Die Späherin

Kurz vor Weihnachten 2022 ist sie gestorben.
Auf Fotos sieht Marie-Luise Scherer mit ihrem strähnigen Haar und der Zigarette zwischen den roten Lippen wie eine Femme Fatale aus. Sie war eine großartige Schriftstellerin. Was sie schrieb, ist gutsitzendes, elegantes Schuhwerk, rahmengenäht selbstverständlich. Für den feinfühligen literarischen Geschmack wohl zu hart, zu sehr an der Realität, sofern es das überhaupt gibt.
Sie kam aus dem Journalismus; recherchierte Fakten waren ihr Genre. Das gefällt nicht allen. Sind das nun Geschichten oder Reportagen? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Wie viel Fiktion steckt in einem Bericht, wie viel Faktisches in einer Geschichte? Mit unerbittlichen Blick wird alles genau benannt: Namen, Straßen, alltägliche Begebenheiten. Sie sah Dinge, die andere gerne übersehen. Jeder Satz eine Information. Ihre Sprache hat Biss und unerschöpflichen Witz, sie ist höchste Präzision, Feinschliffarbeit, geleitet von schriftstellerischer Raffinesse.

Marie-Luise Scherer ist in Saarbrücken geboren. Die Mutter starb früh. Der Vater scheiterte mit seinem Edelstahlunternehmen. Sie schrieb zuerst für den Kölner Stadtanzeiger, danach für die Berliner Morgenpost, schließlich für den Spiegel. Sie hat etliche literarische Preise erhalten, darunter den Italo-Svevo-Preis, bei dem Brigitte Kronauer die Laudatio hielt. „Man stößt, wenn man sie rühmt, auf keinen Widerstand. Dabei ist sie selbst der Widerstand in Person.“
Und Petra Morsbach fügt an: „Marie-Luise war eine Poetin der Extreme. Nichts schien zusammenzupassen, die Reibung war das Ereignis, die Überwindung das Wunder.“

Dann die ungewöhnliche Themenwahl. Wem wäre es schon in den Sinn gekommen, sich zu fragen, was mit den unzähligen Leinenhunden des ehemaligen Grenzschutzcorps der DDR passiert ist, als die innerdeutsche Grenze fiel und es keine Todesstreifen mit Wachtürmen und Minenfeldern mehr zu bewachen gab.
Die Hundegrenze heißt das Buch. Ich habe es nicht gelesen, einfach weil ich diese Sorte Vierbeiner nicht mag. Was ist das für ein Tier, das schamlos auf den Gehsteig kackt. Und zur Begrüßung anderen Hunden am Hintern schnuppert. Man stelle sich vor, die Menschen würden das zur Begrüßung tun. Auch jetzt noch, wo ihre Halter (Halterinnen sind da mit eingeschlossen) angehalten sind, die Scheiße aufzulesen, kommt es regelmäßig vor, dass in unserer Straße Hundedreck auf dem Gehsteig liegt und man aufpassen muss, da nicht hineinzutreten.

Die Bestie von Paris heißt ein anderes ihrer Bücher. Es enthält vier Geschichten unterschiedlichem Zuschnitt. Sie handeln alle in Paris.
In Dinge über Monsieur Proust macht sie einen Besuch auf dem Filmset von Volker Schlöndorff, als er Eine Liebe von Swann verfilmte, einem Kapitel aus dem viertausend Seiten umfassenden Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
In der dritten Geschichte berichtet sie von ihrem Besuch beim letzten damals noch lebenden Surrealisten: „Philippe Soupault ist fünfundachtzig Jahre alt. Das Wort Rüstigkeit auf ihn anzuwenden wäre deplatziert. Denn Rüstigkeit enthält auch einen Moment von körperlichem Leistungswillen, jemand stemmt sich kerzengerade gegen die Jahre, reckt sich gegen den Verdacht der Gebrechlichkeit.“
In Kleine Schreie des Wiedersehens geht es an die Prét-à-porter in Paris.

In der Titelgeschichte erzählt sie von einem Massenmörder im 18. Arrondissement, der zwischen 1984 und 1987 alten Frauen auflauerte und sie  auf grausame Weise umgebrachte. Es geht um 32 Morde, nachweisen konnte man ihm einundzwanzig.
Für diese Geschichte lebte Marie-Luise Scherer zwölf Wochen in Paris. Sie hatte eine kleine Wohnung am Montmartre gemietet und wanderte mit ihrem Hund durch die Straßen, in denen die Morde passiert waren. Sie sprach mit Concierges, Bar- und Hotelbesitzern, Kellnern, Nachbarn. Sie wollte sich ein Bild der Lebensumstände der Opfer machen, und auch eines der Glitzerwelt, in der die Killer lebten. So entstand, wie nebenbei, ein faszinierendes Bild von Paris jener Jahre.
Thierry Paulin (*28. November 1963), der Haupttäter, war ein hellhäutiger Mulatte aus Fort-de-France, Martinique. Er hatte eine breite, wie zerquetscht wirkende Nase und trug einen Ohrenring. Jean-Thierry Mathurin, sein Komplize bei den ersten neun Morden, kam am 27. Dezember 1965 in Saint-Laurent-du-Maroni, Französisch Guayana zur Welt. Beide schwul, zeitweilig waren sie ein Paar. Sie haben ihre Opfer auf dem Nachhauseweg ausgespäht, sie an der Wohnungstür niedergeschlagen und getötet. Es ging immer um Geld. Manchmal erbeuteten sie bloß ein paar hundert Francs.
Nach drei Jahren folgenloser Spezialeinsätze kam die Polizei Paulin endlich auf die Spur. Am 1. Dezember 1987 wurde er festgenommen. Mulatte, zerquetschte Nase, Ohrenring waren die Merkmale, anhand denen er identifiziert werden konnte. Kurz vor dem Gerichtstermin, am 17.April 1989 starb er im Krankhaus des Gefängnisses Fresnes an AIDS. Mathurin musste 21 Jahre absitzen, 2009 wurde er in die Halbfreiheit und drei Jahre später in die Freiheit entlassen.
Scherer erzählt die Tathergänge kühl, distanziert, ohne sozialpsychologische Schlüsse zu ziehen, auch das in solchen Fällen übliche Empörungsvokabular fehlt bei ihr.

