Scheiß-Ubu

An einem Novemberabend saßen wir im Atelier von Marc. Er wohnte an der Gibraltarstraße in einem alten abbruchreifen Haus. Mit seinem blonden Haar und der Brille sah er wie eine jugendliche Ausgabe von Andy Warhol aus.
In einer Ecke stand ein gusseiserner Ofen. Ungeheizt. Marc fragte uns ein paar Mal, ob er Feuer machen solle. Rainer und ich verneinten jedes Mal. Obwohl ich meinem Wintermantel nicht ablegt hatte, fror ich schrecklich.
Von der Decke hing eine nackte Glühbirne herab und warf ihr Licht auf den alten, runden Tisch, an dem wir saßen. Vor den Fenstern stand auf Holzböcken der lange Zeichentisch. Darauf lagen Malutensilien, Papier, Farbtöpfe, Pinsel, Spachteln, Bleistifte, angefangene Zeichnungen, Bilder, Fotoapparate, Filmrollen, zerschnipselte Fotos, kurz das ganze Durcheinander eines Künstlers. An den Wänden hingen Zeichnungen und Fotografien. Ein abgenutztes Sofa stand da.
Wir tranken billigen Rotwein, ohne davon warm zu werden. Ich fühlte mich nicht besonders wohl, nicht nur wegen der Kälte. Den ganzen Abend redeten die beiden über Kunst und Malerei. Ich verstand nicht viel davon. Rainer und Marc besuchten die Bildhauerklasse an der Kunstgewerbeschule. An diesem Abend ging es um Konzeptkunst. Namen wie Daniel Spörri, Marcel Duchamp, Joseph Beuys fielen. Es war von Filz, Fett und gläsernen Abfallkuben die Rede. Vieles, was sie früher schon angesprochen hatten, wurde nur noch flüchtig angedeutet, sie wussten, im Gegensatz zu mir, sofort um was es ging. Sie redeten schnell, es klang wie ein Ping-Pong-Spiel mit Worten. Es störte mich eigentlich nicht, bei ihrem Gespräch ausgeschlossen zu sein, zeitgenössische Kunst interessierte mich damals wenig. Ich saß still da, hörte mit halbem Ohr zu, nippte an meinem Glas und hing meinen Träumen nach. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, um mich aufs Bett zu legen und zu lesen. Aber ich konnte mich nicht aufraffen, ich war wie gelähmt, als hätten mir die Kälte und das Gespräch jeglichen Willen aus den Knochen gesogen. Ich wohnte damals in einem schäbigen dunklen Zimmer an der Bernstraße, das vor mir einer Prostituierten gehört hatte. Aber wenigstens war es warm dort. Ich war selten zu Hause, es war eine unruhige Zeit, mein Kopf voll unausgegorener Ideen, am liebsten saß ich mit Freunden in der Kneipe.
Marc fragte mich plötzlich, ob ich das Sechste und Siebte Buch Mose kenne.
Ich schrak aus meinen Träumereien auf, verneinte und fragte ihn, weshalb ihn Bücher interessieren würden, die es gar nicht gäbe. Der Konfirmandenunterricht lag schon ein paar Jahre zurück, aber so viel wusste ich noch, es gab nur fünf Bücher Mose.
– Klar gibt es die, sagte Marc.
– Das sind apokryphische Schriften, wandte Rainer ein.
– Es handelt sich nicht um Bücher aus der Bibel, sagte Marc, sondern um mittelalterliche Geheimschriften aus der Volksmedizin, die zu Tarnzwecken so getauft wurden, um die kirchliche Zensur irrezuführen. Die Autoren wären auf den Scheiterhaufen gelandet, hätte man sie erwischt. Man findet darin magische Sprüche, Zauberkünste, Rezepte für Flugsalben, Kräutermischungen, um auf den Trip zu kommen, Liebessalben, Heiltinkturen und Bannsprüche, um jemand anderem Schaden zuzufügen. Es wundert mich, dass du sie nicht kennst. Darüber müsste man doch in einer katholischen Buchhandlung Bescheid wissen. Sie sind vor kurzem neu verlegt worden.
Ich schämte mich, als Buchhändlerlehrling nichts von diesen Büchern zu wissen, ließ mir aber nichts anmerken und fragte Marc, ob er schon in anderen Buchhandlungen nachgefragt habe.
– Ja, sagte er, aber niemand hat Bescheid gewusst. Das Buch scheint in keinem Katalog aufgeführt zu sein. Ein älterer Pfaffe, der zufällig neben mir stand, als ich meinen Wunsch gegenüber der Buchhändlerin äußerte, schaute mich scheel an.
Ein paar Jahre später hielt ich ein schlecht gemachtes Buch in den Händen: Das Sechste und Siebte Buch Mose. Von einem anarchistischen Verlag herausgegeben. Es war ein Zufall. Ich hatte jenen kalten Winterabend fast vergessen.
