Cabourg – Balbec

Wer etwas erleben will, reist nicht nach Cabourg. Das einzige, was man hier tun kann, ist ausspannen, spazieren gehen und den Trabrennern oder den Surfern zuschauen. Die einen treiben ihre Pferde durch die auslaufende Brandung, die anderen versuchen sich weiter draussen auf den Wellen zu halten. Ausser dem endlosen Strand und der vier Kilometer langen Promenade hat der Ort nicht viel zu bieten. Wäre da nicht das Grand Hotel und hätte Marcel Proust hier nicht seine Sommerurlaube verbracht, ich wäre wohl nie auf die Idee gekommen, in das alte Seebad an der normannischen Küste zu reisen. Jede Reise ist eine Entzauberung.
Der reale Ort entspricht nie den Vorstellungen, die sein Name in uns geweckt hat; sobald wir ihn aufsuchen, verliert er seine Magie. Anstelle dessen tritt eine triviale Wirklichkeit, deren poetische Kraft wir zuerst erforschen müssen. Ich hatte in meiner Phantasie eine ganze Küstenlandschaft erschaffen und eine ziemlich lebendige Vorstellung von Balbec, dem literarischen Abbild von Cabourg. Der reale Ort hat wenig mit diesem Bild zu tun, nicht einmal die lange Strandpromenade verläuft so wie ich es mir vorgestellt habe. Was mich weit mehr stört, ist die Tatsache, dass Cabourg meine alten Bilder von Balbec überblendet und sie teilweise sogar ausgelöscht hat. Nur selten treten sie noch aus ihren blassen Umrissen und erhalten ihre einstige Frische wieder.

Das Festival de Film Romantique ging gerade zu Ende, als A. und ich an einem Sonntag im Juni in Cabourg eintrafen. Die Treppen des Grand Hotels waren mit roten Teppichen ausgelegt, vor dem Eingang standen Trauben von Menschen, die den Stars zujubelten, als die das Hotel verliessen. Das Hotel ist ein wahrer Palast. Die riesige Eingangshalle strömte noch den Luxus und die Eleganz der Belle-Epoque aus. Die wuchtigen Säulen waren mit Marmor verkleidet, schwere Kristalllüster hingen von der Decke, es gab weinrote Fauteuils, Plüschsessel, Mahagonitischchen und Chaiselongues. In der Mitte der Halle stand ein glänzender Flügel, rechts davon war die Rezeption. Unser Zimmer befand sich gleich gegenüber dem Zimmer Souvenir Marcel Proust, das wir besichtigen durften. Mit seinen schweren Vorhängen, dem violetten Bettüberwurf und den dunkel gebeizten Glasschränken sah es etwas düster aus. Laut Hotelprospekt war es nach den Beschreibungen von Proust restauriert worden. Als der junge Marcel dieses fremde Reich zum ersten Mal betrat, starrten ihn die Gegenstände im Zimmer, die ihn nicht kannten, misstrauisch und unfreundlich an. Er zog sich tief in sein Inneres zurück, um sich vor ihrer Feindseligkeit zu schützen, doch der Geruch von Vetiver spürte ihn auch noch in seiner letzten Rückzugsposition auf. Am Ende der Saison, als Marcel das Grand Hotel wieder verliess, musste er Entwöhnungsmethoden anwenden, denn er hatte inzwischen Freundschaft mit dem Zimmer und seinen Gegenständen geschlossen und ihre Einzelheiten stark in sein Denken aufgenommen. Jetzt, so viele Jahrzehnte später, war der Duft nach Vetiver verschwunden.
Vor unserem Fenster lag das kleine Städtchen, dessen Strassen wie ein geöffneter Fächer vom Hotel ausgehen. Der Park des Hotels hält die stattlichen Fachwerkhäuser der Nachbarschaft auf Distanz, was dem Grand Hotel etwas besonders Imposantes gibt. Im Osten ist das Städtchen Dive-sur-Mer zu sehen und im Süden trennt ein bewaldeter Hügelzug, der parallel zur Küste verläuft, das Landesinnere vom Meer ab.
