Es war Sommer. Ich arbeitete bei einer Versicherung, unten am See.
Meine Aufgabe war es, alte Policen auf ihre Vollständigkeit zu prüfen und nach Nummern zu sortieren, um sie später auf Mikrofilme zu kopieren. Man wollte Platz in den Ablagen schaffen. Ich hatte den Job durch ein Stellenvermittlungsbüro gekriegt. Ich brauchte Geld. Im Herbst wollte ich nach Portugal. Ich war nicht scharf auf eine feste Anstellung und schwach auf der Schreibmaschine.
Die Abteilung, in der ich arbeitete, befand sich im vierten Stockwerk des Osttraktes. Manchmal musste ich in den Keller eines anderen Traktes hinuntersteigen. Ich ging über glänzendes Linoleum endlos langer Korridorfluchten, manchmal wusste ich nicht mehr, in welchem Trakt und auf welchem Stockwerk ich mich gerade befand. Frauen und Männer kamen mir entgegen, mit Akten in den Armen. Man grüßte sich. Man war höflich. Das Klappern der Absätze war in den langen Gängen zu hören.
In den ersten Wochen war ich in einem Büro, in dem zwei Frauen und ein junger Mann arbeiteten. Jeden Morgen stellte ich mich vor den riesigen Schrank und begann mit der eintönigen Arbeit. Ich fischte alte Akten heraus, prüfte, ob sie vollständig waren, entfernte die Heftklammern und legte die Papiere in eine Plastikbox.
Die Frauen beklagten sich über den jungen Mann, er schaffte nicht einmal die Hälfte der Fälle, die jede von ihnen in einer bestimmten Zeit bearbeiteten. Er führte stundenlang private Telefongespräche. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, rieb er sich sein rot angelaufenes Ohr und verschwand auf die Toilette. Die Frauen warfen sich verärgerte Blicke zu. Gelegentlich redeten sie über ihren Haushalt, ihre Kleidung und ihre Männer. Wobei sie nie den Namen der Männer sagten, sondern immer nur von „meinem“ sprachen.
Die jüngere war eine blonde, hoch aufgeschossene Frau mit einem blassen, nichtssagenden Gesicht. Sie hatte wie ich eine Buchhändlerlehre gemacht, arbeitete aber schon seit Jahren bei der Versicherung. Es gefiel ihr da. Sie war mit einem Türken verheiratet, einem politisch Verfolgten, für den sie das Jogurt selber herstellte. Die andere war vielleicht so anfangs Vierzig, klein, dunkelhaarig. Ihre Namen habe ich längstens vergessen.
Gegen zehn Uhr Kaffeepause. Tasse und Kaffee hatte ich von zuhause mitgebracht. Selbstlöslichen, gefriergetrockneten Kaffee. Ein ganzes Glas voll. Im ganzen Gebäude gab es weder Kaffeeautomaten noch eine Cafeteria. Jeder Mitarbeiter hatte seinen eigenen Tauchsieder und seine eigene Tasse im Pult. Da ich nur für ein paar Wochen in der Versicherung arbeitete, halfen mir die Frauen mit heißem Wasser aus, wenn ich einen Kaffee haben wollte. Schwierig wurde es, als man mich in ein anderes Büro versetzte. Ein ungefähr dreißigjähriger Mann hatte da seinen Arbeitsplatz, schütteres Haar, dünner Bart. Die Frau, die das Büro mit ihm teilte, war im Urlaub. Der Mann schüttete das heiße Wasser lieber weg, als dass er mir auch nur einen einzigen Tropfen davon abgeben hätte.
Mehrmals am Tag rief er seine Frau an. Sie stritten sich am Telefon. Ich verstand nur einzelne Worte. Er schien sehr eifersüchtig zu sein und wollte wissen, warum sie vorhin nicht abgenommen hatte. Er hatte Zeit, seinen Phantasien nachzuhängen und konnte sich gut vorstellen, was seine Frau daheim alles trieb, während er sich im Büro langweilte. Manchmal schien sie ihm einfach aufzuhängen. Er machte ein verdutztes Gesicht, schaute den Hörer an, als ob damit etwas nicht in Ordnung wäre und verließ für eine Weile das Büro. Er hatte eine krasse Ausdünstung, bei dem heißen Sommerwetter haute es einen glatt vom Stuhl.
Je näher die Mittagszeit rückte, umso öfters schaute ich auf die Uhr. Nicht weil ich hungrig war. Punkt zwölf Uhr stempelte ich aus und floh in den Park, der gegenüber der Versicherung lag. Ich sah die hell glänzende Fläche des Sees und in der Ferne die weiß schimmernden Bergspitzen. Ich legte mich in den Schatten eines Baumes und holte eines von Truman Capotes Büchern hervor. Sie waren eine herrliche Entschädigung für die öde Arbeit. Und sie passten gut zu den heißen Sommertagen.