– Kennst du Père Ubu, das umwerfende Theaterstück von Alfred Jarry, wollte Marc dann wissen.
– Nein, woher auch.
– Ubu von Alfred Jarry musst du unbedingt kennen, das ist eine Inkunabel der Moderne. Ein Theaterstück von umwerfend schauerlicher Komik. Eine Farce mit visionärer Kraft, voll sonderbarer Launen und Einfällen. Eine Parodie auf die Königsdramen von Shakespeare. Jarry stellt jegliche Machthaber unverblümt dar, König Ubu ist ihr Prototyp. Das Stück zeigt die Absurdität der Macht, keine marxistische Analyse könnte genauer sein. Das Stück löste bei der Uraufführung 1896 einen handfesten Skandal aus. Es gab Tumulte. Ubu sagt Merdre statt Merde, stelle dir das vor, Schreiße, er kann nicht einmal Scheiße sagen.
– Schreiße, Mann, wirkliche Schreiße, grosse Schreiße, das ist doch genial, das musst du zugeben, grinste Rainer und streckte seine langen Beine von sich.
– Das absurde Theater wäre ohne Ubu nicht denkbar. Die Surrealisten sahen in Alfred Jarry einer ihrer geistigen Väter.
– Den Ubu musst du dir merken, sagte Rainer. Komm endlich von deinem Andersch weg. Mach die Augen auf. Jarry hiess auch Alfred. Er ist der eigentliche Alfred. Er rührt die Dinge durcheinander, die der arme Andersch noch strukturieren möchte. Kürzlich habe ich einen Buchhändler aus Sankt Gallen kennengelernt. Er hat ein enzyklopädisches Wissen, worüber der Bescheid wusste, sagenhaft, da musst du hinkommen, verstehst du? Er kennt alle Bücher.
– Alle Bücher? Die ganzen zig Hunderttausende, die auf Deutsch lieferbar sind, fragte ich?
– Sei nicht blöd. Ich wollte damit nur sagen, dass er, im Gegensatz zu dir, ein unheimliches Bücherwissen hat. Du hast einfach zu viele Lücken.
– Jarry ist auch der Begründer der Pataphysik, sagte Marc weiter. Da geht es um eine logische Erweiterung von Physik und Metaphysik zugleich. Jarry hebt die Physik auf eine fiktionale Ebene und gibt ihr ganz neue Dimensionen. Es ist die Überwindung der Physik durch die Metaphysik oder umgekehrt. Doktor Faustroll ist ihr Begründer.

Es schneite leicht.
– Scheiß Ubu, fluchte ich vor mich hin, als ich auf dem Heimweg war, verdammter blöder Scheiß Ubu.
Was geht mich der König des Absurden an, diese aufgedunsene Fledermaus mit der rotgeäderten Gurke unter seinem dicken Bauch. Das ganze blaublütige Pack konnte mir gestohlen bleiben samt seinem lausigen Theater. Ubu, den ich nicht kannte, der mich nichts anging, den ich in meinem Leben nie lesen werde, egal wie wichtig er für Surrealisten und Kunststudenten ist. Von mir aus können sie ihn in Filz und Fett einrollen, vielleicht ist es dann sogar Kunst. Und die Flugsalben aus den nicht existierenden Mose-Büchern sollen sie sich gefälligst irgendwohin schmieren, ich bin gespannt, ob sie dann abheben und über die Stadt segeln.
Ein paar Betrunkene torkelten aus dem Restaurant Eisenbähnchen und gingen zur Schnellimbissbude hinüber, die noch offen hatte. Sie hatten dicke Bäuche und sahen wie besoffene Ubus aus.
Durch die mächtige Glasscheibe des Lokals sah ich im schummrigen Licht eine kleine Band spielen. Ich konnte nicht hören, was es war, ich sah bloß ihre Bewegungen und die Münder, die auf und zu gingen, es sah grotesk und marionettenhaft aus. Die Paare tanzten langsam und eng umschlungen. Es war schon spät in der Nacht, da brauchte man etwas Nähe.
Ich tat etwas, was ich sonst nie getan hätte. Ich betrat das Scheißlokal. Die Musik war noch schlimmer, als ich erwartet hatte. Ich stellte mich an die Theke.
– Was darf es sein, fragte die Bardame. Hochtoupiertes wasserstoffblondes Haar, blaue tief ausgeschnittene Bluse, Fältchen um die Augen, Fältchen im Busenansatz.
– Einen doppelten Schnaps, zum Aufwärmen.
– Wofür willst du dich denn aufwärmen, Spätzchen? Bist du überhaupt schon zwanzig?
– Nein. Ich trage noch Windeln.
– Sei nicht gleich eingeschnappt Spätzchen. Das scheint nicht dein Tag zu sein.
– Möchte gerne wissen, welches überhaupt mein Tag ist und ob der je kommen wird.
– Oh. Eine eindeutig lausige Welt, nicht wahr, Spätzchen, wo es für dich einfach keinen Platz gibt.