Der Luchs mit dem purpurroten Hut

Der Luchs liegt dösend auf einem Felsen in der warmen Herbstsonne. Ein Reh springt durch den Lidwinkel seines Traums. Ein Jäger findet später das tote Reh. Der Rücken und ein Hinterlauf sind abgefressen. Der Jäger denkt: Luchs, wenn ich dich vor die Flinte kriege, wird es dir nichts nützen, den Mönch zu spielen. Kutten sind nicht kugelsicher.
Am anderen Tag trägt der Luchs einen purpurroten Hut. Er hat gerade ein weiteres Stück des Rehs verzehrt, das er sich aus dem Lidwinkel des Traums geschnappt hatte, als die scharfe Bracke des Jägers, die Schnauze wichtigtuerisch am Boden, auf dem Felsen auftaucht. Sie trägt einen purpurroten Hut auf dem Kopf. Der Luchs, halb im Traum, nahe am Abgrund liegend, setzt zum Sprung an, fliegt über den kläffenden Jagdhund hinweg, noch in der Luft, krallt er sich den purpurroten Hut des Hundes und verschwindet im Unterholz. Der Hund bellt wütend die Stelle an, wo zuvor noch die verdammte Raubkatze gelegen hat. Als er endlich merkt, dass der Luchs längstens weg war, kommt er sich wie der ewige Tölpel vor, der ganz Dumme. Er denkt: Luchs, wenn ich dich vor die Flinte des Chefs kriege, wird es dir auch nichts nützen, den Mönch zu spielen. Kutten sind nicht kugelsicher.
Nach einem kurzen Sprint wechselt der Luchs in eine bequemere Gangart. Er setzt den purpurroten Hut der scharfen Bracke auf und trabt über den weichen Nadelboden eines Lärchenwaldes. Eine Wildtaube hört zu gurren auf, als sie den Luchs mit dem komischen Hut sieht. Auf einem Ast sitzt das Federknäuel eines Uhus und reißt die runden Augen auf.
Als die scharfe Bracke, zum Jäger zurückgekehrt, auf dessen Frage nicht antwortet, weiß der, wer jetzt den purpurroten Hut trägt. Er sagt zur scharfen Bracke: „Eines Tages erwischen wir den blutgierigen Waldteufel, dann wird es ihm nichts nützen, den Mönch zu spielen. Kutten sind nicht kugelsicher. Du kriegst das Fleisch und meine Alte das Fell, damit sie es warm hat unter ihrem Doppelkinn.“
Während sie den Wald hinab schreiten, zündet der Jäger seine Pfeife an. Da kommt der Luchsinger, denkt er, als er den Oberförster erblickt, der den steinigen Weg heraufkommt. Sie grüßen sich nur murmelnd und mit einem verächtlichen Blick in den Augen. Als vor Jahren der Luchs wieder eingebürgert worden war, hatte das Institut für angewandte Luchsforschung zusammen mit dem Oberförster Diavorträge für die lokalen Jagdgesellschaften organisiert. Am Schluss des Vortrages war der Jäger aufgestanden und hatte gesagt: „Wir haben nun gehört, was so ein Luchs alles frisst, aber einer fehlt auf den Speisezettel des Luchses, nämlich der Oberförster selber.“
Im Wirbel einer Waldlichtung, unter dem goldenen Licht des Herbstabends, bleibt der Luchs eine Weile stehen, um zu verschnaufen. Er denkt: Da gehört man zu den geschützten Tierarten, aber die Jäger tun gerade so, als gingen sie Gesetze nichts an. Wenn ich das verflixte Senderhalsband nicht verloren hätte, könnte ich mit dem Peilmann vom Institut Verbindung aufnehmen, damit er sich ein wenig um die Herren kümmert. Schließlich bin ich nicht scharf darauf, als Stola unter dem Doppelkinn der Jägersfrau zu hängen und ihr den Busen zu wärmen. Er entscheidet sich, in der kommenden Nacht höher das Tal hinauf zu wandern, um sich vor umherstreifenden Jägern und deren Hunden in Sicherheit zu bringen.
Da trollt sich die hochläufige, gefleckte Katze, von der ein unbekannter Schriftsteller mal geschrieben hat, sie sehe mit dem weißen Backenbart und den Pinselohren wie ein schlauer Talmudgelehrter aus. Die schräggestellten Augen mit der ockergelben Iris leuchten in der Dämmerung. Neblige Kühle steigt auf. Die faustgroßen Pfoten berühren moosigen Waldboden, gehen über trockene, knackende Äste, drücken Klee und Farne nieder, setzen über schäumende Bergbäche und gefällte Baumstämme. Rascheln. Schatten. Verwitterte Zeichen. Der Abendwind bläst das Licht aus den Baumwipfeln und entfacht unten am Boden, zwischen den Stämmen und Büschen, die Dunkelheit.
Als er eine Böschung hochgeklettert, entkommt er ganz knapp zwei Lichtern, die plötzlich aus der Nacht auf ihn zu schossen, mit lautem Gequietsche hin- und her wischen und schließlich bockstill stehen. Dann knallt es und die Stimmen von zwei Menschen sind zu hören.
„Komm schon ins Auto zurück, das war ein Leopard oder sonst so eine verdammte Katze. Komm schon! Man weiß ja nie.“
„Aber das Tier hat einen roten Hut getragen“, sagt die Frau.