Ein Freund, der in London an einer Kunstschule war, hatte mir ein paar begeisterte Zeilen über Die Grasharfe geschrieben. Ich lief in die nächste Buchhandlung, um mir das Buch zu besorgen. Ich mochte den seltsamen Alabama-Sound dieser ätherischen Geschichte auf Anhieb.
Der elfjährige Junge Collin Fenwick kommt nach dem plötzlichen Tod der Eltern zu seinen Tanten Dolly und Verena Talbot. Verena ist eine geschäftstüchtige, kühl rechnende Realistin, ihr gehören etliche Geschäfte und Gebäude in der kleinen Stadt. Dolly, zerstreut und etwas verschroben, braut aus Waldkräutern nach alten Rezepten Arzneien zusammen, die sie mit langen ermahnenden Briefen an ihre Patienten verschickt. Als Verena die Absicht hat, mit Dollys Arzneien ein professionelles und lukratives Geschäft im großen Stil aufzuziehen, ist Dolly empört. Solche Ideen sind ihr zutiefst zuwider. Eines Morgens verlassen Dolly, Collin und die indianische Haushälterin Catharine Creek heimlich das Haus. Sie richten sich im Wald in einer Baumhütte ein. Das ganze Städtchen ist in Aufregung, als man entdeckt, wo sie sich verborgen halten. Verena schickt den Sheriff und die Honoratioren des Städtchens, um die Ausreißer heimzuholen.
Es ist Dolly, die dem kleinen Collin, das erste Mal von der Grasharfe erzählt. Die Grasharfe ist der Wind, der durch das Präriegras streift und die Geschichte der Toten erzählt. Da gibt es noch Ida, eine Vagabundin, die nirgends zu Hause ist und mit einem Lastwagen durchs Land fährt. Als sie mit ihren fünfzehn Kindern im Städtchen ein paar Zirkusnummern aufführen will, werden sie fortgejagt. Ida ist eine unerhört sinnliche Frau, keines der Kinder stammt vom gleichen Vater ab. Was hätte ich für eine Liebesnacht mit ihr nicht alles hergegeben.
Manchmal schloss ich das Buch und blickte in das wirbelnde Bonnardgrün der alten, hohen Bäume im Park und fiel in eine träumerische Stimmung.
Ich war ungefähr in dem Alter, in dem Truman Capote seinen ersten Roman Andere Stimmen, Andere Räume veröffentlicht hatte, den ich gleich nach Der Grasharfe las. Mit so einer Leichtigkeit sollte man schreiben können, dachte ich neidisch. Ich hatte noch nichts zustande gebracht, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich Talent zum Schreiben hatte.
Doch dann tauchte ich erneut in die Lektüre ein und vergaß, dass es mir an literarischer Begabung fehlte. Ich ging in diesen romantischen Südstaatenerzählungen ganz auf, es waren seltsam glückliche Stunden, die ich da auf dem Rasen im Park am See verbrachte. Ich musste aufpassen, dass ich nicht zu spät ins Büro zurückkam.
Danach las ich Wenn die Hunde bellen. In dieser Sammlung von Porträts und Reisegeschichten erweist sich Capote als begnadeter literarischer Reporter.
„Mein Argument war, dass die Reportage eine ebenso gepflegte und verfeinerte Kunst sein könne wie jede andere Prosagattung – ob Essay, Kurzgeschichte oder Roman“, schreibt er im Vorwort.
Wobei die Porträts ebenfalls den Charakter von Reisegeschichten haben. Er besucht Colette in ihrer Wohnung beim Palais Royal in Paris, Tanja Blixen alias Isak Dinesen in Rungsted in Dänemark; auf Sizilien begegnet er André Gide und Jean Cocteau, in Tanger Jane und Paul Bowles und in Kyoto führt er lange Gespräche mit Marlon Brando.
Seine sinnliche Bilderwelt ist überwältigend, etwa wenn er die dünnen Beine von Isak Dinesen mit den Schenkeln einer Gartenammer vergleicht oder Jean Cocteau als „regenbogenflügelnde, tanzende Libelle“ bezeichnet, die eine „klirrende Fröhlichkeit“ verkörpere.
Als Capote seinen ersten Roman schrieb, war er ständig umhergezogen, was in mir die Idee verfestigte, dass ein Autor ein Nomadenleben führen muss, wenn er gut schreiben will. Capote bezeichnet seine Berichte als „Landkarten in Prosa“, als die „geschriebene Geographie“ seines Lebens.
Ich brauchte nur loszuziehen, das Schreiben würde von selber kommen. Vielleicht werde ich auch mit solchen Skizzen aus Portugal heimkehren.