Der Dandy aus der Unterwelt

Kurz bevor wir in den Tibet reisten, geriet ich an ein Buch, das wie ein Faustschlag in die Magengrube war. Eine geballte Ladung an Provokation, Anstößigem und Unverschämtheit und zugleich eine Mischung aus Schönheit und Scharfsinn, voll von boshaften Aphorismen: Dandy in der Unterwelt. Eine unautorisierte Autobiographie. Die desaströse Lebensgeschichte des Sebastian Horsley, von ihm selbst erzählt.
Er war ein Exzentriker und Poseur der ersten Güte, impertinent, brillant, lodernd und zum Scheitern verurteilt. Der Spiegel sei sein einziger Freund, behauptete er. Seine größte Angst war, man könnte ihn mit einem guten Bürger verwechseln. Er war ein Dandy aus der Schule von George Beau Brummell, Oscar Wilde und Jean Cocteau, lackierte sich die Fingernägel und hatte eine Vorliebe für rote Kammgarnanzüge, überdimensionierte Zylinder und Totenköpfe.
Er kam aus einer stinkreichen Familie und war nur auf der Welt, weil der Mutter die Abtreibung misslang.
„Als die Mutter herausfand, dass sie schwanger war, nahm sie eine Überdosis. Vater gab ihr die Pillen.“ So fängt das Buch.
Zuerst sollte der Junge, der trotzdem zur Welt kam, Hugo heißen, man trug Markus ins Geburtsregister ein und ändert den Namen schließlich auf Sebastian.
Die Eltern kannten sich erst zwei Tage, als sie heirateten. Das war in New Orleans. Die Heimreise nach England finanzierten sie sich, in dem sie ihre Geschichte einer Zeitung verkauften. Die Mutter hatte einen Hang zum Dramatischen und der Vater wollte ursprünglich Dichter werden. Doch dann baute er die väterliche Firma Northern-Foods zu einem Zwei-Milliarden-Imperium aus. Vater und Mutter waren schwere Alkoholiker. Als sich die Mutter einmal zum Ausgehen parat machte, verlangte sie, dass eines der drei Kinder sie begleiten solle. Auf die Frage des Kindermädchens, welches denn, antwortete sie: „Das ist mir egal. Dasjenige, das am besten zum roten Samt passt.“ Es war Sebastian.
Im Gegensatz zu seiner hochbegabten Schwester war Sebastian nur ein mäßiger Schüler, den Dinge wie die explodierenden Farben der Sonnenblumen, weiße Haie und der Glamour-Rock von Marc Bolan begeisterten. Eines Tages überraschte der Vater ihn dabei, wie er mit geschminkten Lippen, rosaroten Handschuhen und um den Hals eine Federboa die Konzertauftritte von Marc Bolan vor dem Spiegel nachahmte.
Irgendwann schlich sich der Vater aus dem Familienleben, an seine Stelle trat ein aus Indien heimgekehrter Bhagwan-Anhänger, der als erstes versuchte, die Schwester von Sebastian zu verführen. Spiritualität sei die größte Pose von allen, fasst Sebastian das Leben mit dem Stiefvater zusammen. Die Kinder wurden ins Internat gesteckt.
Sebastian Horsley war crack- und heroinsüchtig, bisexuell, in einen Mörder verliebt und behauptete, tausend Huren gebumst zu haben, weil Sex mit Prostituierten aufregender als mit anderen Frauen sei. Auf den Philippinen ließ er sich ans Kreuz nageln, um die Schmerzen Jesus am eigenen Leib zu erfahren. Das Kreuz war eher für die kleinen Philippinos gedacht und krachte unter Horsleys Gewicht ein bisschen zusammen.
Er beschäftigte sich mit einer Reihe von verschiedensten Jobs, ein paar davon würde man nicht gerade als Traumberufe bezeichnen: Haifisch-Forscher, Callboy, Punk, Talkshowgast, Maler, Kolumnenschreiber für ein Pornoheft. Arthur Rimbaud und Johnny Rotten waren seine Vorbilder. In seinem Kleiderschrank hingen neunundsechzig Anzüge. „Ein Mann, der kein Talent hat, muss einen Schneider haben“, kommentiert Horsley seine Sammlung. Für ihn war „Stil nicht Eleganz, sondern Konsequenz“ und „ein Dandy tut nichts, er ist etwas“.

