Eine Operettensängerin in Tibet

„Weggehen oder zugrunde gehen“, war das Motto einer der abenteuerlichsten und mutigsten Frauen des 20. Jahrhunderts.

Alexandra David-Néel war Reisende, Forscherin, Orientalistin, Schriftstellerin und eine der ersten weißen Frau, die vom 13. Dalai Lama empfangen wurde. In den nepalischen Wäldern blickte sie einem Tiger direkt ins Auge und in Benares meditierte sie im Gazellen Hain, an dem Ort also, wo Buddha zum ersten Mal seine Lehre verkündet hatte. Als ihr größtes Abenteuer bezeichnete sie ihre heimliche Wanderung nach Lhasa, damals für Fremde eine verbotene Stadt. Alle Europäer vor ihr waren gescheitert bei dem Vorhaben, in die Stadt des Dalai Lama zu kommen. Sogar Sven Hedin wurde im Westen Tibets abgefangen und zurückgewiesen. Der Bericht Voyage d’une Parisienne à Lhassa ist wohl ihr bekanntestes Buch. Auf Deutsch hat es den blöden Titel Mein Weg durch Himmel und Hölle.

Alexandra David-Néel mit Aphur Jongden

Auf ihren Reisen suchte sie mehr als das nackte Abenteuer. Unterwegs sein, hieß für sie den bohrenden Fragen des Lebens nachgehen. War nicht für Buddha das Reisen eine Grundhaltung des Lebens, eine Reise von der Geburt zum Tod.
Der erste Versuch, aus der tibetischen Ostprovinz Amdo nach Lhasa zu kommen, scheiterte. Ihre Karawane, die aus zahlreichen Last- und Reitpferden und mehreren Kulis bestand, wurde an der tibetischen Grenze gestoppt und zurückgewiesen. Für den zweiten Versuch verkleidete sie sich als arme tibetische Pilgerin, die in Begleitung ihres Lama-Sohnes Jongden unterwegs war. Sie hatten nur das Allernötigste auf sich. Alexandra ist nun fünfundfünfzig Jahre alt. Vier Monate dauerte die strapaziöse Wanderung durch abgelegene Täler und über verschneite Winterpässe. Sie waren krank und bis auf die Knochen abgemagert, als sie in Lhasa ankamen. Sie brauchten mehrere Wochen, um sich davon zu erholen.

Potala in Lhasa
Potala-Palast in Lhasa

Digne-les-Bains liegt im Schnittpunkt dreier Täler, die sich von der Haute-Provence nach Süden erstrecken, der Fluss Bléone macht hier einen scharfen Knick nach Westen.
An der Straße nach Nizza steht in einem kleinen Park ein doppelstöckiges Haus. Turm und Nebengebäude mit den roten Fensterläden und Firstbalken erinnern an ein tibetisches Gebäude.
Alexandra David-Néel hatte das Anwesen 1928 gekauft und es zu „Samten Dzong“ („Festung der Meditation“) umgebaut.
Als sie 1968 hundert Jahre alt wurde, ließ sie ihren Reisepass verlängern, in der Absicht, in ihrer „Ente“ über Warschau, Moskau und durch Sibirien nach Wladiwostok und China zu reisen. Vor lauter Rheuma kam sie kaum mehr die Treppe hoch. Für die Reise, die sie am 8.9.1969 antrat, benötigte sie den Pass nicht mehr.

Ich betrat die Eingangshalle, in der gestapelte Koffer und Kisten von ihren Reiseabenteuern durch Asien erzählen. Sechsundzwanzig riesige Kisten hatte sie bei sich, als sie 1925 nach Europa zurückkehrte: Dinge, die sie auf den langen Wanderungen durch Indien, China und Tibet zusammengehamstert hatte; oft auf eine unsaubere Art.
In den Vitrinen sind tantrische Gegenstände ausgestellt wie eine Gebetskette aus menschlichen Knochenplättchen, eine Trinkschale aus einer menschlichen Schädeldecke, Knochentrompeten, Zauberdolche, Opferschalen, Glocken, Fingerringe, die einst hohen Lamas gehört hatten. Daneben Kompass, Taschenuhr mit fein ziseliertem Messinggehäuse, Schneebrille, Teekessel, hölzerne Teeschalen, eine Tasche aus Yakleder, eine kleine Pistole, wie sie Frauen damals in ihrer Handtasche hatten, farbige tibetische Stiefel, die sie auf ihrer heimlichen Fußwanderung nach Lhasa trug Der Badezuber aus Zinn steht da, den sie überall mit sich herumschleppte, bzw. schleppen ließ. Sogar im Himalaja auf einer Höhe von fast viertausend Metern, wo sie als Einsiedlerin in einer Höhle lebte, verzichtete sie nicht auf ihr morgendliches Bad.

