Der Philosophenturm

Im Bus fuhr ich durch das Rebhügel- und Kuhweidenuniversum des Périgord. Ein strahlender Morgen, der einen heißen Tag versprach. Leuchtende Wiesen. Das Laub des Weins. Mitten im Grün die alten, grauen Dörfer.
Ich ging einer hohen Mauer entlang. Schattige Bäume. Blumenrabatten. Lärmende Schulkinder auf dem Rasen. Ich trat durch das Tor und da war das Schloss, wuchtig, herrschaftlich, mit vielen Türmen, deren kegelförmige Dächer in der Junisonne dunkel glänzten. Seltsam. Im Prospekt, den ich im Touristenbüro in Bergerac erhalten hatte, war ein eleganter, leichter Renaissancebau abgebildet. Ich faltete den Prospekt nochmals auf und sah, dass es sich um das „Château de Matecoulon à Montepeyroux“ handelte, das meiner Meinung nach besser zu Michel de Montaigne gepasst hätte als dieser imposante und abweisende Protzbau da.
Rechts neben dem Tor stand der runde Turm, in angemessenem Abstand zum Hauptgebäude. Ich musste an Thoreaus Hütte am Waldensee in Concord denken, an Spinozas Werkstatt in Amsterdam, an das Haus in Sils-Maria von Friedrich Nietzsche. Die Refugien der Philosophen.
Ist ein Turm nicht eher Symbol für Kerker und Eingesperrtsein? Michel de Montaigne fühlte sich darin vollkommen frei, hier fand er Ruhe und Einsamkeit.
Ruhe und Einsamkeit vor all den Dingen, die um ihn herum passierten. Es war eine grauenhafte Zeit: Religionskriege, Machtkämpfe und Intrigen zerrissen Frankreich. Montaigne versuchte mitten in dem blutigen Geschehen einen kühlen Kopf zu bewahren. Und wurde deshalb oft als Vermittler herbeigezogen. Irgendwann hatte er genug davon, er legte sein politisches Amt nieder und zog sich in seinen Turm zurück.
Ich habe mir diesen vorurteilsfreien und offenen Denker immer als einen Mann der Ebenen vorgestellt. Seine Einsichten gewann er im Gehen und Herumtreiben. „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn die Beine ihn nicht bewegen“, schreibt er. Für ihn war klar: „Die Welt ist nichts als eine ewige Schaukel. Alle Dinge schaukeln ohne Unterlass.“
Links vom Tor, in der flachen Remise, waren die Eintrittskarten zu haben: 12 Euro. Hätte man zwei Euro dazu gelegt, hätte man eine Flasche Wein bekommen – vom billigeren: „Château de Montaigne“. Der teurere kostete 20 Euro. Es gab auch Broschüren über Montaigne und Ansichtskarten.
Der dunkelhaarige Mann mit der roten Nase, der mir das Eintritts-Billette verkaufte, führte mich zum Turm und zog einen riesigen Schlüssel aus der Hosentasche. Wir betraten eine niedrige Kapelle mit einer hellblauen Kuppel. Kühles Dämmerlicht. Über dem Altar hing das Wappen der Familie Montaigne: Goldene Kleeblätter auf azurblauem Hintergrund und in der Mitte eine rote Löwenpranke. Über eine schmale Wendeltreppe stiegen wir zur ersten Etage hinauf: Wohn- und Schlafraum. Ein runder, weiß gestrichener Raum, der Boden war mit roten Fliesen ausgelegt. Neben dem mächtigen Kamin führte eine Tür zum Ankleideraum im angefügten, rechteckigen Seitenturm. Hier hatte sich Montaigne eingerichtet, nachdem er sich vom gesellschaftlichen und vom familiären Leben zurückgezogen hatte.
Der dunkelhaarige Mann sagte, dass die Wände zu Montaignes Zeiten mit bunten Fresken bemalt gewesen seien. Davon ist nur noch der Rest eines Motivs aus Ovids Metamorphosen übriggeblieben, die Szene, als Vulkan Venus und Mars im Bett überrascht hat. In einer Nische war ein Schacht in den Fußboden eingelassen, durch den sich Montaigne die Messe anhören konnte, ohne selber in der Kapelle anwesend sein zu müssen. Montaigne war ein bekennender Katholik gewesen. Zugleich respektierte er den Glauben der Hugenotten. Im Zwischenstock war der Abtritt – ein einfaches rundes Loch, das man in die Mauer gehauen hatte. Auch die Bibliothek im zweiten Stock war rund; rund, leer und still. Ich mochte den Raum auf Anhieb. Es störte mich nicht, dass die Bücher, die Montaigne besessen hatte, etwa tausend Stück, nicht mehr da waren. Im Gegenteil! Der Raum wirkte so luftiger, heller. Die Tochter hatte die Bücher nach seinem Tod verkauft. Ein Teil davon wurde später von der Bibliothek von Bordeaux erworben, viele mit handschriftlichen Bemerkungen von Montaigne. In die Deckenbalken hatte Montaigne Zitate von seinen Lieblingsautoren einbrennen lassen. Auch in den Essais zitiert er ausgiebig, vor allem Autoren aus der Antike. „Bei Montaigne stört mich das Fett der Zitate.“ Wer hat das gesagt? Ich weiß es nicht mehr.
