Am 19. Mai 1931 brach der französische Ethnologe Marcel Griaule zu seiner zweiten Forschungsreise nach Afrika auf, die quer durch den schwarzen Kontinent führte und fast zwei Jahre dauerte. Zum fünfköpfigen Forscherteam gehörte auch sein Freund Michel Leiris, Surrealist und Selbstzweifler. Griaule hatte ihn als Sekretär und Archivar engagiert.
Die Reise hatte einen offiziellen Charakter und wurde vom französischen Staat unterstützt. Sie führte von der Hafenstadt Dakar nach Bamako, der Hauptstadt des heutigen Mali, durch Obervolta (heute Burkina Faso) in die alte verfallene Sklavenstadt Ouidah am Golf von Guinea, wo sie einen Teil ihrer Forschungsbeute nach Frankreich verschifften. In einem weiten Bogen ging es in die nördlichen Grenzgebiete Kameruns, durch grasbestandenes Hügelland nach Bangui und durch endlose Savannen und Buschwälder an den Weißen Nil. Ein Dampfschiff brachte sie nach Malakal. Die ganze Strecke durch das abessinische Hochland mussten sie zu Fuß oder auf dem Rücken eines Maultiers machen.
Es gab Gegenden, die von Gelbfieber und Hungersnöten geplagt wurden. Gewitter und Wirbelstürme fegten über das Land. Wege, Brücken und Dämme mussten repariert werden, um weiterzukommen. Sie hatten gegen Staub und Hitze anzukämpfen, blieben im Schlamm stecken und mussten die Autos schieben. Sie litten an Fieber, Durchfall, Krätze, Wanzen und hatten Milben unter den Zehen. Entbehrung und Abstumpfung nagten an ihnen. In manchen Dörfern war der Empfang herzlich und freundschaftlich, in anderen feindselig, man lief vor ihnen davon.
Michel Leiris fragte sich mehrfach, was ihn im Innersten zu dieser Reise bewogen, welche Zirkelschlüsse den Ausschlag gegeben hatten. Eine berufliche Karriere als Ethnologe war es nicht, obwohl er nach seiner Rückkehr eine Anstellung im Musée des hommes in Paris antrat, die er sein Leben lang behalten sollte und Essais zu ethnologischen Themen veröffentlichte. Er war ohne eine genaue Vorstellung aufgebrochen, was ihn auf dieser Reise quer durch Afrika erwarten würde. Er hoffte, unterwegs eine tiefgreifende persönliche Wandlung zu erfahren. Er wollte weg aus Paris, wo er 1901 geboren worden war, die Scheinwelt seines Intellektuellendaseins hinter sich lassen; die Literatur mit dem wirklichen Abenteuer tauschen, in Kontakt mit Menschen anderer Kulturen kommen, Denken und Empfinden einer Frischkur unterziehen und seinen „Gesichtskreis auf ein wahrhaft menschliches Maß erweitern“. Das Ergebnis dieser Reise ist ein Dokument von über 700 Seiten: Phantom Afrika. Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibuti.
In Paris hatte er den Surrealisten angehört, an Séancen, öffentlichen Protesten und Saalschlachten teilgenommen, Gedichte, Aufsätze und den Roman Aurora veröffentlicht. Als Folge einer psychoanalytischen Behandlung begann er kurz vor seiner Abreise einen autobiographischen Bericht, der 1939 unter dem Titel L’âge d’homme (Mannesalter) erscheinen wird, in dem er schreibt, dass er sich wurmstichig vorkomme und beinahe impotent sei. Auf der Reise durch Afrika hoffte er, diese Schwächen zu überwinden.
Michel Leiris war nicht der typische Entdeckungsreisende. Dafür fehlten ihm Tatendrang, Verwegenheit, Härte und Verhandlungsgeschick. Er sehnte sich nach den Gefahren und Risiken früherer Forschungsreisen und schreckte zugleich davor zurück. Manchmal war er so ungeschickt, dass er sich in den Augen der Schwarzen lächerlich machte und sie versuchten, ihn übers Ohr zu hauen. In Abessinien benötigte er dringend ein paar zusätzliche Lastesel und heuerte solche für fünf Taler pro Tag an. Die Folge davon war, dass nicht nur diejenigen fünf Taler verlangten, die zu dreieinhalb verpflichtet worden waren, sondern in der ganzen Gegend war kein Eselstreiber mehr bereit, seine Tiere unter fünf Talern zu vermieten.