Das Zimmer liegt am Ende eines langen Korridors, der mit einem roten Läufer ausgelegt ist. Auf der purpurroten Tapete ist ein orientalisches Teeservice aufgedruckt. An der rechten Wand hängen Fotos und Stiche von Proust und seinen adligen Freunden, die im Sommer verstreut an der Küste lebten. Die kleine Galerie wird von der schönen Gräfin Elisabeth de Clermont-Tonnerre angeführt. In ihrem Kleid und dem Collier mit den Fransen, das sie um die Stirn trägt, sieht sie wie eine orientalische Bauchtänzerin aus. Es folgt die Comtesse Elisabeth Greffulhe, die in ihrer Schönheit der Gräfin nicht nachstand, diese aber an Eleganz übertraf. Proust war bezaubert von ihr. Als junger Mann ging er nur deshalb in die Oper, um das Vergnügen zu haben, die Comtesse die grosse Treppe hinaufsteigen zu sehen. „Noch nie zuvor habe ich eine so schöne Frau gesehen“, schrieb er in einem Brief an ihren Cousin Graf Robert de Montesquiou, dessen Bild weiter hinten hängt. Der Graf wiederum stand der Comtesse in seiner mondänen Eleganz nicht nach; er war ein Ästhet, Dandy und Salonlöwe, ebenso gebildet wie eingebildet. Er war von einer flegelhaften Bosheit und attackierte seine Mitmenschen mit hämischen und kränkenden Bemerkungen. Er stammte aus einer alten französischen Familie und gehörte zum Hochadel des Faubourg Saint-Germain. Er schrieb Gedichte, die er jeweils mit einer schrillen Stimme deklamierte. Proust war zweiundzwanzig Jahre alt, als er dem um vieles ältere Montesquiou zum ersten Mal begegnete. Er war so fasziniert vom Grafen, dass er alles daran setzte, ihn näher kennen zu lernen. Ohne ihn – behauptet Elisabeth de Clermont-Tonnerre – wäre Proust weder als Person noch als Schriftsteller das geworden, was er war, noch hätte er jemals so ein Werk hervorgebracht. Es war eine unbeständige und unausgeglichene Beziehung, voller Zerwürfnisse und Versöhnungen, die sie miteinander verband. Montesquiou war ausser sich, als er sich im Werk von Proust als Baron du Charlus wiederfand, der faszinierendsten und rätselhaftesten Figur im ganzen riesigen Romangetriebe.
Ein anderes Foto zeigt den Surrealisten Philippe Soupault, der von bizarren und extravaganten Menschen angezogen wurde. Er lernte Proust im Sommer 1912 in Cabourg kennen. Es gibt auch ein Bleistiftporträt von Céleste Albaret. Sie hatte Proust in den letzten neun Jahren seines Lebens den Haushalt geführt und seine Manuskripte in Ordnung gehalten. Im September 1914 reiste er ein letztes Mal nach Cabourg. Es herrschte bereits Krieg und das Reisen war schwierig geworden. Célestes, die ihn begleitete, hatte ihr Zimmer im Grand Hotel gleich neben dem seinigen. Wenn er etwas wünschte, brauchte er nur an die Wand zu klopfen, so wie er es als Junge getan hatte, als die Grossmutter im Zimmer nebenan wohnte.
Er war noch ein Knabe, als die Grossmutter das erste Mal mit ihm nach Cabourg ging. Man hoffte, die raue Seeluft würde sein neurasthenisches Wesen beruhigen und dem Asthma gut tun. Zwischen 1907 und 1914 verbrachte er jeden Sommer im Grand Hotel. Man erzählte, dass er jeweils vier Zimmer auf einmal gemietet habe. Er war sehr lärmempfindlich. In einem wohnte er, die anderen drei dienten als Lärmschutz. Kein anderer Autor hatte ein so scharfes Auge für Gewohnheiten und ihren lächerlichen Seiten wie Proust und keiner war so sehr ein Gefangener von ihnen wie er; ein bis zur Qual durchorganisierter und geregelter Alltag, in dem jedes Detail seinen unverrückbaren Platz hatte. In Monsieur Proust wirft Céleste Alberet einen belustigten und zugleich mitfühlenden Blick auf diese Zwangswelt.

