Der nahe Frühling

Als ich das erste Mal ein Buch vom russischen Autor Iwan Bunin (22.10.1870 – 08.11.1953) las, arbeitete ich in Einsiedeln. Es war Winter. Der Arbeitsweg lang. Die dunkle Morgenkälte fraß sich durch meinen Mantel. In Tram und Zug herrschte eine graue Muffigkeit. Welcher Gegensatz dazu die sinnesfreudige Prosa von Iwan Bunin, die ich unterwegs las, ihre Schönheit und Farbigkeit, die Genauigkeit seiner Beobachtungen, die Präzision der Vergleiche. Am Ursprung der Tage ist eine Sammlung Reminiszenzen aus der Kindheit und Jugend, das Panorama einer verschwundenen Zeit.
Ich folgte Grischa durch das feucht glänzende und duftende Gras zum Badehaus unten am Fluss. Am Ufer rauscht das Schilfrohr und im dunkelblau schimmernden Wäldchen ruft der Kuckuck. Grischa mustert seinen schlanken Körper, hebt stolz den Kopf, springt ins kühle Wasser und schwimmt mit kräftigen Zügen in den Fluss hinaus. Nach dem Schwimmen treibt er mit zwei Puds schweren Hanteln eine Stunde lang Gymnastik. Im Haus ist es noch still, im Hof gackern laut die Hühner. Natalja Borissowna, Grischas Mutter, geht im Park spazieren, eine füllige Dame um die vierzig, den Sonnenschirm aufgespannt, eine Zeitschrift unter den Arm geklemmt, mit der linken Hand hält sie den Saum ihres rohseidenen Kleids hoch. Sie begegnet dem Professor und seiner Gattin. Der Professor ist plump, dunkelblond und hat eine Stupsnase. Seine Gattin, „eine kleine Jüdin, die aussah wie eine Gitarre, hatte ihr schwarzes Köpfchen an seine Schulter gelehnt“. Ich ging mit Grischa zu Kamenski, einem Tolstoianer, der außerhalb der Datscha-Siedlung wohnt. Grischa lernt bei ihm das Tischlerhandwerk. Kamenski ist gerade am Hobeln, als Grischa kommt. Cremefarbige Spänelocken fallen zu Boden.
Grischas Mutter lädt Kamenski mit einer Anzahl anderer Gäste zum Nachtessen ein. Man verspricht sich davon einiges. Man würde diesem Tolstoianer auf den Leib rücken, seine Ansichten gehörig zerpflücken. Alle schreien beim Essen durcheinander. Der Abend hat nicht den Erfolg, den man sich im Voraus versprochen hat. Kamenski sitzt mit einer ernsten und unnachgiebigen Haltung da. In seinen Ausführungen zeigt er nicht die erwartete Eloquenz.

Als ich in Wädenswil umstieg, breitete sich über den Glarner Gipfeln ein rosa Lichtschimmer aus und auf der schwarzen Haut des Sees entfernten sich eilig die Lichter eines kleinen Passagierdampfers. Im Zug nach Einsiedeln sah ich einen halben Mond am Himmel leuchten. Man spürte, dass die Tage wieder länger wurden. Bunin hatte Recht, der Frühling war nicht mehr weit weg. In den Höhen lag noch Schnee. Die raureifbedeckten Bäume sahen wie blühende Fliederbüsche aus. Massige Bauten raubten mir die Sicht auf die verschneiten Hügelkuppen und Waldlichtungen. Wirtschaftlicher Fortschritt bedeutet primär einmal Verwüstung von Landschaften.

In der Geschichte Antonäpfel sitzt ein Student an seinem Studierpult. Der Herbstregen strömt die Scheiben hinunter, die Straßen sind aufgeweicht und mit nassem Laub bedeckt. Aus der Schublade des Pultes duftet es nach Äpfeln, die der Student im Spätsommer vom Land mitgebracht hatte. Der Herbst mit seinem Regen und dem Duft der Äpfel wecken beim Studenten Erinnerungen an seine Kindheit auf dem Dorfe, an den alten Gutshof am Westrand der russischen Steppe, den Ställen und Tennen, der Arbeit und der Jagd im Herbst. Diesen Landadel gab es schon nicht mehr, als Bunin die Erzählungen schrieb. Ein proustischer Augenblick. Aber im Gegensatz zu Proust beschreibt Bunin die Geschehnisse nicht im Spiegel seiner Gedanken und Gefühle, die durch den Duft der Äpfel in ihm geweckt worden sind. Er beschreibt direkt und unmittelbar, in einer genauen, knappen Sprache und nicht in endlosen, verschachtelten Sätzen.