An den Wänden hängen Fotos. Die meisten hat Alexandra David-Néel selber gemacht. Ihre Zeiss-Ikon-Kamera ist in einem Schaukasten ausgestellt. Daneben eine Holzboxe mit den Utensilien, mit denen sie unterwegs die Filme selber entwickelt hatte.
Auf einem Foto sitzt sie in einer schweren Robe vor dem Eingang ihrer Höhle im Himalaja. In Sikkim hatte sie den Abt des Klosters von Lachen kennen gelernt. Nach einer Reihe eindringlicher Fragen war er überzeugt, dass Alexandra David-Néel „das höchste Licht erblickt“ hatte und nannte sie „Leuchte der Weisheit“. Sie folgte ihm ins Gebirge, wo sie zwanzig Monate lang in einer benachbarten Höhle lebte und sich von Yakbutter, Gerstenmehl und Tee ernährte. Der Lama war ein Heiliger und Zauberer, er hatte durch Yoga übermenschliche Kräfte erlangt. Er unterrichtete Alexandra in Sanskrit, tibetischer Sprache und tantrischer Philosophie. Es gab wenig Brennmaterial da oben. Um sich vor Kälte zu schützen, übte sie sich in Tummo, einer Meditationstechnik, mit der im eigenen Körper eine so starke Hitze erzeugt wird, dass man darauf nasse Tücher trocknen kann. Als Abwechslung zum Höhlenalltag unternahm sie kleinere Wanderungen in das verbotene Tibet.
Als die Engländer, die die Schirmherrschaft über Tibet hatten, entdeckten, dass die exzentrische Pariserin ohne ihre Erlaubnis den Pantschen Lama in Shigatse besucht hatte, wiesen sie sie aus Indien aus.

Tempel in Shigatse
Tempel in Shigatse

Es gibt Fotos aus der Zeit, als sie noch als Operettensängerin durch die französischen Kolonien gereist war und Begeisterungsstürme in Städten wie Hanoi oder Algier ausgelöst hatte. Der Vater hatte sein Vermögen verspekuliert. Sie sah sich genötigt, ihr Sanskrit- und Orientalistik-Studium in Paris abzubrechen und für ihren Lebensunterhalt selber aufzukommen. Sie nahm Gesangs- und Schauspielunterricht und wurde Operettensängerin. Bereits als Kind hatte sie gerne gesungen und eifrig Klavier gespielt.

Bilder von ihrem Ehemann Philippe Néel, der im tunesischen Bône als Eisenbahningenieur tätig war, zeigen einen gut aussehenden Charmeur und Frauenhelden. Sie lernten sich in Tunis kennen, nachdem sie ihre Musikkarriere beendet und dort die Leitung des Kasinos übernommen hatte. Kurz nach der Hochzeit entdeckte sie, dass Philippe seinen früheren Geliebten fast wörtlich die gleichen Briefe wie ihr geschrieben hatte. Eine Entdeckung, die sie in ihrem Stolz tief verletzte.
Fortan führte sie ein unstetes Wanderleben durch Europa und setzte sich intensiv mit religiösen Fragen auseinander. Alexandra und Philippe werden sich nur noch ganz selten sehen. Auf ihre Art ist sie ihrem Mouchy bis zu seinem Tod im Jahr 1940 treu geblieben. Von all ihren Reisen schrieb sie ihm regelmäßig Briefe, berichtete ihm von ihren Abenteuern, Bekanntschaften und Vorhaben. Ungefähr dreitausend Briefe. Daraus destillierte Marie-Madelaine Peyronnet, die zehn Jahre lang Alexandras Sekretärin gewesen war, ein Reisetagebuch. Es ist neben dem Bericht über die heimliche Wanderung nach Lhasa wohl das eindrücklichste unter ihren Büchern. In den Briefen finden wir eine selbstgewisse und stolze Frau, voller Energie und schneidendem Geschäftssinn, aber auch eine, die schmeichelhaft zärtliche Worte für ihren daheim gebliebenen Ehemann fand. Im Abenteuer sah diese Vagabundin Buddhas ihren eigentlichen Daseinszweck, in der Unbeständigkeit des Lebens ein Universalgesetz des Seins. Weder Kriege, Hungersnöte, Seuchen noch marodierende Soldaten konnten sie von ihren Wanderungen abhalten. Sie war die wandelnde Unerschrockenheit, die nötigenfalls ihren Lady-Revolver aus der Tasche zog, um mit Banditen fertig zu werden.

