„Ich bin ein Fußgänger, und weiter nichts“, schreibt Arthur Rimbaud in einem seiner Briefe.
Ich habe mich schon oft gefragt, ob dieser Satz nicht bestens zu Robert Walser passen würde, war er nicht ein Fußgänger ohnegleichen, einer, der sich aufs Wandern kapriziert hatte und in seinen Büchern oft auf Spaziergänge, Fußmärsche, auf das Gehen überhaupt zu sprechen kommt. Im Stück Der Ausflug wird das Gehen als „Königslust“ bezeichnet, in Poetenleben ist es „eine helle, lichtblaue Freude“ und an anderer Stelle schreibt er: „Ich wanderte und wandere“. Carl Seelig gegenüber, seinem späteren Vormund und Förderer seiner Werke, bekennt der fast Sechzigjährige, dass er immer eine Bewunderung für die Schönheit der Landstraßen gehabt habe. Er war einer, der sich unterwegs einiges dachte und zurechtlegte, das später, wenn er wieder in seinem spärlich möblierten Zimmer saß, Eingang fand in sein dichterisches Schaffen.
Doch Rimbauds Satz sieht an Walser wie ein schlecht sitzender Anzug aus. In diesem Zusammenhang müsste man wohl eher von Schuhen reden, die nicht richtig passen. Denn jemand, der mit Vorliebe zu Fuß geht, muss ein gut sitzendes, bequemes Schuhwerk haben. Es darf auch einer gewissen Eleganz nicht entbehren, denn jemand, der so elegante, leichte, ihm stets ein wenig vorauseilende Sätze schreibt, braucht auch elegante Schuhe. In seinem Kleist-Essay ist Walser besorgt darüber, ob der junge Dichter „jeweilen seine auf mannigfaltige Art benützten Schuhe rechtzeitig bei einem Schuhmacher sohlen“ ließ.
Der erste Teil des Satzes passt perfekt zu Walser, vielleicht ist er etwas zu nüchtern, Walser mochte das schmückende Beiwort, die Adjektive, die wie Gebetsfähnchen im Wind flattern. Der angehängte Nebensatz mit seinem aufbrausenden Trotz ist nun ganz und gar nicht Walser, auch wenn man sich manchmal wünscht, er wäre etwas Trotziger, Aufsässiger gewesen. Wir finden weder in seinen Büchern noch bei seiner Person etwas Aufbegehrendes, Rebellisches. Er war bescheiden, unauffällig, zugleich war es für ihn ganz klar, dass dichterisches Schaffen nur in der Freiheit gelingen konnte. Er nahm sich diese Freiheit, auf ganz bescheidene Weise. Auch ging ihm eine gewisse Ironie nicht ab. Der Nachsatz müsste eher heißen: „und wohl weiter nichts“, oder: „und wohl nichts sonst“. In diesem „wohl“ wären Selbstbescheidung, Zurückhaltung und das Unangepasste, das er eben auch hatte, bestens verpackt und aufgehoben, aber auch der stille Zweifel, ob die Feststellung, dass er nichts weiter als ein Fußgänger sei, wirklich stimmt.
Im Gehen konnte Robert Walser so manches wiederkäuen, bis es dann in seine seidenweiche Bescheidenheit hineinpasste; manch nagendes Gefühl und die Angst vor dem menschlichen Dasein verloren im Rhythmus der vorwärtsschreitenden Beine ihre drückende Schwere. Im Unterwegssein fand er jeweils einen Ausweg, wenn er das Gefühl hatte, die Lebensschere drohe ein für alle Mal zu zuschnappen.
Poetenleben heißt Vagabundenleben! Bei keinem anderen Dichter scheint diese Gleichung so gut aufzugehen wie bei Robert Walser. Wobei der Weg die Unbekannte ist, die erwandert werden muss, um sie zu lösen.