Bunins Prosa ist eine Aufforderung, die eigene Wahrnehmung zu entfalten, die Sinne zu schärfen, aufmerksamer zu sein, nicht blind durch Alltag und Gewohnheiten zu trotten. Er muss schon als Knabe ein hoch sensibler und aufmerksamer Beobachter gewesen sein und alles, was um ihn herum geschah, in sich aufgesogen haben: Öffnet eure Sinne und das Leben ist großartig, es ist fröhlich und übermütig, traurig und melancholisch, und manchmal dreckig und ausweglos – es ist immer in Bewegung, in einer fortwährend schaukelnden Veränderung. Er habe fast keine Erinnerungen an seine Jugend, schreibt Bunin, aber in diesen Erzählungen weckt er die dörfliche Welt, in der er aufgewachsen ist, zu neuem Leben.
Er verspürte eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, mit ihrem an die Jahreszeiten gebundenen Rhythmus, dem ständigen Wechsel des Lichtes, der Farben, Formen und Gerüche. Er mochte die Wälder und die weiten Felder, die sich bis zum Horizont ausdehnten, die im Frühling grün, im Sommer gelb, im Winter weiß waren. Im Gegensatz zu einem Bauern, der es als seine Aufgabe sieht, die Felder zu bestellen, wollte Bunin nie ein Bauer werden, er wurde der Chronist des ländlichen Lebens der woronesischen Tula rund um Jefremow und Jelez. Zugleich ist er mehr als ein Chronist regionaler Geschehnisse; in seinen Geschichten kommen Dinge so zur Sprache, in denen sich auch ein urbaner Westeuropäer des 21. Jahrhunderts wiedererkennen kann.
Einfachheit, Genauigkeit und Bildhaftigkeit sind wohl die typischsten Merkmale seines Stils. Sie bringen seine Geschichten zum Fließen. Bunin versteht es mit knappen Worten ganze Landschaften und Dörfer im Leser wachzurufen. Es ist eine kräftige, ländliche Sprache, voller russischer Melancholie, eine spinnwebartig leichte Melancholie, erzeugt durch den Fluss des Lebens, durch Vergänglichkeit und Erneuerung, durch Wandel und Veränderung.
Ich fühle mich auf eine qualvolle Art glücklich bei der Lektüre seiner Geschichten. Sie leben von Sinneseindrücken und Empfindungen. Die ungewohnten Bilder erzeugen starke Gefühle in mir. Ich habe den Wunsch, das Rad meines Lebens zurückzudrehen, wieder ein Knabe zu werden, aber dieses Mal alles, was um mich herum passiert, intensiv und aufmerksam beobachten und ja nichts vergessen, um später einmal davon erzählen zu können.
Die Wolken spielen in Bunins Erzählungen eine wichtige Rolle; denn die vorbeiziehenden Wolken sind das Sinnbild des Reisens. In seiner Knabenzeit weckten sie den Wunsch in ihm, selber auf Reisen zu gehen. Bunin war ein ruheloser Wanderer, er hatte zahlreiche Reisen gemacht, nach Istanbul, in den Orient, nach Ägypten, Nordafrika, Indien, Ceylon und nach Europa, wo er schließlich Exil fand, als er sich in der Sowjetunion nicht mehr sicher fühlte.

Ende Januar 1920 verließen Iwan und Vera Bunin Russland. Sie erwischten in Odessa einer der letzten Dampfer, bevor die Rotarmisten die Stadt überrannten. Bei der Lektüre des Revolutionstagebuchs Verfluchte Tage wird deutlich, dass die Proletarisierung des russischen Lebens diesem hochgebildeten Kosmopoliten tiefst zuwider war. Die Oktoberrevolution ein einziger Alptraum. Er verabscheute Lenin und die Bolschewisten, in seinen Augen ein Haufen primitiver Rohlinge, die ihre Unfähigkeit, Staat und Wirtschaft neu zu organisieren mit Willkür und Terror kaschierten. In meiner Jugend hätte ich diese Haltung unglaublich arrogant gefunden, Bunin ein Besserwisser, der nicht verstand, um was es bei der Oktoberrevolution ging. Ich war damals überzeugt, dass Lenin und seine Leute das Richtige taten, und wenn die Dinge nicht wunschgemäß liefen, war das eine Folge des weißen Widerstandes und des Bürgerkriegs und nicht die Unfähigkeit der Bolschewisten. Nicht, dass die Weißen besser gewesen wären, die sahen mit der Revolution ihre alten Privilegien davon schwimmen und waren nicht gewillt, das zu akzeptieren, aber die Bolschewisten schienen wirklich wenig Ahnung gehabt zu haben, wie das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu organisieren war. Das Resultat davon waren Terror und Hungersnöte.

In Odessa suchte Bunin eines Abends die Redaktion der Zeitung auf, für die er geschrieben hatte, solange er noch in Russland war. Ein junger Korrektor beobachtete, wie er in der Tür stehen blieb und versuchte, sich den durchnässten Lederhandschuh abzustreifen. Der Schriftsteller setzte sich zum Chefredakteur an den Tisch, schaute sich im rauchüberfüllten Raum um und meinte, es sähe ziemlich ärmlich aus da drinnen. Für ihn sah alles aus, als wäre man tot. Selbst das Meer rieche nach rostigem Eisen. Der junge Korrektor hielt den Kopf gesenkt, wagte den großen Autor kaum anzusehen. Er liebte Bunin seit jungen Jahren, kannte etliche seiner Gedichte und Textstellen auswendig. Er schätzte Bunins Begeisterung für die Welt in ihrer vielstimmigen Schönheit, der klaren Empfindung in dessen Werk, dass das Glück überall anzutreffen war. Er blieb stumm und lauschte der dumpfen Stimme des Schriftstellers, der die Oktoberrevolution verabscheute und gehofft hatte, dass die Weißen siegen würden. Nachdem Bunin gegangen war, schlich er aus der Redaktion, unfähig die nichtssagenden Texte weiter zu korrigieren. Er ging ans Meer hinunter. Ein schwarzer Wind wehte, die öde Wasseroberfläche hob und senkte sich. Er schritt von Traurigkeit und Melancholie getrieben dem Strand entlang. Dreißig Jahre später wird sich Paustowskij in seinen Erzählungen vom Leben wieder an diesen Abend erinnern.