Auf unseren Reisen durch Japan hatte ich zwei Bücher von Nicolas Bouvier im Gepäck: Japanische Chronik und Das Leere und das Volle. Darin berichtet er von seinen Reiseerfahrungen im Reich der aufgehenden Sonne.
Im Oktober 1955 verkaufte Nicolas Bouvier seinen Fiat und fuhr auf dem Frachter MM Kambodscha von Ceylon nach Japan. Um die Reise zu finanzieren, schrubbte er in der Schiffskombüse fettige Kassarollen, Pfannen und Töpfe. Als er in Yokohama an Land ging, hatte er zwölf Dollar in der Tasche und keine Ahnung, wie er in diesem Land seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Er ist sechsundzwanzigjährig und seit zwei Jahren auf den asiatischen Pisten unterwegs. Ein japanischer Journalist, der ihn im Hafen abfing, bewahrte ihn vor den schlimmsten Fehltritten.
Nach der schwülen Hitze und der Malaria in den Tropen, genoss er die frische kühle Herbstluft von Yokohama.
In Tokio fand er im ärmlichen Stadtviertel Araki-tscho bei einem Nachtwächter ein Zimmer von der Größe von vier Tatamimatten (4,5m²). Er kaufte eine Strohmatratze, eine Steppdecke und ein mit Reisspelzen gefülltes Kopfkissen und zog ein.
Nach sieben Jahren amerikanischer Besatzung waren die Japaner scharf auf Neues. Alles Französische (furanzu) war Trumpf, Paris der Inbegriff westlicher Kultur. Nicolas Bouvier schrieb kleine Artikel über das französische Geistesleben für kleine Zeitschriften, die wie Pilze aus dem Boden schossen und ebenso rasch wieder verschwanden. Geld sah er selten. Mit der Miete war er bald im Rückstand.
Neben den Notizbüchern und den Schreibstiften gehörte auch ein Fotoapparat zu seiner Reiseausrüstung. Seine bildhafte Sprache wird durch sein Kameraauge genährt. Japan mit seinem Farben- und Zeichenreichtum war ein ausgezeichnetes Territorium. „Hier arbeitet das Auge pausenlos. Für das Hirn bleibt nichts mehr übrig.“
Sobald die Leute im Quartier ihn näher kannten, nahmen sie seine Dienste als Fotograph in Anspruch und vergalten sie mit kleinen Geschenken: Zwei Eier, eine Büchse Krabbenfleisch, eine Birne.
Sein erstes erfolgreiches Sujet fand er in einem hellsichtigen Moment des Hungers. Im Bezirk Azabu bemerkte er eine von Schimmel und Pilzen befallene Betonwand, die wie eine Theaterkulisse aussah. Der erhöhte Gehsteig davor wirkte wie eine Rampe oder Bühne und die Menschen, die vorbeigingen, sahen wie „Charakterdarsteller“ aus. Er verkaufte seine letzten Bücher und erwarb einen Posten Filme zum halben Preis.
„Ins Meer gefallen“, sagte der Verkäufer.
Bouvier versteckte sich mit seiner Kamera hinter einem Müllberg, den es in der Nähe des erhöhten Gehsteiges gab. Die Redaktoren eines großen Tokioer Magazins waren verblüfft und begeistert, als sie sich die Aufnahmen anschauten. Wie oft waren sie an dieser Wand vorüber geeilt, ohne sie wahrzunehmen. Sie kauften ihm die Fotos ab und zahlten gut.
Auf der Tokaido, der alten kaiserlichen Poststraße, wanderte er zu Fuß von Tokio nach Kyoto. Unterwegs fotografierte er die einzelnen Relaisstationen. Das Magazin publizierte die Fotos zusammen mit den Holzdrucken von Utagawa Hiroshige. Der japanische Künstler hatte die gleiche Strecke in den 1830er Jahren gemacht. Ursprünglich umfasste die Serie 53 Farbholzschnitte. Sie waren die ersten Landschaftsdrucke in Japan und ein großer Erfolg beim Publikum.
Mit dem Geld, das Bouvier dafür erhielt, reiste er im Oktober 1956 heim nach Europa.
1964, im Jahr des Drachen, kehrte er für zwei weitere Jahre nach Japan zurück. Mit Frau und Kind.
Doch, nichts passte mehr zueinander. Das Land, die Erinnerung, die er daran hatte, er selbst – alles hatte sich verändert. Er musste neu anfangen. Für die Olympiade (orimpiku) hatte man „seine Wand“ übertüncht.
Für die junge Familie war es unmöglich, in Tokio eine günstige Wohnung zu finden. Sie zogen nach Kyoto. Dort fanden sie im Daitokuji-Tempel eine Unterkunft. Daitokuji ist eigentlich eine riesige Anlage mit zweiundzwanzig Tempeln, Kloster, Gärten und einem Friedhof. Es ist das Zentrum des Rinzai-Zens. Das Kloster ist wahrscheinlich das erste in ganz Japan gewesen, das Westler aufgenommen hat. Zu ihnen gehörten Irmgard Schloegl, Ruth Fuller, Gary Snyder und Jan Willem van de Wetering.
Die Adresse der Bouviers hieß wörtlich übersetzt: Pavillon der Glückverheißenden Wolke, Tempel der Großen Tugend, Bezirk der Purpurnen Wiese, Sektor Nord, Kyoto. Bouvier bezeichnet den Zen-Buddhismus als die größte intellektuelle Herausforderung des 20. Jahrhunderts. Er selber ist nie Buddhist geworden. Doch er schreibt: „Kein Haarbreit darf zwischen deinem Ich und deinem Handeln liegen. Genau das ist es, was ich im Zen liebe: diese Botschaft.“

