Beim alten Riesen

Wenn man heutzutage etwas über die Artenvielfalt erfahren will, geht man am besten in einen botanischen Garten. Genau das tat ich eines Nachmittags, als ich in Berlin war.  Mit der Vielzahl der Pflanzen stellt sich auch die der Tiere ein. Das Gezirp und Gezwitscher der Vögel war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit unglaublich. Der Lärm der Grillen. Aber da mischten sich auch Verkehrslärm mit ein, Presslufthämmer, Bagger, Lastwagen, Autos und am Himmel die Flugzeuge.
Ich sah ein Pfauenauge, einen Zitronenfalter, eine riesige Hummel mit purpurrotem Hintern, Frösche, die hochmütig in den alten Teich sprangen, der voll Seerosen war. Das nervöse Gebrumm einer Fliege erinnerte mich an die langen Sommertage in der Kindheit, die ich auf dem Lande bei den Großeltern verbracht hatte. Das blaue Gefieder eines Eichelhähers war flüchtig zu sehen, sein knackendes Geschwätz, als er sich in der Krone eines Laubbaumes verbarg. Die Blätter der Bäume hatten schon braune Ränder, andere waren gelb, rot und dürr, leichte Windstöße trieben sie zu Boden. Viele Blumen waren verblüht. Im hohen Gras staken halb verborgen die Metallschilder, auf denen die Pflanzennamen standen, oft muss man die Halme niederbiegen, um zu lesen, was drauf steht.
Da gab es Rhododendrongewächse, die dicht beieinander standen. An einem anderen Ort zwanzig verschiedene Stechginster. Fichten auf einem sonnenbeschienen Feld. Die Heidengewächse: Besenheide, Glockenheide, Ährenheide, Cornwallheide. Trompetenbäume mit tellergroßen Blättern. Der Geweihbaum.

Zwischen Sumpfzypressen und chinesischen Sichelbäumen sprach mich ein älterer Herr an. Er schwärmte von der Vielfalt der Natur. Er sagte, das mechanistische Weltbild der Evolutionstheorie sei zu einfach, um diesen Artenreichtum zu erklären, Darwins Theorie vom Recht des Stärkeren eine Platitude.
– Die Legende von der Schöpfungsgeschichte gefällt ihnen wohl besser, fragte ich.
– Ob das eine Legende ist. Ich weiß nicht so recht!
Er hatte mich nicht verstanden. Aber ich hatte keine Lust, es zu erklären.
– Sehen Sie sich diese Vielfalt an. Es gibt fünfzig Arten von Fichten in Europa und Nordamerika, siebenhundertfünfzigtausend Insekten hat man bis heute festgestellt und die Entomologen vermuten, dass es nochmals so viele gäbe, die ihnen nicht bekannt sind. Wissen Sie, was ein Entomologe ist.
– Ein Insektenforscher!
– Was sind Sie von Beruf?
– Buchhändler.
– Haben Sie als Buchhändler etwas mit Pflanzen zu tun?
– Nein, nicht direkt. Man verkauft Pflanzenbücher als Buchhändler, oder jene von Jean-Henri Fabre.

Wir spazierten gemeinsam durch den Wald der pazifischen Küste Nordamerikas und streiften durch die Pflanzenreiche von Japan und China. Mitten im Grün stand ein japanischer Pavillon. Da waren die japanische Krötenlilie mit ihren fleischigen Blättern, die herzförmige Aralie, das schwarzfrüchtige Christopheruskraut, die japanische Zaubernuss und die großblütige Elfenblume ohne Blüten. Die welken Blätter des Katsurobaumes sahen wie silberne Taler aus, durchscheinend im Sonnenlicht des späten Nachmittages. Das Pfauenradfarn und das Straußfarn. Die bildhafte Präzision der botanischen Sprache gefiel mir.

Das stand er. Der alte Riese! Ein Ginko-Baum. Vollkommen von Schmarotzerpflanzen überwuchert. Ein Gedicht von Goethe auf einer Bronze-Tafel.
Zwei ältere Damen stellten sich gleichzeitig mit uns vor den Ginko-Baum, geschlechtslose Bildungsbürgerinnen, mit einem ewig selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht.
– Ah, ich habe gar nicht gewusst, dass Goethe ein Gedicht über den Ginko-Baum geschrieben hat, sagte mein Begleiter, der Ginko ist nämlich ein Urbaum, kein anderer Baum ist so alt wie er.
– Doch. Doch. Es ist aus dem Ost-Westlichen Diwan, sagte eine der Damen beflissen. Es war die, die das Gedicht laut vorgelesen hatte.
– Goethes Wissen war allumfassend, sagte der ältere Herr, das gibt es heutzutage nicht mehr. Seine Farbenlehre ist immer noch gültig.
– Ja. Ja. Sogar einen Kieferknochen hat er entdeckt, sagte die Dame, die das Gedicht vorgelesen hatte. Er wusste über so viele Wissensgebiete Bescheid. Auf dem Weg der Anschauung hat er sich den Dingen angenähert. Er war offen für alles. Die Wissenschaftler von heute sind hingegen beschränkt, Spezialidioten, die nur noch über ein winziges Detail Bescheid wissen. Das ist das Verhängnis der modernen Wissenschaft.
– Da muss ich Ihnen widersprechen, sagte der ältere Herr. Zwar haben schon die alten Griechen über die Atome Bescheid gewusst, aber ohne die Spezialisierung auf den einzelnen Wissensgebieten, wären wir nicht da, wo wir heute sind. Ich habe vor kurzen eine komplizierte Herzoperation gehabt. Die Operation wurde von einer Koryphäe auf diesem Gebiet durchgeführt. Einem Spezialisten also. Hätte ich diese Operation nicht machen lassen können, ich wäre ein toter Mann.
– Und Goethe hatte in Schillers Garten einen Ginko gepflanzt, sagte die andere. Es war wie ein verspätetes Echo.
Darauf wünschte man sich einen schönen Nachmittag und verabschiedete sich.