Alte Stiche hingen an den Wänden, vom Schloss und Porträts von Montaigne. Unter einer Glasvitrine war ein wurmstichiger und stockfleckiger Foliant zu sehen, die Erstausgabe der Essais aus dem Jahre 1580.
Ich warf einen Blick aus dem Fenster, die Weinreben rund ums Schloss, die Hügel und Wälder, die spielenden Schulkinder. Dann betrachtete ich den Führer, der auf Montaignes Arbeitstisch saß, die Beine baumeln ließ und ungeniert gähnte. Ich fragte mich, wie lange er diese Arbeit wohl schon machte, der nicht mehr ganz junge Mann mit dem Gesicht eines Weintrinkers und den gelangweilten Gesten desjenigen, der Tag für Tag auf die gleichen Gegenstände hinweist und dabei immer das gleiche sagt.

Für die Weisheit braucht man nicht zwingend in den Osten zu gehen. Was nicht heißt, dass man es nicht tun soll. In Montaignes Versuchen ist alles da: Gelassenheit, Lebensweisheit und viel Nützliches für den Alltag.
„Die anderen gehen immer anderswo hin, ich kreise in mir selbst“, schreibt er: „Ich halte meinen Blick nach innen und da halte ich ihn fest und lasse ihn verweilen. Jedermann schaut von sich weg, ich schaue in mich hinein; ich habe es nur mit mir selber zu tun.“
Er fühlte sich überall, egal wo er sich aufhielt, in seinem ureigenen Element, er ruhte in sich selber. In seinen Essais hat er vor allem ein Thema: sich selber.
Vielleicht konnte er gerade deshalb alles mit der ihm eigenen vorurteilslosen Offenheit ansehen. Er zeigt sich gerade da offen, wo andere sich versteiften im Prinzipienhaften und ideologischen Wahn. Ich kenne keinen sonst, der so viel Nachsicht zeigt gegenüber den menschlichen Schwächen. Sein Denken hat dabei etwas Zielloses, Schweifendes. Er ging weder methodisch noch systematisch vor. Die Erregung des Augenblicks und der Zufall bestimmten seine Gedanken. Er mochte die elliptischen und gebrochenen Bewegungen, die sich aus dem Unmittelbaren und Unvermittelten ergeben, das Sprunghafte und das Unschlüssige. „Ich lege mich auf keine Linie fest: keine grade, keine krumme: Finde ich an einem Ort nicht das vor, was man mir darüber erzählt hatte (denn es geschieht oft, dass die Urteile anderer nicht mit den meinen übereinstimmen, ja meistens musste ich feststellen, das sie falsch waren), beklage ich deshalb keinesfalls die Mühe meines Umwegs: Ich weiß nun, dass das, was man mir sagte, nicht stimmt.“
Das Denken an sich war ihm immer etwas dürftig vorgekommen, wenn die Halterung im physischen Körper fehlte; auch wenn es ein von Nierenstein geplagter Körper war. Die Gedanken, die einem beim Gehen kommen, haben eine andere Substanz als jene, die man im Sitzen macht. Das wird auch bei Nietzsche so sein. Montaigne sah sich nicht als Philosophen. Er wollte über die Beschränkung der Abstraktion hinauskommen. Die Sinneswahrnehmung war ein Bestandteil seines Denkens, im offenen Feld braucht es wache Sinne und Aufmerksamkeit. Die Zeichen haben da nur bedingt die Signifikanz, die man ihnen zuspricht. Der Übersetzer Hans Stilett bezeichnet Montaignes Unterwegssein als „existentiellen Dauerzustand“. Welt- und Selbsterfahrung gehörten für ihn zusammen, das eine war vom anderen nicht zu trennen. Sein Denken ist Selbsterkenntnis und Erkundungsreise zugleich.
Neben den antiken Klassikern mochte Montaigne Reiseberichte. Es gab Tage, da bereute er es, Politiker statt ein Abenteurer geworden zu sein. Ein paar Jahre lang lebte im Schloss ein Mann, der in Brasilien gewesen war und der gerne von den Indianern erzählte.