In Kyoto galt einer unserer ersten Besuche Daitokuji, im Norden der Stadt. Ich hatte immer geglaubt, es liege mitten im Herzen von Kyoto.
Wir saßen auf der Veranda und betrachteten den Steingarten, als ich den Abt bemerkte, der in seiner grünen Robe und in weißen Socken über den glatt polierten Boden wischte. Er kam auf mich zu, gab mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken und lachte schallend. Das Lachen hatte ich bereits gehört, als wir die Eintrittskarten gekauft und die Schuhe abstreift hatten. Ich wusste, dass die Rinzai-Äbte ruppige Gesellen waren, die die Novizen mit einem Schlag in eine schmutzige Regenlache beförderten, wenn die sich allzu begriffsstutzig zeigten. Der Abt wies mich an, gerade zu sitzen und mein Hände auf eine bestimmte Art ineinander zu legen.
„Japan Land aller Schattierungen des Holzes, des Mooses, des bitteren Tees und der dicken Bambusflöten“, schreibt Bouvier in Das Leere und das Volle.
In diesen Zeilen werden die Erinnerungen an das Japan unserer Reisen wieder lebendig, das Land der Zeichen und der Geheimnisse. Das dunkle Holz der zahlreichen Tempel, die wir besucht haben, die Moosböden in Parks, das Moos auf den Steinen in den Zen-Gärten, der Duft des Grüntees, alles ist plötzlich wieder da.

„Zu viele Menschen erwarten von der Reise alles, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was die Reise von ihnen erwartet“, sinniert Bouvier.
Was bin ich einer Reise schuldig? Das habe ich mich immer wieder gefragt unterwegs in Japan, ohne eine Antwort zu finden. Hätte ich einem Japaner in seinem eigenen Land etwas zeigen können, das er bisher noch nicht gesehen hat?
In Japan sitzt man in den traditionellen Restaurants auf dem Boden. Das Tischchen, an dem man isst, ist nicht einmal so hoch, dass man die Knie darunter verstecken könnte.
Das Essen wird auf lackierten Tabletts aufgetragen, ein Arrangement von unglaublicher Raffinesse. Etwas Grün in einem blutroten Schälchen, Tofu mit einer Haut wie alter Schimmelkäse in tiefem Blau, die Misosuppe in einem jadegrünen Schüsselchen. Das Auge ist gerührt. Ob diesem Farbenreichtum kommen ihm fast die Tränen. Man wagt nicht zuzugreifen, es ist auch nichts da, um zuzugreifen.
Bouvier bemerkt dazu: „Im Aroma der japanischen Gerichte ist etwas, das ihren Nährwert verdeckt. Es schmeckt dem Gaumen, doch nichts im Geschmack ruft das Gefühl hervor, dass der Körper genährt wird – ein Gefühl, das Brot und Wein mir geben –, als wolle man möglichst nicht an diesen peinlichen Aspekt erinnert werden. … In einer Broschüre des Japan Travel Bureau findet man einen vielsagenden Satz: The Japanese dishes are a pleasure fort the eye. Was im Übrigen stimmt. Es wäre sozusagen unschicklich, wären sie auch ein Vergnügen für den Gaumen.“