Nach dem sie ihren Mann verlassen hatte, sah sie ihre Zukunft als Orientalistin, die Bücher schrieb und an der Sorbonne Vorlesungen hielt. Sie hatte ein wissenschaftliches, aber auch ein persönliches Interesse an fernöstlichen Religionen, ohne – wie andere Europäer – „im treibsandartigen religiösen Leben des Orients“ zu versinken. 1911 ging sie mit einem Stipendium des orientalischen Instituts von Paris nach Indien. Die Reise sollte anderthalb Jahre dauern. Sie wollte für eine Studie über die Vedenta-Philosophie Material sammeln, die den „akademischen Päpsten“ an der Sorbonne klar machte sollte, dass sie etwas von der Sache verstand und als Wissenschaftlerin ernst zu nehmen war.
Als sie in Nordindien mit dem tibetischen Buddhismus in Berührung kam, war die Vedanta augenblicklich vergessen, die Studie darüber hat sie nie geschrieben. Aus den geplanten anderthalb Jahren wurden vierzehn Jahre, im April 1925 kehrte sie nach Frankreich zurück.

Alexandra David-Néel wurde am 24. Oktober 1868 in Saint-Mandé bei Paris geboren, aufgewachsen ist sie mehrheitlich in Brüssel. Die Ehe der Eltern schien eine reine Zweckehe gewesen zu sein, lieblos, ohne Vertrauen. Louis David, Revolutionär und Journalist, war nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 mit seinem Freund und Kampfgefährten Victor Hugo nach Belgien ins Exil gegangen. Sein Lebensunterhalt verdiente er als Privatlehrer, er gab in Leuwen den Kindern des Bürgermeisters Borghmans Nachhilfestunden. 1854 heiratete er dessen Adoptivtochter Alexandrine, eine streng gläubige Katholikin. Sie verfügte dank einer Erbschaft über ein beträchtliches Vermögen, das sie bei Brüsseler Textilhändlern investiert hatte. Der Vater war 53 und die Mutter 36 Jahre alt, als Alexandra auf die Welt kam. Die Mutter wünschte sich nichts mehr als einen Sohn, zu ihrer lebenslangen Enttäuschung gebar sie eine Tochter.

Bereits als Kind, so behauptet die Schriftstellerin, habe sie am Gartenzaum gestanden und sehnsüchtig die Straße hinunter geblickt, „hinaus in eine unbekannte Ferne“. Sie wollte keine anderen Geschenke als Reisebeschreibungen und Landkarten, das größte Glück war eine Reise ins Ausland. Mit fünf Jahren lief sie eines Nachmittages fort. Die Familie machte einen Ausflug in den Bois-de-Vincennes, das Mädchen wollte herauszufinden, wie es auf der anderen Seite des Waldes aussah. Zehn Jahre später stahl sie sich während einem Ferienaufenthalt an der Nordsee davon, wanderte für einige Tage der Küste entlang und schiffte sich in Holland nach England ein. Als sie kein Geld mehr besaß, kehrte sie heim. Mit siebzehn machte sie ihren dritten Fluchtversuch. Sie fuhr mit dem Zug in die Schweiz und ging zu Fuß über den Gotthard nach Italien. Am Lago Maggiore sandte sie der Mutter eine Nachricht, damit man sie holen kam. 1891 reiste sie mit der Erbschaft, die ihr eine Tante vermacht hatte, nach Ceylon und Indien. Die Mutter hatte ihr geraten, das Geld gewinnbringend auf einer Bank anzulegen.

Sie zeigte früh ein leidenschaftliches Interesse an religiösen Fragen und las eifrig die Legenden der Heiligen. Mit vierzehn begann sie zu fasten und sich selber zu kasteien; in Anbetracht dieser Selbstzüchtigung waren die mütterlichen Strafen wirkungslos. Die Kleine war ganz auf sich selber gestellt, die Mutter versagte ihr jegliche emotionale Zuneigung. Fragen der Schicklichkeit und der Zukunft führten zu ständigen Konflikten zwischen ihnen.