In Fußwanderung schreibt er: „War er ein Dichter, der da von dem leuchtenden Tag in den sanften blassen Abend hineinlief? Wie? Oder war es ein Vagabund? Oder beides? Gleichviel, gleichviel: Glücklich war er und bestürmt von beunruhigendem Sehnen.“
In Der Greifensee, seinem ersten veröffentlichten Prosastück, das am 2. Juli 1899 im Berner Sonntagsblatt des Bundes erschien, wird von einer Wanderung erzählt, die der einundzwanzigjährige Autor von der Stadt Zürich hinaus zum Greifensee machte. „Denken und Gehen, Sinnen und Schreiben, Dichten und Laufen waren verwandt miteinander“, stellt der Autor fest. Der Gang der Worte passt sich dem Rhythmus der Füße an, sie bilden einen lockeren und geschmeidigen Gleichklang. Vielleicht ist es umgekehrt: das Gehen erzeugt die Worte, diese wunderbaren walserschen Satzkaskaden, die wie Landstraßen oder Bäche durch seine Texte stromern. Und während die Worte ganz in die Bewegung des Gehenden zu schlüpfen scheinen, nehmen sie die durchwanderte Landschaft mit. „Indem ich so marschierte, kam es mir vor, als bewege sich die ganze runde Welt leicht mit mir fort. Alles schien sie mit dem Wanderer zu wandern: Wiesen, Felder, Wälder, Äcker, Berge und schließlich noch die Landstraße selber.“
Es ist kein Zufall, dass von den kürzeren Sachen Der Spaziergang wohl am bekanntesten ist. Typische Walserprosa. Einem wird die Enge des Zimmers zu viel, er macht sich auf den Weg, durch die Straßen der kleinen Stadt, in der er lebt, hinaus auf die Felder und in die Wälder. Es geschieht nicht viel in dieser Erzählung, auf einem Spaziergang passiert in der Regel nicht viel. Aber Walser ist ganz da, offen, nichts scheint ihm zu entgehen, weder auf den Straßen, noch in den leeren, weiten Feldern. Es ist ein mäandernder Strom von Sinneseindrücken, ironischen Bemerkungen, flott dahin marschierenden Gedanken, einem angenehmen Unernst. Es ist der Unernst, der einen packt, wenn man „auf die offene, helle und heitere Straße“ tritt. Überhaupt fehlt in seinen Büchern das, was so typisch ist für die europäische Literatur: Tragik und Verhängnis. Nichts scheint Walser ferner zu liegen, als die unausweichlichen blutigen Schicksale. Für den französischen Dichter Henry Michaux ist die Überbetonung des Tragischen in der europäischen Literatur ein Mangel an Weisheit. Mit Robert Walser betrat nun einer die literarische Bühne, dessen Werke gerade die Weisheit ausdrücken, die Michaux anderswo vermisste.
Und was für ein eingefleischter Fußgänger dieser Walser war, zeigt sich wiederum in der Erzählung Der Spaziergang, als ihm ein Auto entgegenkam: „Ich begreife nicht und werde niemals begreifen, dass es ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Welt aufweist, vorüberzurasen, als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln. In der Tat liebe ich die Ruhe und alles Ruhende. Ich liebe Sparsamkeit und Mäßigkeit und bin allem Gehetz und Gehast im tiefsten Innern in Gottes Namen abhold. … Himmlisch schön und gut und uralt ist es ja, zu Fuß zu gehen. Anzunehmen ist, dass das Schuhwerk in Ordnung ist.“
Robert Walser war ein rüstiger Fußgänger, dem es nichts zu tun gab, von Stuttgart nach Zürich, von München nach Würzburg oder von Zürich nach Berlin zu wandern. In Berlin ging er viel durch die märkischen Wälder, Wanderungen, an die er nach seiner Rückkehr in die Schweiz noch oft denken musste. In Geschwister Tanner erzählt Simon, dass er eine Nacht lang ging, ohne lange Verschnaufpausen einlegen zu müssen.
In seiner Berner Zeit ist Walser einmal an einem Tag nach Genf gelaufen und am anderen wieder zurück. Ein anderes Mal brach er nachts um zwei nach Thun auf, wo er gegen sechs Uhr morgens ankam, mittags war er auf dem Niesen, abends wieder in Thun und um Mitternacht in Bern. Aber da war seine psychische Gesundheit bereits angeschlagen; chronische literarische Erfolglosigkeit und finanzielle Nöte nagten an ihm.
An seinem 60.Geburtstag, dem 15. April 1938, wanderte er mit Carl Seelig von Herisau nach Lichtensteig, dem dreißig Kilometer entfernten Hauptort des Toggenburgs, wo sie schon nach vier Stunden ankamen. Der sechzehn Jahre jüngere Journalist und Mäzen, der den Dichter am Wochenende oft aus seiner Herisauer Anstalt holte, hatte Mühe, das Tempo mitzuhalten, wenn sie ihre gemeinsamen Streifzüge durch die Ostschweiz machten.