Am 1. Juli 2010 wurden die Menschen in der Innenstadt von London Zeugen eines extravaganten Umzuges, der sich von Soho Richtung St. James Church bewegte. Das Leichenbegängnis von Sebastian Horsley war ebenso schrill und exaltiert wie sein Leben es gewesen war. Er war am 17. Juni an einer Überdosis Heroin gestorben. Der Leichenwagen wurde von zwei schwarzen Pferden gezogen, denen Federbüsche auf dem Kopf befestigt waren. Auf dem Bock saßen zwei Kutscher in schwarzen Mänteln und Zylindern. Das leichte Gefährt mit der kronenähnlichen Verzierung sah wie ein schwarz eingerahmter Schaukasten auf hohen Rädern aus. Im Inneren war ein riesiges rotes Paket mit roten Rosen und einem roten Tuch obendrauf zu sehen: der Sarg. Wem sollten Horsleys Überreste als Geschenk dargeboten werden? Hinter dem Wagen ging der bunte Haufen der Trauernden und Abschiednehmenden. Im Internet findet man viele Fotos von diesem Begräbnis. Man hat den Eindruck, die Leute seien zu einem Tuntenball oder einer Modeschau unterwegs. Zugleich war es ein Umzug gegen die Öde der Jeans-, Turnschuh- und Sweatshirt-Welt. Trauer ist auf diesen Fotos kaum zu finden. Doch alle scheinen vom nervösen Drang getrieben zu sein, unbedingt dabei sein zu müssen. Vielleicht hatten sie noch Horsleys Äußerung im Ohr: „Ich glaube nicht, dass man dem Zwang zu trauern nachgeben muss. Wenn ich von einem Todesfall höre, dann sage ich selbstverständlich „Wie schrecklich!“ und senke den Blick, solange dies angebracht scheint, in Wahrheit scheint mir der Tod das geringste Übel zu sein, das einem Menschen widerfahren kann.“
Auf den Fotos sind Frauen in hochhackigen Schuhen zu sehen, in Netzstrümpfen, engen Kostümen, Korsetts, ultrakurzen Miniröcken und seltsamen Hüten; viel nackte Haut, hochgeschnürte Busen und tiefe Ausschnitte. Die Mutter im Rollstuhl, ebenfalls in Netzstrümpfen, ein cremefarbiges Kostüm mit schwarzen Streifen, auf dem Kopf ein riesiger schwarzer Hut, der an einen Sombrero erinnert. Die Designerin Pam Hogg in Wahnsinnspumps, engen schwarzen Lederhosen, darüber ein bauschiges Ballerina-Röckchen und eine schwarze, durchsichtige Bluse und ein rüschenähnliches Gebilde als Hut, dazu eine riesige, schwarze Sonnenbrille. Stephen Fry in einem anthrazitfarbigen Nadelstreifenanzug. Einer in hellgrauem Anzug mit breiten schwarzen Streifen an den Hosenbeinen, dazu froschgrüne Socken. Ein Alter in grauem Frack und mit grauem Zylinder auf dem Kopf. Es gab hellblaue, rosarote, grüne, braune und hin und wieder diskrete dunkelblaue oder schwarze Anzüge. Ein anderer kam in schwarzem Frack, schwarzem Hemd, schwarzem Zylinder und einer Silberkette mit Totenkopf im Knopfloch. Ein dicker Priester in einer schwarzen Sutane, darüber ein weißes Hemd und eine violett-gelbe Schärpe um den Hals, ging neben der bunten Schar her. Es hätte mich nicht verwundert, wenn Horsley auch an seinem eigenen Begräbnisumzug mitmarschiert wäre.

Die Fotos von Horsleys Begräbnis erinnerten mich an ein sehr weit zurückliegendes Ereignis. Wir wohnten damals beim Tor in der Nähe von Hofstetten, an der schmalen Landstraße nach Brienz.
In der Nähe gab es noch zwei Häuser, sonst rundherum nur Wiesen und Wälder. Im Sommer musste man sich vor den Vipern in Acht nehmen, die in den Steinhaufen vor dem Gartenhäuschen lebten. Nachts kamen die Rehe in den Garten und fraßen die Salatköpfe ab. Im Morgengrauen machten die Vögel einen solchen Lärm, dass der Vater darüber zornig wurde. Damals gab es das Freilichtmuseum Ballenberg noch nicht, die Schweiz war sehr ländlich, fast ein Bauernland. Aber in den Städten tauchten die ersten Halbstarken auf, und die Beatles waren dabei, die Welt zu erobern.
Es war ein altes, großes Haus, in zwei Hälften unterteilt und mit einem wuchtigen Dach. Auf der anderen Seite wohnte eine Bauernfamilie namens Ueltschi. Sie hatten zwei Kinder, die viel älter als ich waren. Margrit musste dafür sorgen, dass ich in die Schule kam. Aus freien Stücken wäre ich da nie hingegangen. Jeden Morgen nahm sie mich fest bei der Hand und schleppte mich zum Schulhaus. Ich war Linkshänder, die Lehrerin setzte durch, dass ich mit der rechten Hand schreiben musste. So kam ich zum ersten Mal mit dem Zwang sozialer Institutionen in Berührung.
Eines Morgens stiegen mein Bruder und ich durch eine der Luken auf das riesige Dach hinaus und setzten uns auf die Kante, die über das tieferliegende Dach der Veranda hinausragte. Wir waren sechs- bzw. siebenjährig. Die Mutter war in der Waschküche, sott Leintücher im großen Waschkessel, den der Vater am Morgen aufgeheizt hatte, bevor er zur Arbeit gegangen war. Es bestand keine Gefahr, dass sie uns herunterrief.