Der ältere Herr und ich stiegen ins Hochgebirge des Himalajas. Überall sah er Knöterich, der ältere Herr. Ich merkte mir ein paar Namen, die ich mir später aufschrieb. Großblütige Ballonblume, Gelber Feuerkolben, Chinesische Trollblume, Kugelprimel, Keilblätteriges Fingerkraut, Schuppenwacholder, Striegelhaariger Mannsschild und Stinkende Wiesenraute. Zwischen den Steinen des künstlichen Himalajas floss ein Bächlein mit rotem, eisenhaltigem Wasser hinunter. Ein süßer und feuchter Geruch hing in der Luft. Ich sah ein Erdbeergewächs (Fragaria nubicola), das erst jetzt im Herbst blühte. Zu spät, um noch zur Beere zu reifen. Vielleicht können sich die Bewohner des Himalajas nie eine Erdbeere in den Mund stecken, weil die warme Saison zu kurz ist, um sie reifen zu lassen. Vielleicht hat sich diese Sorte längst der rauen Umgebung angepasst und treibt bloß noch ein paar Blüten im September.

Wir wechselten ins Pflanzenreich von Anatolien und Kolchis hinüber. Der ältere Herr schritt beschwingt neben mir her, zitierte Gedichte von Goethe und Claudius, wies da auf ein Blatt von seltener Form, dort auf eine schöne Blüte.
– Schriftstellern Sie, fragte er unvermittelt.
– Nein. Wie kommen Sie darauf?
– Sie sehen mir ein bisschen danach aus.
– Außer Schulaufsätze und Geschäftsbriefe habe ich nie etwas anderes geschrieben.
– Auch keine Gedichte?
– Niemals!
– Sind Sie nie verliebt gewesen?
– Doch. Schon öfters.
– Und Sie haben der Angebeteten nie ein Gedicht geschrieben?
– Nein. Das wäre mir nie eingefallen.
– Ah, Sie sind ein Direkter, der sofort zur Sache kommen will.
– Das hat nichts mit direkt zu tun. Es ist eher eine Frage der Veranlagung.
– Lesen Sie wenigstens Gedichte.
– Ja, ich mag Gottfried Benn, zum Beispiel. Heute Morgen bin ich an der Bozener-Straße gewesen, wo er gewohnt hatte.
– Benn? Ich kann nicht viel mit ihm anfangen. Modernen Gedichten fehlt es an Klarheit. In meinen Augen hat Claudius die besten deutschen Gedichte geschrieben. Kennen Sie ihn?
– Nein. Tut mir leid. Ich bin in der Klassik schlecht bewandert.
– Und das als Buchhändler?
Ich beobachtete eine Waldmaus, die eifrig Samen von einer Pflanze knabberte. Das braune Fell glänzte, ein schwarzer Streifen mitten auf dem Rücken.
– Zierliche Tiere, nicht, sagte er.
Wir gingen weiter. Plötzlich ahmte er das Gezwitscher eines Vogels nach.
– Kennen Sie die Singvögel? Das ist der Brunstruf einer Kohlmeise.
Er wies auf eine, die in den Zweigen einer Tanne saß.
– Als junge Burschen, fuhr er fort, haben wir im Frühling immer den Brunstruf der Kohlmeisen nachgemacht. Das hat sie verwirrt und geärgert.
Nochmals ließ er das Gezwitscher ertönen.
Wir schlenderten durch die Gartenanlage, die es vor einem der Gewächshäuser gab und bewunderten die Fuchsien, die in den Beeten blühten.
– Ich muss mich einen Augenblick ausruhen, sagte er keuchend. Aber Sie können natürlich alleine weiter gehen, wenn Sie möchten.
Wir setzten uns auf eine Bank. Er erzählte, dass sein Vater Professor für Botanik an der Freien Universität von Berlin gewesen war, und er selber hatte Agronomie und Geologie studiert. Als er den Doktor machen wollte, kam der Krieg dazwischen. Nach dem Krieg war er als Personalbetreuer im christlichen Missionsdienst tätig. In Afrika im Einsatz gewesen, viel erlebt, wie Sie sich denken können.
Plötzlich schaute er auf die Uhr, sagte, dass er sich beeilen müsse, er sei mit seiner Frau verabredet, sie wollten sich einen Vortrag über die Glaubenskriege des 17. und 18. Jahrhunderts anhören.
Er reichte mir seine große, grobe Bauernhand und wünschte mir alles Gute.