Einen Traum zerstören

Der Tag kroch aus dem nahen Wald hervor und legte sich über die Lichtung an der schmalen Bucht des Torneträsk-Sees. Der erste Schnee war gefallen. Am Rande der Lichtung, nahe am grauen Wasser, stand eine kleine Baracke, die einst von Erzsuchern gebaut worden war. Eine Rauchfahne krümmte sich über dem Kamin im arktischen Wind.
Das Feuer im Ofen loderte, knackte und redete vor sich hin. Im Kessel begann das Wasser für den Kaffee zu sieden. Frau Demant ging in der Hütte hin und her, summte vor sich hin, deckte den Tisch für das Frühstück und warf manchmal einen Blick zu Turi hinüber. Der groß gewachsene Same stand leicht gebeugt vor einem der kleinen Fenster und trommelte mit den Fingern einen langsamen Rhythmus auf die schmutzige Scheibe. Sein blaues Hemd war mit roten und gelben Borten verziert. Unter der blauen Mütze, die er am Morgen aufsetzte, sobald er aufgestanden war, schaute das angegraute und schüttere Haar hervor.

Frau Demant hatte allen Grund vor sich hin zu summen. In den letzten Wochen waren sie mit der Arbeit gut vorangekommen. Das Manuskript wuchs täglich um ein paar Seiten. In den ersten Wochen war es schwierig gewesen mit Turi, die Schreibarbeit war ihm fremd, der Stift lag steif in seinen Händen, sein schöpferische Kraft versiegte meist schon nach ein paar Zeilen. Es gäbe nichts weiter mehr über das Thema zu sagen, an dem er gerade schrieb. Sein Selbstvertrauen schwand, Zweifel am Vorhaben kamen, er fühlte sich gänzlich unfähig zu schreiben.
In langen Gesprächen bemühte sie sich, die Zweifel zu zerstreuen, sein Selbstvertrauen zu stärken und ihn für die weitere Arbeit aufzumuntern. Mit geschickten Fragen verstand sie es, Turi zum Erzählen anzustacheln. Wenn er sprach, war er ein wunderbarer Erzähler, wenige verstanden es so wie er, über das Leben seines Volkes zu sprechen. Sobald es darum ging, das Erzählte aufzuschreiben, wurde seine Sprache hölzern und versiegte bald. In den düstersten Augenblicken, in seiner größten Niedergeschlagenheit, erinnerte sie ihn an seinen alten Wunsch, ein Buch zu schreiben, „worin alles von dem Leben und den Verhältnissen der Lappen aufgeschrieben wäre, so dass man nicht zu fragen brauchte: wie sind die Verhältnisse der Lappen“. Sie erinnerte ihn daran, dass der Disponent des Bergwerkes von Kiruna, Hialmar Lundbohm, sehr enttäuscht wäre, wenn er, Turi, nun aufgeben würde. Lundbohm hatte sich anerboten, alles was die Veröffentlichung des Buches betraf, zu übernehmen, wenn es nur von Turis Hand fertig vorliege.
Aber es ist leichter zu träumen als zu handeln, dachte Frau Demant mit einem leichten Anflug von Bitterkeit.

Im Sommer 1904, auf ihrer Reise durch Lappland, hatte die junge Dänin den damals fünfzigjährigen Lappen Johan Turi in einem kleinen Kirchspiel kennengelernt. Sie fassten schnell Vertrauen zueinander und sprachen über ihre heimlichen Wünsche. Sie hätte gerne ein Jahr lang unter den Lappen gelebt, um deren Sprache, Sitten und Gebräuche kennenzulernen, und er hatte schon lange den Wunsch, einmal ein Buch über sein Volk zu schreiben. Sie versprachen sich, einander zu helfen, um ihre Wünsche zu verwirklichen. Drei Jahre später reiste Emilie Demant erneut in den hohen Norden, um mit einer Gruppe von Lappen umherzuziehen, die mit ihren Rentieren von Rastplatz zu Rastplatz wanderten. Turi hatte den Kontakt für sie hergestellt. Im Sommer darauf mieteten sie die Hütte am Tornätresk-See. Damit Turi ungestört schreiben konnte, erledigte Frau Demant den einfachen Haushalt in der Baracke. Daneben blieb genügend Zeit für lange Unterhaltungen.