Im Schatten junger Mädchenblüte ist die Geschichte eines ewig leuchtenden Sommers am Strand von Balbec. Drei grosse M spielen darin eine zentrale Rolle: Das Meer, die Mädchen und die Malerei. Bei der erneuten Lektüre muss ich überrascht feststellen, dass die Ortsbeschreibungen von Proust äusserst spärlich sind, als Reiseführer geben sie nichts her. Wie ein kubistischer Maler hatte er aus verschiedenen Landschaften der normannischen Küste das Universum Balbec erschaffen. Obwohl die Eindrücke von der Küste und dem Meer den Verlauf der Erzählung bestimmen, war er an einer detaillierten Ortsbeschreibung ebenso wenig interessiert wie an einer exakten Chronologie. In diesem Teil der Suche nach der verlorenen Zeit werden mindestens drei Altersstufen seines Lebens miteinander verwoben: der kränkliche und empfindsame Knabe, der mit seiner Grossmutter in Balbec ankommt, ein fünfzehn- oder sechzehnjähriger Marcel, der von Milch- und Fischermädchen schwärmt und ein knapp zwanzigjähriger Mann, der mit Robert de Saint-Loup, seinem neuen Freund, Ausflüge ins benachbarte Rivebelle macht, bei den Diners zu viel Bier und Champagner trinkt und schliesslich der mysteriösen Albertine begegnet. Unsere Erinnerungen stellen sich unwillentlich ein, der menschliche Bewusstseinsstrom kennt keine chronologische Ordnung, erst der Verstand zwängt sie in dieses Korsett. Für Proust zählten nur die unbewussten, durch sinnliche Ereignisse ausgelösten Erinnerungen, sie sind die Grundlage seines Erzählens, die Chronologie verschiebt sich deshalb laufend von einer Ebene zur nächsten und bleibt damit unfassbar.

Es war ein heller, durchsichtiger Morgen mit einer frischen Brise und einem ruhigen flachen Meer, als wir Richtung Ouistreham wanderten. Der flache endlos wirkende Strand dehnte sich in einem weiten Bogen von der Mündung der Orne im Westen bis zum Hafen von Cabourg im Osten, wo die Dives ins Meer fliesst. Das Meer hatte sich weit nach draussen zurückgezogen, es machte den Anschein, als ob es sich noch weiter zurückziehen und schliesslich ganz verschwinden würde. Kolonien von Möwen sassen auf den Sandbänken, die wie Walbuckel aus dem Wasser ragten. Die riesige Wasserfläche hatte eine dunkle Farbe, sie war fast schwarz gegen den Horizont hin. Der Himmel war von einer geriffelten Wolkendecke bedeckt. Hinter Ouistreham verlor sich die Steilküste der Côte de Nacre im nebligen Dunst. Im Osten konnte man Deauville und Trouville sehen, etwas weiter entfernt die Brücke von Le Havre und nordöstlich davon die Falaises, die weissen Kreidefelsen, die sich bis Tréport erstrecken. Hohe mit matt glänzendem Riedgras überwachsene Sanddünen versperrten den Blick landeinwärts. Während wir uns langsam vom Grand Hotel entfernten, musste ich an die Zeilen denken, die ich am frühen Morgen gelesen hatte. Proust vergleicht darin die Wellen des Meeres mit Staffeln verschneiter, gleissender Bergspitzen, deren Flanken im Sonnenlicht smaragdfarbig aufschimmern.