1987 hatte ich das erste Mal etwas von Marie-Luise Scherer gelesen. Eine Spiegel-Reportage über einen Mord an einem siebzehnjährigen Mädchen in der Alternativszene von Berlin. Der unheimliche Ort Berlin hieß der Bericht. Damals fanden viele, diese von DDR-Mauern und -Zäunen eingeschlossene halbe Stadt sei der aufregendste Platz in ganz Westeuropa. Ich war im Begriff, für eine Weile nach Berlin zu gehen. Jemand hatte mir den Text zugesteckt. Als Warnung vielleicht. Ich hatte nicht vor, mich in der versifften Alternativszene einzuhausen.
Ingrid Rogge aus der oberschwäbischen Stadt Salgau reiste im Juni 1979 nach Berlin. Bald darauf galt sie als vermisst. Polizeifahndungen blieben ergebnislos, das Pendel eines Wahrsagers, über einer Weltkarte kreisend, kam über Nevada, USA zur Ruhe – eine Fehlanzeige. Am 27. September 1985 wurde ihr Skelett in einer verschnürten Plastikplane auf einem Kreuzberger Dachboden gefunden. Ingrid Rogge war vermutlich Ende Juni 1979 erschlagen worden.
Diese Geschichte ist mehr als ein Bericht über einen ungeklärten Mordfall. Darin spiegelt sich auch ein schönes Stück westdeutscher und Westberliner Wirklichkeit jener Jahre wieder. Sie beginnt so: „Das Kottbusser Tor ist kein Ort, an dem die Leute in Übergangsmänteln herumlaufen, wenn der Winter vorbei ist. Das bisschen Sonne im April legte gleich die Oberarmtätowierungen der Punker frei. Die türkischen Männer hielten nicht mehr frierend das Jackett vor der Brust zusammen und gingen wieder aufrecht. Die Wärme hatte jedes Verhalten gelockert. Die Punker kippten ihre Bierdosen in ihre struppigen Köpfe hinein, bespritzten einander und bewarfen sich mit Schaum.“

Der Akkordeonspieler ist wohl ihr berühmtestes Buch. Eine Geschichte aus der Wendezeit, als in Berlin russische Straßenmusiker die U-Bahnhöfe und Fußgängerzonen bevölkerten. Einer unter ihnen war der Akkordeonspieler Wladimir Alexandrowitsch Kolenko aus der kaukasischen Bäderstadt Jessentuki, eingeladen von einer Gertrud aus Potsdam. Als Kurhausmusiker in Südrussland hatte er 140 Rubel im Monat verdient. Bei den explodierenden Preisen reichte das Gehalt nicht, um die Familie zu ernähren. Das Visum für Deutschland kostete 300 Rubel. Beladen mit Sachen, die ihm die Menschen in Berlin überlassen hatten, kehrte er regelmäßig heim in den Kaukasus, zu seiner geliebten Galina und den drei Kindern.
Als ihm die deutsche Botschaft in Moskau das Visum für eine zweite Einreise verweigerte, ließ er sich pro forma von seiner Galina scheiden und heiratete deren Freundin Olga Andrejewna Karpowa. Das ganze Eilverfahren kostete ihn 120‘000 Rubel. Als Karpow stand er wieder wochenlang Schlange vor der deutschen Botschaft in Moskau, des „ambulanten Musizierens“ in der wiedervereinigten Stadt wegen. In Berlin boten ihm alleinstehende Frauen ein Zimmer und mehr an. Sein Leben bewegte sich zwischen Dankbarkeit und Undankbarkeit. Neben seiner Straßenmusik trat er mit einem schmächtigen Deutschen auf, der Frank Sinatra auf eine dünne Weise imitierte, ein Geschäft, das nichts einbrachte. Darauf tat er sich mit einem estnischen Geiger zusammen. Sie musizierten in Kneipen und Restaurants, ein einträgliches Geschäft.
Wie ist Marie-Luise Scherer zu diesem Stoff gekommen, der so anders geartet ist als der in Die Bestie von Paris oder Der unheimliche Ort Berlin. Woher hat sie die eindrucksvolle Fülle an Kenntnissen und Informationen, die detaillierten Einblicke in Orte und Behausungen, die bizarren Geschichten aus der „neuen wilden Wirtschaft“ Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Man hat den Eindruck, Marie-Luise Scherer habe Kolenko alias Karpow als unsichtbare Späherin begleitet: Zu den windigen Ecken der Berliner U-Bahnhöfe, wo er auf seinem Akkordeon spielte, in die Witwenwohnungen der Berliner Plattensiedlungen, auf den Wanderungen durchs winterliche Moskau und den langen Bahnfahrten in den Kaukasus. Als ob sie und nicht er Dauergast auf der Strecke gewesen wäre. Als Leser fragt man sich, wo kreuzen sich in diesem Buch die Recherchebeobachtungen mit ergänzender Phantasie, wo verlaufen die Scheidelinien zwischen Bericht und Fiktion?