„Sie sind Wilde, ebenso wie wir die Früchte, die die Natur aus sich und nach ihrem gewöhnlichen Gange hervorgebracht hat, wild nennen,“ schreibt Montaigne in seinem Essay Über die Menschenfresser“, „obwohl wir doch eher diejenigen, die wir durch unsere Kunstgriffe verändert und aus der gewöhnlichen Ordnung herausgerissen haben, wild nennen sollten. …. Diese Nationen scheinen mir also insofern barbarisch, als sie wenig Formung durch den menschlichen Geist erfahren haben und ihrer ursprünglichen Einfalt noch sehr nahe sind. Sie folgen noch den Gesetzen der Natur und sind durch die unseren noch kaum verderbt; sie tun dies in einer solchen Reinheit, dass es mich zuweilen betrübt, dass die Kunde von ihnen nicht früher zu uns gelangt ist, zu einer Zeit, als es noch Menschen gab, die besser darüber zu urteilen gewusst hätten als wir. …. Es ärgert mich nicht, dass wir die barbarischen Gräuel (Menschenfresserei) tadeln, die in einer solchen Handlung liegen, wohl aber ärgert es mich, dass wir, die wir so gut über ihre Fehler urteilen, für unsere eigenen so blind sind.“

Die einzige längere Reise, die Montaigne in seinem Leben gemacht hatte, war die nach Italien. Im September 1580 brach er mit vier befreundeten Edelleuten und ein paar Dienern auf, „ohne zu wissen, wohin die Fahrt ihn treibt, Abschweifungen sind das eigentliche“. Die Reise dauerte siebzehn Monate und acht Tage.
Obwohl Montaigne wusste, dass die Lust am Reisen, von der Unruhe und der Unentschlossenheit her kommt, und dass sie möglicherweise sogar von geringerer Geisteskraft zeugt, wollte er sich Abwechslung und Vielfalt, die eine Reise bietet, nicht nehmen lassen. „Das Reisen scheint mir eine nützliche Übung zu sein. Die Seele hat dabei ständig Gelegenheit, neue und unbekannte Dinge zu beobachten, und ich kenne, wie ich oft gesagt habe, keine bessere Schule des Lebens, als ihr unaufhörlich die Verschiedenheit so vieler anderer Lebensweisen, Sinnesarten und Gebräuche vor Augen zu stellen, und sie eine so dauernde Mannigfaltigkeit der Gestalten unserer Natur kosten zu lassen.“
Reisen war für ihn ein Heilmittel gegen die Abstumpfung durch die Gewohnheiten, gegen Missmut, deren Ursachen meist läppisch sind, ein Weg, um seinem Leben die nötige Balance zu geben. Er wusste, wie schnell man aus dem Tritt gerät. Auf Reisen blieb sein Stimmungsbarometer stabil.
Und hatte sich dieser gelassene und unbeschwerte Geist einmal in Bewegung gesetzt, dann wollte er nicht sofort wieder an die Umkehr denken. Nicht einmal die Angst, nie mehr heimzukehren, schien ihn zu plagen. „Ich unternehme eine Reise nicht, um zurückzukehren, und nicht, um sie zu vollenden; ich unternehme sie bloß, um mich zu bewegen, solange die Bewegung mir behagt, und streife umher, um umherzustreifen.“
Denn klar war für ihn auch: „Das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod. …. Die Besinnung auf den Tod ist die Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienen verlernt.“
Zum Verdruss seiner Begleiter änderte er täglich seine Pläne, die Neugier zog ihn hierhin, bald dorthin. „Am Reisen gefällt mir eben dies, dass ich ohne bestimmtes Ziel irgendwo anhalten kann, und dass ich Gelegenheit habe, mich angenehm zu zerstreuen. …. Die Einteilung meines Reiseplans lässt sich jederzeit und allerorts ändern. Er gründet auf keinen großen Erwartungen, jede Tagesetappe ist mir Ziel genug (und mit meiner Lebensreise halte ich es genauso).“
Montaigne wollte alles sehen und alles erfahren. Alltägliche Dinge, Liebessitten, Aberglauben, Technologien, Volksfeste, die Schönheit römischer Huren, das Schweißtuch der heiligen Veronika – alles wird aufmerksam registriert, manches spöttisch und anderes mit Befremden. „Könnten wir von der Welt so viel sehen, wie wir nicht von ihr sehen, so würden wir, wie leicht einzusehen ist, eine ständige Vervielfachung und einen unaufhörlichen Wechsel der Formen entdecken.“

Wir stiegen die Wendeltreppe wieder hinunter und traten auf den weiten sonnendurchfluteten Hof hinaus. Die Führung war beendet. Das Schloss durfte man nicht besichtigen. Für Besucher keinen Zutritt.
Ich ging außen herum zur Vorderseite des Schlosses. Eine weitflächige Terrasse, ideal für Sommerbälle. Auch hier eine Absperrung: „Privatbesitz“.
Man hatte einen wunderbaren Blick auf die Weinhügel, Haselbüsche, Laubbäume und Wiesen rundherum. Die Welt schien eine runde Scheibe zu sein, eine ptolemäische Idylle. Ein junges Pärchen saß auf der Mauer und küsste sich. Ich ging zur Remise zurück, händigte dem Mann das Blatt aus, das er mir zu Beginn der Führung gegeben hatte und kaufte eine Flasche Roten, vom teureren.