Vielleicht besinnt sich die Mutter besser, sie behauptet nämlich, wir seien ganz oben beim First gesessen. Aber meiner Meinung nach liegt sie da ein wenig falsch. Alles, was sie darüber weiß, hat ihr die Tante berichtet. Vielleicht waren sie einfach nur aufgeregt und hatten Gesehenes und Vorstellung miteinander vermischt. Doch das ist bloß eine Vermutung, denn das Gespräch zwischen den beiden Frauen fand in der Waschküche statt.
Wir kannten die Gefahren. Es ist nicht so wie die Erwachsenen meinen, Kinder sind nicht nur leichtinnig, aber bei weitem nicht so ängstlich wie die Großen, weil sie freier und unbekümmerter sind. Diese Unbekümmertheit ängstigt die Erwachsenen, sie mahnen deshalb die Kinder – oft unnötigerweise – zur Vorsicht.
Wir saßen wie zwei Dachrinnenvögel da oben, jung und ahnungslos und hielten uns an den Schneesperrhacken fest, ganz verzaubert von der neuen Perspektive. Wir sahen die blühenden Wiesen, das helle Laub der Bäume, den dunklen Tannenwald und hinten im Tal glänzten die steilen Hänge unterhalb der Gummialp. Wir sahen die schmale Landstraße, die nach Hofstetten führt, beidseitig von Hecken und Zäunen begrenzt. Ich spürte zum ersten Mal den Vorteil, den Vögel haben.
Krähen saßen in den Bäumen, unruhige schwarze Flecken. Manchmal zogen sie mit nervösem Flattern und heiserem Gekrächze ein paar Kreise in die Luft. Aus der Ferne war ein lauter werdendes Geklapper von Hufen und ein hohes Knirschen von eisenbereiften Rädern zu hören. Zuerst sahen wir nur schwarze und unregelmäßige Punkte im jungen Laub, dann erschienen zwei dunkle Gäule. Sie zogen den schwarzlackierten, hochrädrigen Leichenwagen hinter sich her. Insgeheim hatten wir ihn erwartet, die nervösen Krähen hatten ihn angekündigt.
Ein schwarzgekleideter Kutscher saß vorne auf dem hohen Bock, uralt und untauglich zum Sterben – ein Verbündeter des Todes. Funkelnde Messingbeschläge und goldene Verzierungen gaben dem Wagen etwas Prächtiges und Erhabenes. Weiße und rosarote Nelken steckten in den Messinghaltern.
Es war der Nachbar unserer Tante, den man zu Grabe nach Brienz trug. Aber das erfuhr ich erst abends, als die Tante noch zu Besuch kam. Ich saß unter dem Tisch im Schutz des herabhängenden Tischtusches auf meinem emaillierten Nachtgeschirr und hörte den Gesprächen der Erwachsenen zu.
Hinter dem Leichenwagen schritten die Trauernden mit gesenkten Köpfen: Die Angehörigen des Verstorbenen und die Leute aus dem Dorf. Sie schienen alle mit einer unsichtbaren Kette an den Wagen geschmiedet zu sein. Ein paar Frauen weinten und wischten sich mit Taschentüchern die Tränen ab. Die hellen Taschentücher bildeten einen seltsamen Kontrast zur schwarzen Kleidung. Mit seinem Geräusch erinnerte der Wagen die Menschen, die hinter ihm her gingen, daran, dass auch sie eines Tages darin liegen würden. Dieses unmissverständliche und höhnische Gekreisch bekümmerte sie fast mehr, als die schmerzliche Lücke, die der Tote hinterlassen hat. Gebannt beobachteten wir den Trauerzug. Es war das erste Mal, dass wir dabei ungestört blieben. Aus Respekt vor den Trauernden hatten uns die Eltern verboten, Leichenzügen nachzuschauen. Sie zerrten uns sofort ins Haus, wenn einer vorbeikam. Wir waren neugierig. Es kamen nicht oft Leichenzüge vorbei.
Dort saß also der Tod, unter der krähenfarbenen Plane, auf dem verschlossenen Sarg. Wir kannten ihn bereits von alten Stichen her. Sein blank geschabter Schädel, sein Gerippe und die knochigen Finger, die die Sense umklammern. Er war uns so unsympathisch wie der gehörnte Teufel, vor beiden musste man sich in Acht nehmen.
Plötzlich nickte ein Trauerkopf beinahe unauffällig zu uns herauf. Ein paar Trauerköpfe drehten sich nach uns um. Eine Trauergestalt löste sich aus den Reihen und bog in den Platz vor unserem Haus ein.
– Kommt sofort herunter! Ihr dummen Bengels! Rief sie mit gedämpfter Stimme.
Tante Frieda. Der Kies knirschte wütend unter ihren Schuhen. Wir wussten, was uns erwartete. Sie rief nach der Mutter. Wir krochen eilig übers Dach und stiegen durch die Luke wieder ins Haus.
Zu spät!
– Ihr wisst haargenau, dass man bei Leichenzügen nicht Maulaffen feilhält. Und dazu noch auf dem steilen Dach. Wenn ihr nun herunter gefallen wäret?