Ich sog die Seeluft tief in mich ein und hatte das Gefühl, nicht nur die jodhaltige Luft einzuatmen, sondern den weiten leeren Raum des Ozeans samt dem perlmuttfarbigen Himmel und der sich ausstreckenden Küste, die Proust zu seinem wunderbaren Werk inspiriert hatte. Der Sand war fest und hart und angenehm zum Gehen, unter den Füssen knirschten die leeren Muschelschalen. Ich überliess mich ganz dem Rhythmus des Gehens, der Atem passte sich den Bewegungen der Beine an und die Gedanken verloren ihre Schwere, nichts war mehr von Bedeutung. Aus der Ferne wirkte Cabourg klein und unbedeutend, es verschmolz mit dem dahinter liegenden Houlgate zu einem Ort. Die Menschen am Strand waren so winzig wie die Figuren, die Alberto Giacometti Ende der dreissiger Jahre schuf, man hätte sie in eine Zündholzschachtel stecken können. Wir hatten den Eindruck, es sei nur eine kurze Strecke bis nach Ouistreham – ein Spaziergang von höchstens einer halben Stunde über die durch die Ebbe freigelegten Sandbänke und wir sind dort – und beschlossen, in Ouistreham Mittagessen zu gehen. Zuerst trennte uns die Mündung der Orne von unserem Ziel, dann eine weite Lagune, deren Ufer mit Brombeergestrüpp überwachsen war und schliesslich mussten wir noch lange der Orne entlang flussaufwärts gehen, bis wir zu einer Brücke kamen. Aus dem kurzen Spaziergang war eine Wanderung von fünf Stunden geworden. A. und ich blieben nicht lange in Ouistreham. Der weite Weg hatte uns ermüdet und das Hafenstädtchen sah nicht mehr so hübsch und einladend aus wie im frischen Morgenlicht. Für das Mittagessen war es viel zu spät. Wir kauften in einer Bäckerei ein paar Süssigkeiten und traten den Rückweg an: Per Autostopp.

Was Cabourg fehlt, ist in Dive-sur-Mer zu finden: einen mittelalterlichen Stadtkern. Das Städtchen liegt ein paar Kilometer landeinwärts im Mündungsgebiet des Dives und diente Proust als Vorbild für sein Balbec-en-Terre. Im Village Guillaume le Conquérant, einem breughelschen Fachwerkbau mit Innenhof, werden wir von einem Händler in seinen Laden gezerrt. Er bietet uns alte Briefmarken, Postkarten, Klöppelarbeiten und Silberschmuck an: „Alles sehr wertvoll, Raritäten aus der Zeit von Marcel Proust, die Sie auf keinen Fall verpassen dürfen“.
Proust hatte regelmässig im Gasthof des Villages gegessen, der alten Einrichtung und der besseren Malzeiten als im Palasthotel wegen. Durch eine schmale Gasse kamen wir zur gotischen Kirche Notre Dame. Der mächtige Bau war verwittert, die Fassade schwarz, einige Fenster eingeschlagen. Wir möchten uns den hölzernen Christus ansehen, den Fischer – einer Legende nach – im Jahr 1001 in ihrem Netz fanden, als sie es aus dem Wasser zogen. Aber das Kirchenportal war verschlossen. Der junge Marcel hatte sich immer vorgestellt, die Kirche stünde direkt am Meer und der Kirchturm rage wie eine trutzige normannische Klippe empor, die vom Sturm gepeitscht, von kreischenden Vögeln umkreist und dessen Grundmauern vom Schaum der hoch hinauf leckenden Wogen getroffen würde. Als er am späten Nachmittag in Balbec-en-Terre eintraf, musste er zu seiner Enttäuschung feststellen, dass die Kirche nicht direkt am Meer stand, sondern fern vom Ufer zwischen dem Rathaus und einem Krämerladen und dass es neben Balbec-en-Terre noch Balbec-Plage gab, das ein paar Meilen entfernt lag.

