Wieder in Sils Maria

Im hellen Nachmittagslicht wanderten wir die blühende Matte hinab zur Halbinsel Chasté, einem bewaldeten Granitbuckel, der in den Silser See hinausragt. Beim Felsen, wo Nietzsches Trunkenes Lied eingraviert ist, das auf die Zeilen endet: „denn alle Lust will Ewigkeit/ tiefe, tiefe Ewigkeit“, setzten wir uns auf die Holzbank.

Stein mit Nietzsches Gedicht „Trunkenes Lied“

Manchmal habe ich den Eindruck, der Schatten des großen Wanderers sei immer noch hier oben im Engadin unterwegs. Ich stelle mir vor, wie er durch die Berge marschierte. Leicht gebückt, den Blick auf den Boden geheftet. Sah er etwas von den Bergen, dem Licht, dem See oder war er tief in seine Gedanken versunken? Denken und Gehen gehörten bei ihm zusammen. So wenig wie möglich sitzen! Nur den Gedanken Glauben schenken, die im Freien und bei freier Bewegung entstanden sind. Der Fuß schreibe mit, er laufe tapfer, stark und frei, bald übers Feld, bald übers Papier. Nichts fand er schlimmer, als Autoren, die zu viel Sitzfleisch zeigen.

Der Wind strich über den See. Ich sog den Duft des trockenen Nadelbodens ein. Zwischen dem Nadelgrün sahen wir Isola auf der gegenüberliegenden Seite, die grüne Matte darunter schien zum See hinab zu fließen. Berghänge im Hintergrund, der Piz de la Margna. In Isola machen wir immer unseren ersten Halt auf der Wanderung von Sils Maria nach Maloja. Wir setzen uns an einen der Tische des Restaurants, die im Gras stehen und trinken sauren Most.

Silser-See

Das Nietzsche-Haus in Sils-Maria ist nicht nur Museum. Es beherbergt immer auch ein paar Gäste. Gerhard und Dorli Meier logierten einige Sommer lang da.
Ich blieb auf der Schwelle zu Nietzsches Wohn- und Schlafzimmer stehen, blickte irritiert auf den Brocken Gips, der auf dem Bett liegt. Das sei Nietzsches wuchtiger Schnauz, von einem Bündner Bildhauer erschaffen, ließ ich mir erklären. Also Kunst!

Er sei schon in der Pubertät auf Nietzsche gestoßen, erzählt der Schriftsteller Gerhard Meier in einem Interview mit Peter André Bloch, Nietzsche sei durch sein ganzes Leben hindurch gegeistert. Er habe auf ihn, Meier, eine seltsame Faszination ausgeübt wie andere Figuren auch: Benn, Rilke, Wagner. Künstler, die Glacé-Handschuhe und Zylinder getragen hätten, was von der Anschauung her eine große Zweideutigkeit versinnbildliche. Von Nietzsche habe er nur gewisse Passagen mitbekommen, einzelne Aphorismen, Gedichte. Das wenige habe ihn durchtränkt, einem Lebensgefühl ähnlich. Nietzsche sei für ihn, Meier, der große Pubertäre, der Inbegriff des Scheiternden, des Intellektuellen. Er habe Nietzsche nie als Philosophen, eher als verhinderten Künstler empfunden. Dank dieser Verhinderung sei Nietzsche ein großartiger, einzigartiger Denker. Wie Proust habe auch er Unsagbares sagbar gemacht, könne Sachverhalte aufschlüsseln, wie eigentlich nur ein Künstler es kann. Er tue es als Philosoph, aber so neu, frisch, kindlich, jenseits aller Klischees, dass seine Texte ihm (Meier) beim Anhören fast zu einem rauschhaften Erlebnis geworden seien. Nietzsche zeige sich zwar öfters als Epigone, andererseits als unglaublich schöpferischer Mensch. Man spüre, dass die Glut hinter seinen Werken echt sei, das brenne und strahle.

Wir wohnten im prächtigen Bau mit den grünen Fensterläden am Rand von Sils Maria, oberhalb der blühenden Matte, die sich zum See hinab erstreckt. Es ist das frühere Hotel Alpenrose, eine Ruine damals, als Gerhard und Dorli im Engadin waren. Gerhard Meier stellte sich vor, dass Marcel Proust hier abgestiegen war. Worüber der Proust-Sachverwalter aus Zürich mächtig die Nase rümpfte. Er hat die Fakten gründlich geprüft, Proust hatte in St. Moritz in der Pension Veraguth logiert, aber nicht eine einzige Nacht in der Alpenrose verbracht. Meier sah Proust auf einem der Balkone stehen, wo der (Proust) an die rosa Schmetterlinge dachte, die er über dem Silser See fort flattern sah, bis sie nur noch „ungreifbarer, davon getragener Staub aus Rosa schienen“, der See selber sei getönt gewesen „wie eine große sterbende Blüte“.