„Wenn man mich fragt, was mich an Japan am meisten fasziniert, antworte ich selbstverständlich: die Frauen – ein weiteres Kapitel, das verlangt ausführlich behandelt zu werden. Doch gleich nach den Frauen: die Friedhöfe.“
Wenn ich diesen Abschnitt lese, muss ich an die älteren Frauen denken, denen wir auf dem Kõya-San vor der Herberge begegnet sind, in der wir übernachtet haben; heitere Frauen, die mit uns schwatzten und über Missverständnisse herzlich lachten. Dann die jungen Frauen in Tokio, schön, kühl, herablassend und mit einer Eleganz gekleidet wie nur Japanerinnen es fertig bringen.
Nachdem wir uns von den Frauen vor der Herberge verabschiedet hatten, spazierten wir zum Friedhof hinab. Es ist ein weitläufiger Friedhof, den es auf dem Kõya-San gibt. Unter riesigen Zedern und Sicheltannen stehen verwitterte und mit Moos überwachsene Stelen, Toriis, Steinlaternen da; die Jizo-Figuren tragen roten Lätzchen oder roten Mützen.

Unterwegs in überfüllten Nachtzügen, Bussen und auf Fähren reiste Bouvier durch den ganzen japanischen Archipel. Er schleppte seine Fotoausrüstung überall hin.
Als der Wanderdichter Matsuo Bashô 1689 nach Mathsushima kam, war er überwältigt von der Schönheit der Bucht mit ihren 260 kleineren und größeren Inseln, auf denen sich vom Wind zerzauste Kiefern klammern, von ihrer Stille und Abgeschiedenheit.
Mit der Stille und Abgeschiedenheit ist es schon lange vorbei. Matsushima ist mittlerweile ein veritables Städtchen mit Hotels, Wohnblöcken, lauten Straßen, Restaurants, Touristenshops, Fressbuden und Bootshafen. Die Bucht wird zu den nihon sankei gerechnet, den „drei schönsten Landschaften“ Japans, die jeder Japaner einmal im Leben gesehen haben muss.
Als Bouvier die Bucht besuchte, schepperten Lautsprecher auf den Dächern der Zen-Tempel, die Besucher mussten sich hinter nummerierten Pfosten in langen Reihen aufstellen, um auf die lärmigen Vergnügungsdampfer zu kommen.
Wir bestiegen ebenfalls einen kleinen Dampfer und ließen uns mit einem Haufen anderer Touristen zwischen all den Eilanden herum führen.

Mathushima war der nördlichste Punkt auf unseren Reisen durch Japan, dann kehrten wir in den Süden zurück. Bouvier reiste weiter bis an die nördlichste Spitze von Hokkaido.
Auf Hokkaido besuchte er eine Gruppe von Ainu – das behaarteste Volk der Welt. Die Ainus stammen wahrscheinlich aus Zentralasien, so genau weiß man es nicht. Sie sind die eigentlichen Ureinwohner der Insel, die Japaner die Eroberer. Die Männer hatten lange Haare und Bärte und buschige Augenbrauen, was bei den Japanern tiefen Abscheu erzeugte. Wenn sich die Frauen verheirateten, tätowierten sie sich halbmondförmige Schnäuze um den Mund. Früher lebten die Ainus in geräumigen Schilfhäusern, sie trugen mit Ornamenten verzierte Tuniken, die dem japanischen Kimono ähnlich sind. Sie lebten vornehmlich von der Jagd und dem Fischfang.
Bouvier besuchte ein Dorf in der Nähe von Noboribetsu. Es regnete in Strömen, als er ankommt, Touristen waren an dem Tag keine zu sehen. In folkloristischen Verkaufsbuden saßen kostümierte Gestalten und boten Leder-, Holz- und Pelzarbeiten an. In den Hauseingängen saßen Männer und schnitzen Bären. „Kaufst Du mir einen ab“, fragte einer von ihnen, als Bouvier vorbeistapfte. Er machte ein paar Fotos, aber er kam sich dabei wie ein grober Dummkopf vor. Sobald am Abend die letzten Touristen fort waren, schlossen die Ainus ihre Buden und tauschten ihre traditionellen Kostüme, in denen sie die Touristen erwarteten, mit westlichen Kleider: Baseballmützen, Regenmäntel, Turnschuhe.
„Es war der äußerste Zipfel des Landes“, schreibt Bouvier in Wakkanai, ganz oben auf Hokkaido, „und etwas ging zu Ende.“
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