1886 verlässt Alexandra die Klosterschule. Sie liest viel, isst wenig und trinkt nur Wasser. Sie achtet kaum auf ihr Äußeres, wochenlang läuft sie im gleichen Rock herum. Die Mutter stößt sich an diesem Verhalten, sie verfolgt hartnäckig das Ziel, aus Alexandra eine standesgemäße Frau zu machen, die sich in der gehobenen Brüsseler Gesellschaft zu bewegen weiß, eine tödlich langweilige Vorstellung für die Tochter.
Mit neunzehn Jahren reiste sie nach London, wo sie in die Gesellschaft der Höchsten Erkenntnis aufgenommen wird. Sie las unermüdlich und vervollkommnete ihr Englisch. In kürzester Zeit lernte sie Theosophie, Okkultismus, Esoterik und andere Lehren kennen, was jedoch in ihrem Geist keine Spuren hinterließ. In diesem nebulösen Kreis hörte sie das erste Mal die Worte, die ihr Leben prägen würden: Nirwana, Karma, Dharma. Es wurde ihr klar, wenn sie ein tieferes Verständnis von diesen Dingen haben wollte, musste sie sich mit Sanskrit beschäftigen. Sie reiste nach Paris, um bei den beiden Koryphäen Silvains Lévi und Edouard Foucaux zu studieren.

Sie freundete sich mit Elisée Reclus an, einem nahen Bekannten des Vaters. Der Schriftsteller, Geograph und Weggefährte des Anarchisten Micheal Bakunin war durch Nord- und Südamerika gereist. Alexandra las sein Werk La nouvelle Géographie universelle mit Begeisterung. Die Mutter durfte von dieser Freundschaft nichts wissen, für die war der Bekanntenkreis des Vaters die Ursache ihrer prekären finanziellen Lage. Elisée Reclus hat einen unglaublichen Einfluss auf die Entwicklung des jungen Mädchens, er beeindruckte sie mit seiner unnachgiebigen Forderung nach persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit und weckte bei ihr Reisefieber, Entdeckergeist, Fernweh. Unter seiner Anleitung schrieb sie 1888 ihren ersten Aufsatz, der zehn Jahre später unter dem Titel Pour la vie veröffentlicht wurde. Das anarchistische Pamphlet ist ein Rundumschlag gegen die etablierte Welt, gegen jede Form von Gehorsam, Zwang und Macht, gegen das Militär, die Religion und die Hochfinanz. Sie wollte das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten, ohne die Fesseln bürgerlicher Konventionen. Sie sah auch nicht ein, warum eine Frau finanziell von einem Mann abhängig und an Haus und Herd gefesselt sein sollte.

Nachdem die Engländer sie 1918 aus Sikkim ausgewiesen hatten, reiste sie über Korea und Japan nach Peking und quer durch das von Bürgerkrieg und Seuchen geplagte China nach Kumbum, dem größten Kloster in der tibetischen Ostprovinz Amdo. Bank- und Postverkehr waren unsicher. Sie blieb fast zwei Jahre in Kumbum, die einzige Frau unter ein paar tausend Mönchen. Als Philippe ihr mitteilte, er habe die Absicht, nach Amerika auszuwandern, verbot sie ihm nachdrücklich, ein solches Ansinnen in Tat umzusetzen. Sie brauchte ihn als Stütze, jemand, der ihr regelmäßig Geld überwies, dem sie schreiben und ihre Objekte schicken konnte.

Straßen-Szene in Lhasa

Auf einem Foto sieht man sie im hochgeschlossenen Kleid einer buddhistischen Nonne, mit einer Gebetskette aus geschnitzten Totenschädeln in der Hand und einer Lamamütze auf dem Kopf. Angespannter Blick, ein strenges, fast männlich wirkendes Gesicht. Man sieht sie auf keinem Foto lächeln, höchstens mal einen entspannten Zug um den Mund. Die Frau war von einer despotischen Stur- und Hartnäckigkeit, die nicht davor zurückschreckte, einem Träger eine Tracht Prügel zu verpassen, wenn sie es für angebracht hielt.
Hinter ihr steht Aphur Yongden in tibetischem Rock, Schaffellmütze, Brille, melancholischer Blick, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es ist wohl das bekannteste Foto des ungleichen Paares.