Gestern saßen wir unter den Mammutbäumen im historischen Garten des Palazzos von Salis in Soglio im Bergell. Es war angenehm kühl, das schattige Grün saugte die Hitze des Sommertages auf. Die Stämme der Kirschbäume waren von grauen Flechten überwachsen. Die Äste hatte man gestutzt, sie trugen fast keine Früchte mehr, man scheint sie nicht abzulesen, sondern den Vögeln zu überlassen.
Vor Jahren sind Gerhard Meier und sein Dorli ebenfalls im Garten des Palazzos von Salis gesessen. Die Fahnen von Handkes Text Noch einmal für Thukydides mit sich dabei.
„Dorli, als wir von den Fahnen aufblickten, schauten immer noch die Berge herein und standen die Rosen herum. Einzig ein neuer Duft hing über dem Garten, der Duft einer Epopöe, die dem Licht entsprungen ist, den Rhythmen und Klängen Handkescher Sätze.“
1979 hatte Handke die Hälfte seines Kafka-Preises an Meier abgegeben. Mit dem Geld fuhren Gerhard und Dorli nach Paris, auf dem Père Lachaise legten sie zwei Rosen auf das Grab von Marcel Proust und eine auf jenes von Maria Walewska. 1983 sorgte Handke dafür, dass Meier den Petrarca-Preis bekam.
Meier fand den Garten des Palazzos „paradiesisch“. Er sah Rittersporn,  Phlox, die Pfingstrosen waren bereits verblüht. Rilke habe da an den Rosen gerochen, Briefe geschrieben und den Elegien nachgehangen, die er in Duino bei Triest angefangen hatte und in Soglio beenden wollte. Ich musste diese Elegien für die Buchhändlerschule lesen. Ich war zwanzig Jahre alt. Die vielen Engel darin, gingen mir auf die Nerven.

So wie Meier Handkes Fahnen mit sich herum getragen hatte im Engadin, so trug ich sein schmales Büchlein Ob die Granatbäume blühen mit mir herum. Ich nahm es mit auf die Wanderung nach Maloja, ins Bergell, wo wir in Borgonovo auch das Grab von Alberto Giacometti besuchten, das Fex-Tal hinauf.
Das Buch ist eine Liebeserklärung an Dorli, seine Frau. Sie war im Januar 1997 an einer unheilbaren Nervenkrankheit gestorben. Es ist ein Zwiegespräch mit der Abwesenden, die für Meier gar nicht abwesend ist.
„Dorli, wenn wir wieder zusammen sind und die Wildkirschen blühen und es der Natascha, dem Fürsten Andrej und der Lara nicht gerade ungelegen kommt, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweißlingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral.“
Auch mein Großvater oben in den Bergen des Berner Oberlandes war überzeugt gewesen, dass er nach seinem Tod wieder mit seiner Frau, die zwanzig Jahre vor ihm gestorben war, vereint sein würde.
Geheiratet hatten Dorli und Gerhard im Februar 1937 in einer Kirche außerhalb von Bern. Es schneite. Der Buchsbaum rund um die Kirche wirkte besonders grün. Die Trauung fand gegen Abend statt. Sie hatten im alkoholfreien Café Gfeller am Bärenplatz in Bern zu Mittag gegessen. Ein Zichoriengemüse, das sie eigentlich nicht mochten, trotzdem hatte es ihnen geschmeckt. Fürs Abendessen mit den beiden Trauzeugen nahmen sie einen Topf mit Pasteten-Füllung mit nach Hause. Jetzt liegen sie vereint im gleichen Grab auf dem Friedhof von Niederbipp.

Im Garten des Palazzos setzte ich mich auf das Wurzelwerk des einen der zwei Mammutbäume und lehnte den Rücken an die rötliche Borke des Stammes. Die Borke klang hohl, wenn man daran klopfte. Ich schaute ins riesige Astwerk empor. Die Sonnenstrahlen blitzten wie ein blauer Stern darin.