Das Forscherteam sah sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, die manchmal in Gewalttätigkeit umzukippen drohten. Hinterhältige Grenzbeamte erfanden immer wieder neue Gründe, um den Aufbruch der Forschungsgruppe hinauszuzögern und für sich selber Geschenke herauszuschlagen. Mehr als einen Monat lang verweigerte man ihnen die Einreise nach Abessinien. Da sie keine Einfuhrbewilligung für das Motorboot hatten, wollte an der Grenze niemand die Verantwortung für die Einfuhr übernehmen. Als endlich die nötigen Dokumente der kaiserlichen Majestät vorlagen, konnte das Boot zwar eingeführt werden, aber im kaiserlichen Schreiben war der Motor ausdrücklich davon ausgenommen. Täglich machte Leiris den Behörden seine Aufwartung. Die Situation nahm eine Komik an, dass er die Einreise als ein Opernfinale bezeichnete.
Obwohl Leiris das Journal als das verhassteste Joch bezeichnete, führte er es mit der Gewissenhaftigkeit eines Staatssekretärs. Es verging kaum ein Tag, ohne dass er nicht seine Eintragungen machte.
Phantom Afrika wurde nicht die offizielle Chronik der Expedition, die sich der Leiter Marcel Griaule gewünscht hatte; es ist weniger ein ethnologischer Bericht, sondern mehr ein Journal ganz persönlicher Aufzeichnungen und Beobachtungen. Neben ethnographischen Details, Bemerkungen zum afrikanischen Alltag, zum Klima und zu den Nöten und Unwägbarkeiten der Reise, gibt es Eintragungen zur sexuellen Abstinenz, zur physischen und psychischen Befindlichkeit. Griaule warf Leiris nach der Veröffentlichung des Tagesbuches vor, damit der Ethnographie einen schlechten Dienst erwiesen zu haben. Leiris war überzeugt, dass durch das Individuelle im Text „ein Höchstmaß an Wahrheit erreicht“ wird. Der Selbstbefrager und Autor der vierbändigen Autobiographie La Règle du Jeu wäre nicht er selber gewesen, hätte er seine Person ausgeklammert und sich ausschließlich auf die wissenschaftlichen Fakten konzentriert. Er war aufgebrochen, um ein Anderer zu werden, auf einem Kontinent, der für ihn so wenig fassbar war wie ein Phantom, und er wollte diese Veränderungen protokollieren. Das Beiläufige und Unmittelbare war für ihn das Außergewöhnliche.
Eines der Hauptmotive in diesem Logbuch sind Leiris Ambivalenz und Selbstzweifel, die ihn auf der ganzen Reise verfolgen. Er war einem ständigen Wechselbad von Empfindungen und Stimmungen ausgesetzt, nach emotionalen Aufschwüngen folgten Tage der Lustlosigkeit. Er wurde hin und her gerissen zwischen Sympathie und Abneigung gegenüber den Schwarzen, zwischen Hochgefühlen und Niedergeschlagenheit, zwischen Faszination und Ekel. Auch bei der Arbeit schwankte er zwischen Überdruss und Begeisterung. Oft empfand er die ganze Reise als absurd und das Leben, das sie als Forschungsgruppe führten, monoton und langweilig, dem von Zirkusleuten ähnlich, die zwar ständig weiterreisen, aber an jedem Ort die immer gleiche Vorstellung geben. Er konnte sich nur schwer damit abfinden, dass die Gleichung Reisen = Flanieren hier nicht galt.
