin.
Ich wollte in die Welt.
Europa war mir kaum groß genug.
Der Äquator war meine Welt.
Ich war den Afrikanern verwandt, den Lappen, den Mizteken.
Lockstedt war nicht meine Welt.
Ich komme von weither.“

Diese Zeilen aus Hotel Garni (dem ersten Band von Die Geschichte der Empfindlichkeit) umreißen ein ganzes Leben, das Leben des Reisenden und Ethnopoeten Hubert Fichte. Er war „ein Entdeckungsfahrer ins Gebiet des Aberglaubens und der Geisterbeschwörung“ und bewegte sich auf der Grenzlinie zwischen magischer Realität und Tourismus. Er ging Mystifikationen und Riten nach, dabei hielt er sich nicht an die gängigen wissenschaftlichen Methoden, sondern entwickelte eigene Vorgehensweisen. Weiterlesen

Die Dakar-Djibouti-Expedition

Am 19. Mai 1931 brach der französische Ethnologe Marcel Griaule zu seiner zweiten Forschungsreise nach Afrika auf, die quer durch den schwarzen Kontinent führte und fast zwei Jahre dauerte. Zum fünfköpfigen Forscherteam gehörte auch sein Freund Michel Leiris, Surrealist und Selbstzweifler. Griaule hatte ihn als Sekretär und Archivar engagiert. Weiterlesen

Die wilden Jahre in der Sahara

Man muss es sich klar vor Augen führen: Um das Jahr 1900 reist eine junge, hübsche Frau in arabischer Männerkleidung durch die algerische Wüste. Sie reist in Gesellschaft von Soldaten, Händlern und Nomaden durch Gebiete, in denen die Frau nichts zählt. Diese rauen Männer akzeptieren sie als ihresgleichen. Sie ist ungebunden und unerschrocken und will die ganze Freiheit. Zugleich verkörpert sie etwas Zielloses, Verlorenes, Gefährdetes. Weiterlesen

Einen Traum zerstören

Der Tag kroch aus dem nahen Wald hervor und legte sich über die Lichtung an der schmalen Bucht des Torneträsk-Sees. Der erste Schnee war gefallen. Am Rande der Lichtung, nahe am grauen Wasser, stand eine kleine Baracke, die einst von Erzsuchern gebaut worden war. Eine Rauchfahne krümmte sich über dem Kamin im arktischen Wind.
Das Feuer im Ofen loderte, knackte und redete vor sich hin. Im Kessel begann das Wasser für den Kaffee zu sieden. Frau Demant ging in der Hütte hin und her, summte vor sich hin, deckte den Tisch für das Frühstück und warf manchmal einen Blick zu Turi hinüber. Der groß gewachsene Same stand leicht gebeugt vor einem der kleinen Fenster und trommelte mit den Fingern einen langsamen Rhythmus auf die schmutzige Scheibe. Sein blaues Hemd war mit roten und gelben Borten verziert. Unter der blauen Mütze, die er am Morgen aufsetzte, sobald er aufgestanden war, schaute das angegraute und schüttere Haar hervor. Weiterlesen

Ein Haustürprediger

Es war ein heißer, sonniger Tag. Ich saß auf der Steintreppe. Der alte Birnbaum auf dem Vorplatz spendete Schatten. Ich saß immer auf der Steintreppe, wenn das Wetter es erlaubte. Die Treppe gehörte zu einem Bauernhaus. Es war baufällig, schief und ausgedörrt und stand oberhalb einer stark befahrenen Landstraße, versteckt hinter Bäumen und hohen Büschen. Ein befreundetes Paar hatte mich gefragt, ob ich zu Haus, Garten und Katze schauen würde. Sie waren für ein paar Wochen in die Dordogne gereist. Oberhalb des Gartens fingen die Felder mit Mais und Getreide an. Neben mir auf der Treppe lag ein Stapel Bücher. Aber ich mochte nicht lesen. Ich beobachtete das Ehepaar, das auf der anderen Seite des Feldweges einen Schrebergarten besaß. Die zwei alten Menschen bewegten sich ganz langsam unter dem grünen Kunststoffdach, das an der Nordseite des Gartenhauses befestigt war. Am Morgen werkelten sie im Garten, aber am Nachmittag ging nichts mehr.

Ein Mann und ein Knabe kamen den Weg zum Haus herauf. Der Mann hatte wie ein Geschäftsmann eine schwarze Ledermappe unter dem Arm. Der Knabe war ungefähr zwölf Jahre alt. Weiterlesen

Ein Kind des Rock n‘ Rolls

Ich war fünfzehnjährig, als ich das erste Mal mit der Weltliteratur in Berührung kam. Ich liebte den Rock n‘ Roll, Kultur ging mich nichts an. Rock n‘ Roll war ein gewaltiges und aufsässiges YEAH auf das Leben abseits des Spießermiefs der Alten.

Born to be wild hieß der bekannteste Song der amerikanischen Rockband Steppenwolf. Er ist der Haupttreiber im Roadmovie Easy Rider. Kein anderer Song drückt den Rausch der Straße besser aus: Den Motor aufheulen lassen und hinaus auf den Highway wie Blitz, Donner und Wind. Wir werden ewig jung bleiben, denn wir sind geboren, um wild zu sein.
In einer Musikzeitschrift las ich, dass die Band ihren Namen vom Titel eines Romans von Hermann Hesse hatte. Ich war erstaunt und fragte mich, was Rock n‘ Roll mit Literatur zu tun hat.

Dann erfuhr ich, dass Der Steppenwolf  das Kultbuch der amerikanischen Hippies war. Der LSD-Apostel Timothy Leary hatte es zu seiner Bibel erklärt. 1969 wurden in den USA vom Taschenbuch monatlich über 360‘000 Stück verkauft. Weiterlesen

Ein magischer Ort

An einem stürmischen Märzmorgen 1929 geht ein neunzehnjähriger Junge in Hoboken an Bord des Linienschiffes Rijndam, das seine letzte Transatlantikfahrt macht. Die Eltern wissen nichts davon. Zu einem Reisepass ist er durch den Meineid einer Bekannten der Familie gekommen.
Er hat fünfundzwanzig Dollar in der Tasche und drei Empfehlungsschreiben, die ihn bei hilfsbereiten Damen einführen sollen. In Paris vermittelt ihm eine der drei Damen Arbeit als Telefonist beim Paris Herald, eine ermüdende Sache, es wird perfektes Französisch erwartet, eine zweite bietet ihm Essen und Unterkunft an. Als er eine beträchtliche Summe Geld erhält, gibt er seinen Job beim Paris Herald auf und fährt zum Wandern ins Elsass und in den Schwarzwald. Mit einem amerikanischen Couturier reist er nach St. Moritz, Italien, Nizza und Deauville. Nach fünf Monaten kehrt er nach New York zurück. Weiterlesen