Vier Uhr morgens. Es ist dunkel und still.
Ich liege auf der weinroten Recamière im Wohnzimmer und begleite Nina Sergejewna (eine Übersetzerin) auf ihren Spaziergängen durch den tief verschneiten Wald, den es in der Nähe des Sanatoriums für sowjetische Künstler gibt, wo sie ihren Urlaub verbringt. Das Sanatorium liegt etliche Bahnstunden von Moskau entfernt in einer abgelegenen, ländlichen Gegend. Februar 1949.
Sie hat ein Zimmer für sich allein, angenehm groß und geheizt. Sie muss nicht – wie in der Gemeinschaftswohnung in Moskau – dreimal am Tag den Schreibtisch in einen Esstisch verwandeln. Keine keifenden Weiber reißen sie aus der Konzentration. Im Gegensatz zum Leben in Moskau, wo ein chronischer Mangel am Notwendigen herrscht, fehlt es im Sanatorium an nichts. Sie kann sich ganz auf die eigenen Gedanken konzentrieren, das Buch schreiben, das man gerade liest. Weiterlesen
Sowjetunion
Ein russischer Wanderer
Unruhige Jugend von Konstantin Paustowskij entdeckte ich mit neunzehn Jahren in einer Buchhandlung in Luzern.
Der Titel gefiel mir. Er entsprach meiner eigenen Situation. Ich schlug das Buch auf, las die erste Seite und wusste auf Anhieb, der Klang dieser fließenden, herbstfarbigen Prosa würde mich von einer Seite zur nächsten tragen. Es geht um einen träumerischen und romantisch veranlagten jungen Mann, der von Büchern und Versen lebt und sich der Ungebundenheit und dem Unterwegssein verpflichtet fühlt. Er liebt die Natur und ist voller Neugier auf die Welt. Und er will Schriftsteller werden. Wanderer und Schriftsteller. Die Mutter fürchtet, dass nie etwas Rechtes aus ihm würde. Doch eine Wahrsagerin in Jefremow, Weiterlesen
Wer alt werden will, muss nach Asien reisen
„Ins Unbekannte hinausziehen, das ist neues Leben. Alles ist Wiederbeginn, ich weiß nicht, was vor mir liegt.“ Ella Maillart
An einem strahlenden Septembermorgen kamen wir über den Furkapass. Das Wallis dehnte sich vor uns aus. Blaue Bergflanken, weiße Spitzen, Granit.
Wir sahen die Nadelkurven der Passstraße hinunter ins Tal, rechts davon der schwindsüchtige Rhônegletscher. Es folgte das satte Grün des Obergoms, weidende Kühe, dunkle Holzhäuser auf pilzartigen Steinsockeln. Bei Sierre hätten wir um ein Haar die Abbiegung ins Val d’Anniviers verpasst. Eine enge Straße führte am bewaldeten Westhang des Illhorns in eine Höhe von Zweitausend Metern über Meer. Dort liegt Chandolin auf einer schmalen, abschüssigen Terrasse.
Wir gingen zum alten Teil des Dorfes hinunter. Die Kapelle Sainte-Barbe ist jetzt ein Museum, in Erinnerung an Ella Maillart, einer der mutigsten Frauen in der Literatur. Weiterlesen