Eines Tages stiess Marcels Grossmutter in der Hotelhalle fast mit Madame Villeparisis zusammen, einer alten Freundin von ihr. Madame Villeparisis besass eine zweispännige Kalesche. Sie lud Grossmutter und Enkel zu Ausflügen rund um Balbec ein. Ein Ausflug führte sie nach Carqueville. Sie besichtigten dort die frühgotische Kirche, die damals ganz mit Efeu überdeckt war. Man konnte ihre Umrisse nicht mehr erkennen. Eines Tages fuhren A. und ich im Bus nach Criqueboeuf. Der kleine Ort liegt auf den Felsen zwischen Trouville und Honfleur. Die Kirche von Criqueboeuf diente Proust als Vorbild für die von Craqueville. Zu meiner Enttäuschung war sie fast nackt, bloss an zwei Stellen hing noch etwas Efeu herab. Dafür war das Innere von einer schlichten Schönheit, die alten Fliessen und die dunklen Holzbänke bildeten einen wunderbaren Kontrast zu den weiss getünchten Wölbungen der Decke.

Im Sommer, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, die Tage warm sind und schier endlos wirken und es am ganzen Strand keinen einzigen Flecken Schatten hat, gibt es nichts angenehmeres, als die Nachmittage auf der Terrasse des Café de la Digue zu verbringen, die zu dieser Stunde ganz im Schatten des Grand Hotels liegt. Der weite blaue Ozean, vorüberziehende Wolken am Himmel, Badende, die im Sand liegen, eine gewisse Müdigkeit, die einem befällt, sobald man sich hingesetzt hat, lässt das Leben zu etwas Ungreifbarem werden, zu einem Traum, ohne dass man sagen könnte, woher dieses Gefühl plötzlich kommt, noch was der Anlass dafür ist. Auf der Menükarte des Cafés, die aufrecht in einem Halter steckte, war ein Porträt von Proust abgebildet. Es sah seltsam aus, sein Gesicht unzählige Male vervielfältigt auf den Tischen stehen zu sehen, dieses bleiche eulenhafte Gesicht mit den dunkel umrandeten Augen. Philippe Soupault erzählt, dass gegen sechs Uhr abends jeweils ein Rohrsessel auf die Terrasse gestellt wurde. Dann habe sich Proust in seinem hellen Mantel aus Vigognewolle mit dem lilafarbigen Futter genähert, um im Sessel Platz zu nehmen. Er mied die Sonne, obwohl er stets leicht fror. Die Kellner hofierten ihm, weil sie ein dickes Trinkgeld erwarten konnten. Die anderen Hotelgäste hielten ihn für einen komischen Vogel, keiner ahnte, dass er schrieb, noch welche Bedeutung er bald einmal für die Weltliteratur haben würde. Was sie wohl am meisten verwundert haben muss, war die Tatsache, dass sich die mondänen Damen aus dem Hochadel zu ihm setzten, um mit ihm zu plaudern. Die Fragen, die er ihnen stellte, kamen Soupault kindisch vor. Proust wollte von einer Gräfin wissen, welches Blumenmuster ihr Kleid gehabt habe, das sie vor zwanzig Jahre zu einem bestimmten Anlass getragen habe.
Ich fragte mich, wo der junge, schüchterne Marcel gestanden habe mochte, als er sehnsüchtig auf die Schar junger Mädchen wartete, die einem Vogelzug gleich am unteren Ende der Promenade auftauchten und die in ihm ein Begehren weckten, das mehr war, als das nach Schönheit, Eleganz, Küssen oder einem nackten, jugendlichen Körper. Er wusste nie genau, wann sie kommen würden und wartete oft viele Stunden vergeblich auf sie. Meistens trug er einen Anzug, der etwas zu schick war für das Strandleben. Eines der jungen Mädchen aus dieser blühenden Schar war Albertine, in das er sich verliebte. Als er viele Jahre später ein zweites Mal nach Balbec reist, wirft seine von Eifersucht, Neid und Verdächtigungen zernagten Liebe zu Albertine einen dunklen Schatten auf den Strand von Balbec.