Phantom Afrika enthält wenig Informationen zur Geographie und Kolonialgeschichte der Gebiete, durch die sie reisen, alles was er niederschreibt, entsteht aus dem unmittelbaren Augenblick heraus und beschränkt sich auf das, was er hört, sieht, denkt und empfindet. Alles, was außerhalb seines Wahrnehmungskreises fällt, hat im Tagebuch wenig Bedeutung. Es gibt nur sparsame Landschaftsbeschreibungen, sie reduzieren sich meist auf einzelne Worte: Termitenhügel, Buschpisten, grüne Pflanzen, rote Felsen, Brandrodungen oder Grasebenen. Er ist überzeugt, dass man eine Landschaft nicht wiedergeben könne, sondern höchstens neu erschaffen, aber auch das nur, wenn man sie nicht zu beschreiben versucht.
Feldforschung heißt die Beschäftigung der Ethnologen, bei der sie die Nase mit wissenschaftlicher Strenge in die Angelegenheiten von Völkern stecken, die zuvor kaum mit der weißen Zivilisation in Berührung gekommen waren. Sie werden nicht in der Absicht erforscht, um bei ihnen zu leben oder um sie von Kolonialismus und Zivilisation zu befreien, sondern mit dem Ziel, sie zu studieren, bevor sie ganz verschwinden. Daten werden als wissenschaftliches Material gesammelt, um später Beschneidungsriten oder Verwandtschaftsbeziehungen des einen Stammes mit jenen eines anderen vergleichen zu können.
Mittels Befragung will man einen zusammenhängenden Einblick in das soziale, kulturelle und religiöse Leben der einzelnen Stammesgesellschaften gewinnen. Die Fragen, die sie den Schwarzen stellten, waren vorher nach bestimmten Methoden erarbeitet worden, damit die Antworten später miteinander verglichen und ausgewertet werden konnten. Es waren künstliche Situationen, in denen die Befragungen stattfanden, die kaum emotionale oder spontane Kontakte mit den Schwarzen zuließen. Unverständnis und Misstrauen begleiteten die Interviews, die Leiris wie Polizeiverhöre vorkamen. Angesichts der Ungleichheit zwischen Forschern und Eingeborenen, wundert es nicht, dass die Schwarzen nicht besonders scharf darauf waren, den weißen Fremdlingen, die wie Heuschrecken in ihre Dörfer einfielen, ihre mystischen Geheimnisse oder die tiefere Bedeutung der Riten zu verraten. Die Informanten machten falsche oder widersprüchliche Aussagen, verstanden die Fragen nicht, liefen mitten in den Befragungen davon oder erschienen nicht zu den vereinbarten Sitzungen. Leiris spürte, dass er zwar den Bräuchen der Menschen näher kam, nicht aber den Menschen selber, es war ihm unmöglich, „die Dinge in ihrer einzigartigen Realität zu ergreifen“. Die Tatsache, dass er von vielen Dingen nur Bruchstücke erfuhr und nie auf den Grund einer Sache vorzudringen vermochte, irritierte ihn genauso wie die Monotonie der Befragungsarbeit und das ewige Ausfüllen von Tabellen und Karteikarten.
Leiris Tagebuch gibt Einblick in das dreiste Vorgehen der Forschergruppe. Wie kolonialistische Plünderer zogen sie von Dorf zu Dorf und rafften alles zusammen, was ihnen des Sammelns wert erschien. Die Vollständigkeit ihrer Sammlung ging über allfällige Skrupel. Obwohl Leiris sich an diesen Raubzügen beteiligte und wie die anderen von der Erregung der Freibeuterei gepackt wurde, plagten ihn im Nachhinein Reue und Scham angesichts ihrer Skrupellosigkeit.
Die Inventurliste wurde täglich länger. Als sie den Fluss Banifing bei Ségou überquerten, mussten 350 Gegenstände verladen werden, darunter befanden sich Kinderspielzeug, Tanzkostüme, Masken, Musikinstrumente, religiöse Requisiten, Türschlösser und Pirogen samt Segel.
