Wenn ich als Knabe krank war, las ich nichts lieber als Bücher über die Indianer. Ich wäre gerne ein Indianerjunge gewesen, der auf den Rücken seines Ponys springt und in die Prärie hinaus galoppiert oder mit seinen Freunden in den Flüssen um die Wette schwimmt. Zwischen Fieberanfällen und Schlaf verfolgte ich die Lebensgeschichten der großen Häuptlinge, ihre Namen haben sich tief in meinem Inneren abgelagert: Tashunka Witko, Tatanka Yotanka, Mapya Luta, Gokhlayeh.
Als ich etwas älter war, schenkte mir die Mutter Ich rufe mein Volk von Schwarzer Hirsch. Leben, Visionen und Vermächtnis des letzten großen Sehers der Oglala-Lakota. Im Englischen heisst es schlicht Black Elk speaks. Jetzt lese ich das Buch wieder. Die Lektüre ruft Bilder in mir wach, grossartige und aufwühlende Bilder. Dichtung und Wahrheit sind in diesem Buch auf eine einzigartige Weise verwoben. Dieser Jäger, Krieger und Heiler war ein großartiger Poet. Das Tipi – Symbol einer verschwundenen Kultur, für mich eine der schönsten überhaupt. Ein naiver Romantizismus? Vielleicht.
Im August 1930 war John Neihardt, Anthropologe und Schriftsteller, auf der Pine Ridge Reservation, South Dakota unterwegs, um Schwarzer Hirsch (Hehaka Sapa) zu besuchen.
John Neihardt beschäftigte sich seit dreißig Jahren mit den Indianern. Zu der Zeit schrieb er an einem Gedicht über die Geistertanzbewegung.
Schwarzer Hirsch hatte aktiv an dieser Bewegung teilgenommen.
Neihardt wurde von Flying Hawk begleitet, einem Übersetzer; Schwarzer Hirsch sprach kaum Englisch. Flying Hawk bezweifelte, dass der alte Mann gewillt sei, über die Vergangenheit zu sprechen. Kürzlich hatte er eine Journalistin nach Manderson Creek gebracht, die einen Artikel über Crazy Horse schreiben wollte. Der berühmte Kriegshäuptlings war ein Verwandter von Schwarzer Hirsch gewesen. Aber Schwarzer Hirsch mochte nicht darüber reden, und die Frau ging wieder fort.
Als sie ankamen, saß Schwarzer Hirsch unter ein paar Kiefern, die in der Nähe seiner Hütte wuchsen. Auf dem Rückweg sagte Flying Hawk: „Es war seltsam, ich hatte den Eindruck, der Alte schien gewusst zu haben, dass wir kommen würden.“
Sie setzten sich. Nach langem Schweigen sagte Schwarzer Hirsch, er spüre, dass Neihardt den Wunsch habe, mehr über eine Welt zu erfahren, die mit dem Verstand nicht fassbar und dass dieser Wunsch aufrichtig sei. Und er begann zu erzählen. Vielleicht fühlte er, wenn er sein Wissen und seine Erfahrung bewahren wollte, musste er sie jemandem anvertrauen, der es aufschrieb. Vieles von dem, was er Neihardt erzählte, hat er früher geheim gehalten. Nicht einmal Verwandten oder engen Freunden hat er etwas davon gesagt.
Geboren wurde Schwarzer Hirsch 1863 am Little Powder River. Er gehörte zu den Oglala, dem westlichsten Stamm der Lakotas. Er hatte noch die alten glücklichen Tage erlebt, als die Lakotas in ihren Tipi-Dörfern lebten, auf Bisonjagd gingen und über die schier endlosen Ebenen zogen. Der Bison gab ihnen Nahrung, Kleidung und Obdach. Weil die Büffel sich ständig fortbewegten, passten sich die Prärieindianer ihnen an und führten ebenfalls ein Wanderleben.
Als der letzte Bison getötet war, war ihre materielle Grundlage zerstört. Laut Schätzungen wurden zwischen 1830 und 1883 etwa 75 Millionen Bisons von weißen Jägern und Sportsschützen aus lauter Lust am Töten niedergemetzelt.