Am Abend assen wir jeweils im Grand Hotel. Der grosse Speisesaal, dessen hohe Bogenfenster auf die Promenade hinausgehen, heisst Salle de Marcel Proust. Es ist ein riesiger, weiss gestrichener Saal mit Stuckverzierungen und einem sich spiegelnden Parkettboden, von der Decke hängen Alabasterlüster, deren Form an Jakobsmuscheln erinnern, die rahmig weissen Gazévorhänge, die beidseitig der Fenster hinunter flossen, bewegten sich leicht in der Meeresbrise. Immer noch gleicht der Saal dem „Aquarium“, das Proust beschrieben hat, immer noch werden die im Saal essenden Gäste von den auf der Promenade spazierenden Leuten wie Wundertiere betrachtet und mit neidischen oder erstaunten Blicken belegt. Aber „das sich langsam in goldenem Hin- und Herwogen entfaltende Luxusleben“, von dem Proust erzählt, war längstens vorbei; die Speisenden trugen Freizeitkleidung, die sich von jenen auf der Promenade nicht wesentlich unterschied. Nach dem Essen spazierten wir die lange Strandpromenade ab, um der Verdauung der für uns ungewohnten mehrgängigen Menüs durch körperliche Aktivität nachzuhelfen. Jetzt im Juni, um die Sonnwende herum, war es noch hell, als wir auf die Promenade hinaustraten. Die Sonne versank als ungeheurer roter Ball im Meer, es schien, als ob sie auf dem Wasser noch ein wenig auf und ab hüpfen würde, bevor sie schliesslich ganz versank und einen lachsfarbenen Streifen Licht am Horizont zurückliess, der allmählich erlosch. Auf dem Meer, das infolge der Flut bis zur Promenade hochkam, spiegelte sich ein matter Glanz des letzten Restes Licht am Himmel. Ich hielt einen dunklen Streifen des Meeres für eine fremde Küste und bei einer hellen zerfliessenden Zone konnte ich nicht erkennen, ob sie noch Meer oder bereits Himmel war. Doch mein Verstand löschte diesen neuen Kontinent rasch wieder aus und zog eine klare Linie zwischen Meer und Himmel. Darin war Proust genial. Er hatte ein feines Sensorium für solche ersten Eindrücke und ursprüngliche Wahrnehmungen, die der Verstand sofort als irrlichternde Täuschung wegfegt.

Im Buch gibt es einen Maler namens Elstir. Als Marcel eines Tages das Atelier betritt, ein kühler, dämmeriger Raum, in dem die Luft wie ein geschliffener Kristall wirkt, ist der Künstler dabei, einen Sonnenuntergang zu malen. Marcel betrachtet lange das Bild Der Hafen von Carquethuit, auf dem das Städtchen mit maritimen Ausdrucksmitteln und das Meer mit architekturalen dargestellt sind. Elstir wollte die Dinge nicht so malen, wie sie seinem Wissen nach sind, sondern den optischen Täuschungen der ersten Wahrnehmung nach.
Als wir Cabourg verliessen, sah ich an einer Säule das Plakat des diesjährigen Filmfestivals hängen. Eine junge, blonde Frau war darauf abgebildet. Sie stand auf einem langen Holzsteg. Sie klammerte sich an ihren Schirm, den der Wind umgestülpt hatte und ihr aus den Händen zu reissen drohte. Das Plakat erinnerte mich an das Bild Junge Frau mit Schirm auf einer Mole von Paul Helleu; Proust hatte den Maler oft in seinem Atelier in Cabourg besucht. Als Proust auf seinem Totenbett lag, fertigte Helleu eine Radierung von ihm an. Der Grundton auf dem Plakat war von einem matten Orange, der auf dem Bild von Helleu ein blasses durchsichtiges Blau, aber die beiden grazilen Gestalten, da draussen zwischen Himmel und Meer, wirkten wie Luftgeister, die der Wind gleich davon wehen wird.