In Gondar im abessinischen Hochland lösten sie in den Kirchen zum Schock der Eingeborenen die Fresken von den Wänden und ersetzten sie durch Bilder, die der Maler der Expeditionsgruppe eilig anfertigte. Am 17. November 1932 wollten sie von Gondar Richtung Rotes Meer aufbrechen, doch man hielt sie wegen den zahlreichen entwendeten Sammelstücken mehrere Wochen zurück. Man drohte ihnen mit Gefängnis und sogar mit dem Tod, falls sie sich den behördlichen Anweisungen widersetzen sollten. Ihre Übersetzer und Informanten wurden kurzerhand ins Gefängnis geworfen, da man sie verdächtigte, Kulturgüter an das Forschungsteam verkauft zu haben.
Leiris Abscheu vor dem Kolonialismus in Afrika wurde im Laufe der Reise immer stärker. Er sah, mit welcher Widerwärtigkeit, Arroganz und Willkür die Schwarzen behandelt wurden; die schamlose Ausbeutung von Menschen, die zuvor in autonomen Dörfern gewohnt und mit ihrer Subsistenzwirtschaft ein bescheidenes Auskommen hatten. Nun waren sie einer Verwaltung unterstellt, mussten Steuern zahlen und wurden zum Arbeits- und Militärdienst gezwungen. „Arschtritte und Gefängnisstrafen“ war die Methode der Weißen.
In seinem Aufsatz Ethnographie und Kolonialismus, der 1950 erschienen ist, weist Leiris auf das enge Verhältnis zwischen Ethnographie und kolonialer Expansion hin. Die ethnographischen Forschungen wurden immer im Schatten kolonialistischer Herrschaft gemacht und von dieser weitgehend unterstützt.
Die erotischen Wünsche wabern auf eine unterschwellige Art durch das ganze Tagebuch, sie sind ein Subtext mit einer eigenen Wirklichkeit:
„Ein Ritt mit dem Maultier, als der Himmel einen Moment aufklart, macht Spaß. Ich habe eine Reitpeitsche, eine Satteldecke, neues Geschirr. Lust, grob und brutal zu sein, eine Sklavin z.B. zu haben, durch die Länder zu ziehen. Passgang des Maultiers, so sanft wie in erotischen Träumen die Empfindung des Fliegens.“ Oder bei der Beschreibung einer Dogon-Maske: „Die Schustersfrau hat wunderschöne spitze und hohe Brüste aus Fruchthälften des Affenbrotbaumes, die viel erregender sind als wirkliche Brüste.“
Leiris verließ Afrika, ohne mit einer Schwarzen geschlafen zu haben. Waren die strenge katholische Kindheit oder seine Impotenz der Grund dafür, dass er seine Schüchternheit und Zurückhaltung nicht überwinden konnte, oder sein übertriebener Wunsch nach Eleganz und Sauberkeit und der daraus resultierende Ekel vor dem Sex? Auf keinen Fall wollte er den Männern oder Vätern gleichen, die draufgängerisch ihre Ansprüche geltend machten, wenn sie ein zehrendes Verlangen plagte.
Vielleicht war es dieses ungestillte Verlangen, das ihn in Äthiopien für die Rituale des zâr-Kultes empfänglich machte, für dieses Amalgam aus Besessenheit, Tieropfer und Blut. In den rhythmischen Bewegungen bei der Inbesitznahme der Frauen durch einen zâr-Dämon symbolisiert sich der Geschlechtsakt zwischen der unsichtbaren und der sichtbaren Welt – und er erhält dadurch eine kosmische Dimension.
In Agordat, Eritrea, kehrten sie endgültig in die Zivilisation zurück. Hier gab es Hotelbars, Champagner, Kaffeemaschinen und Kinos. Mit dem Zug ging es nach Massaouah am Roten Meer und per Schiff nach Djibouti. „Mein exotischer Wahn ist zu Ende. Keine Lust mehr nach Kalkutta zu fahren, keine Lust mehr auf farbige Frauen (dann lieber noch mit Kühen koitieren: manche haben ein so schönes Fell!) Die Illusion, all die Trugbilder, von denen ich besessen war, sind weg.“