‚Jetzt aufbrechen‘, dachte Turi, hielt einen Augenblick mit Trommeln inne, kratzte sich in seinem spärlichen Bart und lauschte auf die Geräusche und das Gesumme der beschäftigten Ethnologin hinter ihm. Dann wandte er sich wieder seinen eigenen Gedanken zu. ‚Nun die Schneeschuhe und die Fanggeräte überprüfen, Gewehr und Proviantsack schultern und meinen Weg gehen, den Weg gehen, den ich im Winter immer gegangen bin, durch lichte Kiefer- und Birkenwälder, den Spuren der Tiere nach im neuen Schnee. Auf meinen Ski dahingleiten und vergessen, den Spuren der Wölfe folgen, den Polarlichtern und den Sternen, eingemummt in meinen dicken Pelz und warme Fäustel an den Händen. Hören, wie das Eis singt und die Bäume stöhnen in der Kälte. Was vertue ich meine Zeit hier an diesem schlecht gehobelten Tisch, wie schwerfällig meine Gedanken sind in dieser engen Hütte, ich brauche Raum, den unermesslichen Raum der Tundra, sonst ersticke ich. Wie ungenau klingt mein Geschreibsel, sogar Frau Demant ist oft nicht zufrieden damit. Ich merke es wohl, auch wenn sie nichts sagt. Ich muss weg hier, hinaus in die Weite und die Einsamkeit, wo die Schneehühner schreien und das heisere Bellen der Füchse zu hören ist. Meine Aufgabe im Winter ist es, Fallen zu stellen und darauf zu achten, dass die hungrigen Wölfe nicht über die Rentiere herfallen. Meine Leute haben recht: Schreiben ist keine Arbeit für die Samen. Wie konnte ich bloß diesem Wahn verfallen. Wozu soll ich mein Leben erzählen und das meines Volkes? Wer wird sich schon dafür interessieren, außer Frau Demant und Herr Lundbohm? Niemand! Unser Los wird sich nicht verbessern. Die Übergriffe der weißen Siedler auf unser Weideland nicht aufhören, die Grenzen zwischen Finnland, Schweden und Norwegen, die unsere Wanderungen behindern, nicht aufgehoben. Nein. Mein Buch wird nichts verändern. Den Leuten in den Städten ist das Leben hier oben im kargen Norden mit seinen Entbehrungen und Härten fremd. Sie werden mit den Schultern zucken und schon wieder mitten im hektischen Treiben ihres Lebens sein. Frau Demant muss mich verstehen. Mein Leben lang bin ich Jäger und Hirte gewesen. Warum soll sich das ändern? Für ein Leben, das nur im Kopf gemacht wird, in einem schlechten Kopf dazu, vernebelt von der Wärme und dem Rauch in der Baracke. Wird sie es wirklich verstehen, wenn ich alles hinschmeiße und weglaufe? Sie muss einfach. Zwar wollte ich immer schon ein Buch schreiben, lernte als Erwachsener lesen und schreiben, meine Leute lachten mich aus, das ist etwas, was sonst nur die Kinder tun. Wie schön war es, in all den Jahren über die Tundra zu wandern und zu träumen, einmal ein Buch zu schreiben. Mit diesem Traum bin ich älter und älter geworden. Seit vielen Jahren ist der Traum da, ein treuer Gefährte auf meinen langen und einsamen Wanderungen. Jetzt werde ich ihm untreu, in dem ich ihn verwirkliche. Und Frau Demant hilft mir dabei. Jetzt, wo er wahr wird, will ich ihn aufgeben, nur weil die Wirklichkeit hart und mühsam ist und es nicht so locker vorwärts geht, wie ich es mir immer vorgestellt hatte‘.
„Essen“, rief Frau Demant.
Er zuckte zusammen. Der helle, vergnügte Klang in ihrer Stimme schnitt wie eine scharfe Klinge in seine Gedanken.

„Heh, was ist mit Ihnen los“, fragte Frau Demant und berührte sanft seine große, braune Hand, die auf dem Tisch lag.
Er schaute sie traurig und verwirrt an.
‚Das sind die Augen eines Tieres, das Mitleid erheischt‘, dachte Frau Demant.
„Es hat keinen Zweck. Ich möchte mit dem Schreiben aufhören und wieder auf die Jagd gehen. Jetzt, wo der erste Schnee gefallen ist. Das Buch wird nie zu etwas nütze sein. Die Situation der Samen wird sich nach dessen Erscheinen nicht ändern. Niemand wird sich dafür interessieren.“

„Bin ich niemand? Oder der Disponent?“ Die Augen der Ethnologin funkelten wild. Turis Bemerkung hatte ihre gute Laune schlagartig in Zorn verwandelt, ihre Stimme war kalt. Sie hatte gehofft, diese Art von Gesprächen gehöre der Vergangenheit an und jetzt lamentiert er wieder.

„Ist es wirklich gleichgültig, ob das Buch erscheint oder nicht? Genügt es nicht zu wissen, dass ein paar Freunde Freude daran haben werden? Wie können Sie jetzt schon wissen, ob das Buch auf Interesse stoßen wird oder nicht? Es kann ebenso gut ein Erfolg als auch ein Misserfolg werden. Das ist noch lange kein Grund zu jammern und die Sache an den Nagel zu hängen. Ich sehe auch nicht ein, weshalb das Buch die Verhältnisse der Samen schlagartig ändern sollte. Vielleicht wird es einigen Regierungsbeamten die Augen öffnen, vielleicht wird das erst in ein paar Jahren oder gar Jahrzehnten geschehen. Niemand kann das Schicksal eines Buches voraussagen. Genügt es nicht, wenn sie Ihren Wunsch mit Liebe und Aufrichtigkeit verwirklichen? Das Buch wird von einer seltenen Schönheit sein, es wird die raue und wilde Schönheit des Nordens verkörpern. Warum sollte es seine Kraft für soziale Veränderungen verbrauchen? Seine Substanz ist nicht die der Politik. Schaffen Sie ein Buch, das Ihnen auf vollkommene Weise entspricht, ein Buch das die Einmaligkeit Ihres Volkes darstellt, und Sie werden mehr erschaffen haben, als Sie sich im Augenblick vorstellen können. Einen Traum verwirklichen ist nun einmal etwas ganz anderes, als diesen Traum auf einsamen Wanderungen zu träumen. Träume verwirklichen heißt, sie zerstören, damit etwas Neues an ihrer Stelle kommt.“
Frau Demant war aufgebracht und erregt. Noch nie hatte sie so deutlich zu Turi gesprochen, von ihrer alten Sanftmut war nichts mehr zu finden. Sie trank einen heißen Schluck Kaffee und verbrannte sich Lippen und Zunge daran.

Das Zitat stammt aus dem Buch: Johan Turi, Erzählungen vom Leben der Lappen. Stuttgart 1982