Walser war nicht nur ein ausgezeichneter Fußgänger, sondern die Ruhelosigkeit in Person. Das Vagantenleben machte ihm sichtlich Spaß, ein Leben, in dem er sich nirgends festzusetzen brauchte. Ungebundenheit, häufiger Stellenwechsel, Wohnen in möblierten Mansarden prägten seinen Lebensstil. In den Zürcher Jahren (1897 – 1906) hatte er mindestens ein Dutzend Mal sein Zimmer gewechselt und wahrscheinlich nicht minder oft seine Arbeitsstellen. In dieser Zeit unternahm er auch zwei Reisen nach Berlin; hielt sich in München, Würzburg, Winterthur, Wädenswil, Solothurn und bei seiner Schwester Lisa in Täuffelen am Bielersee auf.
1913 kehrte er nach sieben Jahren aus Berlin zurück in die Schweiz, ließ sich in Biel nieder, wohnte in einem Dachzimmer des Hotels Kreuz, 1921 siedelte er nach Bern um, wo der häufige Zimmerwechsel wieder einsetzte: „Ich begnüge mich, innerhalb der Grenzen unserer Stadt zu nomadisieren, eine Wanderart, die mir überaus bekömmlich zu sein scheint.“
Ruhelose bleiben nicht an den Dingen kleben, sie haben keine Ziele, nach denen sich das Leben zu richten hat, der Verzicht fällt ihnen leicht, sie können über Dinge lachen, die den Sesshaften Kummer und Verdruss bereiten. Robert Walser hat sich nie breit gemacht im Leben, er blieb, was er war: Habenichts und Vagabund. Er kam mit wenig aus, und er machte sich nichts aus Ordnung, Bequemlichkeit, Sicherheit.
„Was schadet es zu wandern, auch wenn es regnet oder gar schneit, wenn man seine gesunden Glieder hat und sich weiter keine Sorgen macht“, fragt sich der junge Simon im Roman Geschwister Tanner und kommt zum Schluss, dass man sich in „der gedrückten Enge“ eines bürgerlichen Lebens nicht vorstellen kann, „wie köstlich das Laufen auf der Landstraße ist“ und wo einem „das Unendliche plötzlich am nächsten schien“.
Man warf Walser Mangel an Ehrgeiz, Festigkeit und Zielstrebigkeit vor, es fehle ihm an jenen Eigenschaften, die ein erfolgreiches bürgerliches Leben ausmachen. Aber sind das nicht gerade die Eigenschaften, mit denen wir geködert werden, um uns an die Dinge zu ketten, die es wahrscheinlich nicht wert sind, dass man daran haften bleibt. Zeigte er mit seinem umfangreichen literarischen Werk nicht, dass er ein großer Schaffender war, einer, der in zwei Monaten einen Roman schreiben konnte. Aber da sprudeln andere Quellen, fern von Pflicht und Ehrgeiz. Dergleichen sind nötig, wenn man sich mit Dingen beschäftigen muss, die einem nichts angehen oder langweilen und von denen man trotzdem nicht loszukommen glaubt.
Mit der Einlieferung in die psychiatrische Anstalt, zuerst in die Waldau bei Bern, dann in die von Herisau, ist es mit dem Vagantenleben vorbei. Die Schriftstellerei erlischt vollkommen. In der Anstalt in Herisau wollte man ihm ein separates Zimmer zum Schreiben einrichten, er lehnte entsetzt ab. Er schien sich in der Anstalt nicht unwohl gefühlt zu haben, aber Schreiben konnte man nur in der Freiheit! Galt für ihn nun auch, was er über den Romantiker Clemens Brentano geschrieben hat: „Reisen und Wanderungen, ehemals geheimnisvolle Freuden, waren ihm seltsam zuwider geworden; er fürchtete sich einen Schritt zu tun, und er erbebte wie vor etwas Ungeheuerlichem vor dem Wechsel des Aufenthaltsortes.“
So weigerte sich Walser seine Schwester Lisa zu besuchen, als sie todkrank im Spital in Bern lag, weil ihm der Weg dorthin zu weit und zu umständlich schien. Hingegen mochte er die Wanderungen mit Carl Seelig, die ab 1936 einsetzen. Meistens gehen sie zu Fuß. Carl Seelig hat darüber in seinem wunderbaren Buch Wanderungen mit Robert Walser berichtet. Unterwegs kommen sie oft auf literarische Dinge zu reden, es sind anregende Gespräche, die die zwei Männer miteinander führen, während sie in flottem Tempo auf Landstraßen oder Feldwegen gehen. Walser ist in seinem Element, wieder verknüpfen sich geistige Regsamkeit und Wandern.
Gestorben ist Robert Walser auf einem Spaziergang, am 25. Dezember 1956.