Als sie in Sikkim dem Lama in den Himalaja gefolgt war, hatte sie Aphur Yongden als Boy zu sechs Rupien Monatsgehalt engagiert. Aphur, 1899 in Mando, Sikkim geboren, galt als Reinkarnation des tibetischen Häuptlings Tekonkok, der ein Boddhisattva gewesen war. Yongdens Großvater, ein Lama-Zauberer, konnte es regnen oder hageln lassen. Alexandra fasste eine tiefe Zuneigung zu dem Jungen. Er hatte den gleichen Abenteuergeist wie sie, sein größter Wunsch war es, zu reisen. Als die englischen Kolonialbeamten sie des Landes verwiesen, blieb Yongden bei ihr. Vielleicht war ihm nicht klar, dass er seine Heimat nie wieder sehen würde. Ein treuer Gefährte, der ihr auf all den abenteuerlichen Wegen durch Japan, Korea, China und Tibet folgte, unbeirrt Hunger, Kälte, Strapazen und ihre Wutausbrüche hinnahm. Sie bezeichnete ihn als ihren Sohn. Nach Frankreich zurückgekehrt, adoptierte sie ihn, sehr zum Ärger von Philippe Néel. Yongden half ihr bei der Interpretation und Übersetzung tibetischer Texte, dank ihm gelang es Alexandra überhaupt nach Lhasa zu kommen.
Doch das Leben unter ihrer Fuchtel wurde immer mehr zu einer Qual.
Er starb 1955 an einer Alkoholvergiftung. Alexandra war niedergeschmettert! Was für eine Riesendummheit von ihm, vor ihr zu sterben. Monatelang konnte sie keine Zeile mehr schreiben. Yongden verkörperte für sie die langen Wanderungen und Reiseabenteuer, die sie in den vergangenen vierzig Jahren gemeinsam überstanden hatten. Nach ihrem Tod 1969, brachte Marie-Madelaine Peronnet die Asche der beiden nach Indien und streute sie auf dem Ganges aus.

Links von der Eingangshalle führt eine Tür zum Gebetsraum, der wie ein tibetischer Tempel eingerichtet ist: Tibetische Teppiche, rote, gelbe und orangefarbige Tücher, vergoldete Truhen, Buddha-Statuen, Meditationsgewänder, Thankarollen, Glocken, Opferschalen.

Eine schmale Holztreppe führt ins obere Stockwerk. Die Räume sind betont nüchtern eingerichtet. In jedem Raum sind die Wände in einer anderen Farbe gestrichen, je nach Funktion, den er hatte. Zwei Glasschränke hatten Alexandra David-Néel als Bücherregale gedient. Statt ihrer eigentlichen Bibliothek – ein paar tausend Bände über Religion, Tibet und Buddhismus, die nach ihrem Tod ans Musée des Hommes und ans Musée Grimand gingen – sind darin nun Ausgaben von ihren eigenen Büchern zu sehen.

Der Arbeitsraum mit dem abgenutzten hellblauen Arbeitstisch ist smaragdgrün gestrichen. Tischlampe, Gehstöcke, eine Remington, Notizbücher, Lupe, Federkiel, Bleistifte. Das Refugium einer Denkerin, für die religiöse Fragen die zentralen Themen ihres Lebens waren, ohne dass sie fromm gewesen wäre. In diesem Raum schrieb sie die Bücher über ihre Erfahrungen in Tibet, die zu Bestsellern wurden, Bücher, für die sie zuerst tausende von Kilometern zurücklegen musste.

Hochebene nördlich von Lhasa

Angrenzend ein kleiner Wohnraum und ein schmales Zimmer mit einem pritschenähnlichen Bett. Neben dem Bett steht ein Sessel, der mit einem Leintuch überzogen ist. In den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens hatte Alexandra David-Néel das Bett nicht mehr benutzt, sondern in diesem Sessel geschlafen, die Füße auf einem Schemel. Neben dem Sessel steht ein Tisch, auf den sie Bücher und Notizhefte legte, wenn sie schlafen ging, um weiter zu arbeiten, falls sie keinen Schlaf fand.

Ich trat ins Freie. Es war später Nachmittag. Lange Schatten zogen durch das Tal, die Bergspitzen waren noch von der Sonne beschienen. Während ich nach Digne zurückging, dachte ich über diese rätselhafte Frau nach, in deren Blut sich „der atavistische Trieb asiatischer Nomaden“ geregt hatte.