„Rede keinen Quatsch. Komm schon! Ich will nicht bei lebendigem Leib gefressen werden. Einen roten Hut. So ein Blödsinn! Und das habe ich geheiratet. Oh, mein Gott! Ich wünsche mir  ….“
„Das war eine Riesenkatze mit einem roten Hut. Ich habe es genau gesehen, im Licht der Scheinwerfer. Du brauchst mich nicht ständig herunterzumachen, du mit deinem rechthaberischen Getue.“
„Komm schon! Verdammt nochmals!“
Der Luchs, noch Angst und Schrecken von dem unvorhergesehenen Überfall in den Knochen, ist im Schutz eines Haselstrauches stehen geblieben und blickt zu den menschlichen Gestalten und dem Ding mit den zwei leuchtenden Augen hinüber, aus dem Discomusik dröhnt und stampft. Er hört das Geschrei der beiden menschlichen Schatten. Er hat Mitleid mit der Frau, die von ihrem Mann fertig gemacht wird. Dann verschwinden sie im Schatten hinter den Augen. Es knallt zwei Mal, die Musik hört zu lärmen auf, ein Geheul, und die beiden Augen schießen in der Dunkelheit davon, einen Lichtfächer vor sich herschiebend.
Der Luchs trabt über freies Gelände. Es ist eine sternenklare, kühle Herbstnacht. Er blickt zum Himmel empor und sucht sein Sternbild. Er kann es nicht finden. Er denkt: Wenn ich das nächste Mal dem Biologen des Instituts, dem Peilmann begegne, muss ich ihn um eine Sternenkarte bitten. Andererseits hat er keine Lust wieder ein radiotelemetrisches Halsband verpasst zu kriegen, damit der Peilmann den Franz von Assisi spielen kann und ihn täglich mit tausend Fragen belästigt. Als er im Frühjahr die Luchsin in ihrem Revier aufgesucht hat, eine bezaubernde Katzenlady, fragte sie ihn, was er denn da um den Hals trage. Er erklärte es ihr.
„Du siehst wie ein überspannter Angorakater aus, der auf einen Tuntenball geht“, sagte sie und trollte sich davon. Auf einem Ast saß eine Krähe und lachte dreckig.
Daran muss er denken. Er hört das Kuhglockengebimmel in der Nähe nicht. Zu spät sieht er den Stacheldraht. Der purpurrote Hut fliegt ihm vom Kopf. Die Stacheln reissen ihm die Kopfhaut auf. Wütend stülpt er den Hut wieder auf den Kopf und springt über den Zaun. Er landet auf einem  Höcker, der zu wackeln beginnt, in die Höhe schießt und sich wie toll schüttelt. Der Hut fällt ihm über die Augen, instinktiv krallt er sich fest, spürt, wie die Krallen in etwas Weiches, Warmes dringen, als ob es Fleisch wäre, der Geruch von Blut steigt ihm in die Nase. Er wird hin- und hergeworfen, ein verzweifeltes Brüllen erhebt sich unter ihm, rundherum beginnt es zu stampfen und zu brüllen, während Dutzende von Kuhglocken Sturm läuten. Er steht wie betäubt da oben, den Hut vor den Augen.
Die Bäuerin hört den Lärm, den das Vieh auf der Weide macht und gibt dem schnarchenden Bauer ein paar Püffe in die Seite. Der Bauer wacht auf, braucht eine Weile, bis er den Sinn mitbekommt, von dem, was die Frau sagt. Er springt mit schmerzendem Kopf aus dem Bett, schlüpft in die Hose, eilt im Dunkeln die Treppe hinunter in die Küche, nimmt die Stabtaschenlampe vom Schrank, stürzt zur Tür hinaus, macht den Hund von der Kette los und greift nach einem Knüppel. Er läuft hinter dem bellenden Hund hinüber zur Weide. Er sieht die brüllenden Kühe, die durcheinander rennen. Auf einer erblickt er den Luchs mit dem purpurroten Hut auf dem Kopf, der fauchend und hoch aufgerichtet einen Buckel macht.
Im selben Augenblick fällt dem Luchs der Hut vom Kopf und der Lichtstrahl der Taschenlampe trifft ihn. Er erschrickt und springt von der brüllenden Kuh herunter, rast zwischen den toll gewordenen Kühen hindurch, setzt über den Zaun und jagt Richtung Wald, den Köter auf den Fersen. Er schlägt einen Hacken nach links, springt über einen Bach und hängt den Hund ab.
Der Bauer versucht die rasenden Kühe zu beruhigen, schüttelt den Kopf, der wie eine Transformatorenstation brummt, hebt den purpurroten Hut auf, der einige Hufe abgekriegt hat, untersucht die Kratzwunden der Kuh, pfeift dem Hund und geht ins Haus zurück. Er vergisst den Hund anzuketten und steigt ins Schlafzimmer hoch. Die Nachttischlampe brennt.
„Was war“, fragt die Frau, die ihm den Rücken zugedreht hat.
„Ein verdammter Luchs mit einem purpurroten Hut auf dem Kopf ritt auf der Bianca. Sie hat ein paar Risswunden abgekriegt, aber es sieht nicht schlimm aus.
„Saufe noch mehr. Und das nächste Mal siehst du weiße Mäuse, auf denen der Teufel tanzt.“
Der Bauer schmeißt den Hut wütend in eine Ecke, zieht die Hose aus und schlüpft unter die Decke. Die Frau löscht das Licht.
Der Luchs trabt am Ufer des Baches den Hügel hinauf. Das Gebell des Hundes und das Gebrüll der Kühe werden immer leiser. Er trinkt vom kalten Wasser aus dem Bach, wechselt ans andere Ufer, geht noch ein Stück weiter hinauf, wo er ein gutes Versteck weiß, eine kleine Höhle zwischen großen Steinen und Gebüsch. Erst jetzt merkt er, dass er den Hut verloren hat. Der verdammte Hut hat mir nur Unglück gebracht, denkt er zornig und müde. Der Hut eines blöden Jagdhundes kann gar kein Glück bringen.