Schwarzer Hirsch musste den Niedergang seines Volkes mit ansehen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drangen immer mehr Uatschitschuns ins Lakota-Gebiet ein. Der Konflikt zwischen den Weißen und den Indianern war grundlegender Natur. Auf der einen Seite eine Zivilisation, die auf Sesshaftigkeit, Privateigentum, Plünderung natürlicher Ressourcen und Habgier beruht und diametral gegenüber, eine Nomadenkultur, in der die Anhäufung von mehr Besitz als tatsächlich nötig ist, eine Behinderung darstellt. Die Indianer, eng mit der Natur verbunden, besaßen nichts, was nicht vom Mensch, Hund oder Pferd getragen werden konnte. Die Weißen fragten nicht, wem das Land gehörte, sie nahmen es einfach in Besitz, wenn nötig gewaltsam; die Indianer, die in diesem Land als freie Jäger und Sammler umherstreiften, wurden brutal verdrängt.
Schwarzer Hirsch war dreizehnjährig, als die US-Armee unter der Führung von General Custer in der Schlacht am Little Bighorn eine empfindliche Niederlage einstecken musste. Danach wurden große Truppenkontingente zusammengezogen und die Indianer erbarmungslos verfolgt. Ein Dorf nach dem anderen wurde aufgespürt und überfallen. Die Soldaten töteten Männer, Frauen, Kinder und Alte, steckten die Tipis in Brand und zerstörten die Nahrungsmittelvorräte. Alle großen Häuptlinge mussten aufgeben: Stumpfes Messer mit seinen Cheyenne, Spotted Tail von den Brulés, am Schluss ergab sich auch Crazy Horse, der von den Weißen am meisten gefürchtete Indianer, einzig Sitting Bull konnte nach Kanada ausweichen. Man nahm ihnen Waffen und Pferde weg und sperrte sie in Reservate.
Aus den stolzen Kriegern und Jägern, die mit einem verwegenen Mut und einer Verachtung gegenüber den Härten des Lebens ausgestattet waren, wurde ein Haufen verarmter und zerlumpter Hungerleider, aller Freiheit und Rechte beraubt. Sie waren nun Krieger ohne Waffen, Menschen ohne Vision, Jäger ohne Aufgabe. Schwarzer Hirsch sagt: „Wir sind Kriegsgefangene, während wir hier warten. Aber es gibt eine andere Welt.“
Die äußeren Ereignisse spielen in der Erzählung von Schwarzer Hirsch eine sekundäre Rolle, er hätte die Geschichte seines Lebens nicht erzählt, wenn es nur darum gegangen wäre.
Schwarzer Hirsch war ein Heiliger im ursprünglichen Sinn des Wortes, ein wichasa wakan. Er konnte weder lesen noch schreiben, aber er besaß eine umfassende Lebenserfahrung. In seiner Erzählung kommt eine tiefe Einsicht in die Natur der Dinge zum Ausdruck, eine Unmittelbarkeit des Verstehens und Erkennens, die in unserer Zivilisation nicht mehr möglich ist. Es ist die Geschichte eines besonnenen alten Mannes, der die Vernichtung seines Volkes mit großem Schmerz erfahren hat und den diese Erfahrung doch nicht vernichtete.
Im Traum erhält der Indianer die Kraft, die ihn befähigt, erfolgreich zu sein. Durch Ehrgeiz und Willensanstrengung allein bringt man in seinen Augen nichts Rechtes zustande. Die großen Häuptlinge des 19. Jahrhunderts bezogen ihre Führungsqualitäten aus der Begegnung mit Traumbildern.
Im Alter von fünf Jahren hörte Schwarzer Hirsch Stimmen, von denen er nicht wusste, woher sie kamen und was sie bedeuteten. Mit neun Jahren hatte er eine große Vision, die ihn physisch an den Rand des Todes brachte. Sie wurde sein Schicksal und verlieh ihm übernatürliche Kräfte. Als Leser ist man ob der Klarheit und der Intensität der Bilder verblüfft, der Tatsache, dass Schwarzer Hirsch sich mit fast siebzig Jahren noch deutlich an die Einzelheiten des Traumes erinnern konnte. Die Symbolik seiner Vision zeigt, wie stark ein Indianer in der geistigen und kulturellen Tradition seines Stammes verwurzelt und wie tief die Seelenlandschaft des Einzelnen von den kosmologischen Vorstellungen seines Volkes geprägt ist.
Während er heranwuchs, nahmen seine übersinnlichen Kräfte stetig zu. Er hörte Stimmen, die aus den Wolken kamen, Tiere, die ihn warnten, wenn Gefahr drohte oder ihm sagten, wenn Hilfe in unmittelbarer Nähe war. Lange Zeit erzählte er niemandem etwas davon, aus Furcht, für einen Spinner gehalten zu werden. Erst als die Ängste immer quälender wurden, wandte er sich an einen alten Weisen. Der riet ihm, sein Traumgesicht in Form von Tänzen und szenisch-rituellen Aufzügen öffentlich darzustellen, dann würde die Furcht vergehen. Tatsächlich verschwanden seine Ängste danach. Zugleich konnte er jetzt die Kraft nutzen, die er durch das Traumgesicht erhalten hatte, um Kranke zu heilen. Die Heilkunde der Indianer beruht auf einer dem abendländischen Denken fremdartiger aber durchaus erfolgreicher Anwendung magisch-kosmischer Wechselwirkungen.
Als junger Mann schloss er sich der Wildwestshow von Buffalo Bill an. Vielleicht würde er im Kontakt mit den Uatschitschuns etwas von deren Geheimnis erfahren, das ihm später nützlich sein konnte. Drei Jahre lang war er unterwegs, in den Städten an der amerikanischen Ostküste und in Europa. Sie gaben in New York, Chicago, London und Paris Vorstellungen. Er fühlte sich bei der Schaustellertruppe wohl, aber es war nicht das Leben, das er sich für seine Zukunft vorstellte. In London besuchte Großmutter England (Königin Victoria) die Show. Sie war tief beindruckt vom Stolz und der Würde, die die Indianer ausstrahlten und lud sie in ihren Palast ein.
In Paris wurde Schwarzer Hirsch krank, er verlor zeitweilig das Bewusstsein, seine Freunde glaubten, er würde sterben. Im Traum flog er über den Atlantik zurück in seine Heimat. Er sah die Plains, das Dorf, in dem seine Eltern wohnten, die Mutter stand vor ihrem Tipi. Er sah, dass seine Leute an Hunger und Krankheiten litten. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war für ihn klar, dass er heimkehren musste, um seinen Leuten zu helfen.
Im Frühjahr 1889 wurde den Lakotas die so genannte „Sioux Bill“ aufgezwungen, das einheitliche Gebiet in fünf kleinere, voneinander getrennte Reservate unterteilt, damit ging der stammesmäßige Zusammenhalt verloren.
Schwarzer Hirsch arbeitete nach seiner Rückkehr in einem Warenlager der Weißen. Er heilte die Kranken und sann über sein Gesicht aus der Knabenzeit nach.
Die Ghost-Religion war von einem Paiute namens Wovoka (von den Weißen wurde er Jack Wilson genannt) ins Leben gerufen worden. Als er eines Tages seinen Hut vom Kopf nahm und ihn umdrehte, erblickte er darin eine neue Welt, die wie ein Wirbelsturm von Westen her kam und alles samt den Weißen fortfegte, er sah grüne Prärien, riesige Bisonherden, Indianer, die glücklich in ihren Tipis lebten. Eine Stimme sagte ihm, die Indianer sollen tanzen, und wenn sie lange genug tanzten, würden die Toten auferstehen, die Bisons zurückkehren, und die Indianer wieder als freie Jäger über die Prärie streifen. Überall fingen die Indianer zu tanzen an, auch in den Reservaten der Lakotas. Nach anfänglicher Skepsis streifte auch Schwarzer Hirsch ein Geisterhemd über und beteiligte sich an den Tänzen.
Den Regierungsbeamten des Indian Service war die Sache nicht geheuer, sie bekamen es mit der Angst zu tun und forderten Truppen an. Bei dem brutalen Gemetzel, das die US-Armee am 29. Dezember 1890 am Wounded Knee River anrichtete, wurden über dreihundert Frauen, Kinder und Männer aus der Schar des Häuptlings Big Foot niedergemetzelt.
„Der Ring des Volkes ist zerbrochen und zerfallen, da gibt es keine Mitte mehr, und der heilige Baum ist tot“, sagt Schwarzer Hirsch resigniert.
Hier bricht seine Erzählung ab. Wir erfahren nichts über die Jahre danach. 1892 heiratete er Katie War Bonnet. Als sie 1903 starb, trat er der katholischen Kirche bei. Ein Jahr später wurde er vom Jesuiten Joseph Lindebner, der im Lakota-Gebiet eine Mission betrieb, auf den Namen Nicholas getauft. Schwarzer Hirsch arbeitete fortan als Katechet.
Die jesuitischen Missionare waren ob Neihardts Buch irritiert, sie konnten kaum glauben, wie tief ihr Musterkatechet noch in der Tradition der Laktota-Religion verwurzelt war. Sie ließen ihn ein Dokument unterzeichnen, in dem er sich ausdrücklich zum katholischen Glauben bekannte.
Schwarzer Hirsch starb am 19. August 1950.