Porträt eines Vergessenen

Wer kennt ihn noch, den Schriftsteller Walter Kolbenhoff (1908-1993)? Seine Bücher sind vergessen. Was schade ist! Die Romane Von unserem Fleisch und Blut und Heimkehr in die Fremde sind bemerkenswerte Zeugnisse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wenig gealtert, immer noch gut lesbar. Trümmerliteratur. Deutschland lag in Trümmern. Die Städte zerbombt. Die Misere groß.
Auch in der 1984 erschienenen Autobiographie Schellingstraße 48. Erfahrungen mit Deutschland  beschäftigt er sich vornehmlich mit den Nachkriegsjahren. In den 1980ern erlebte er eine kurze Renaissance, seine früheren Bücher wurden neu aufgelegt.

Walter Hoffmann (so hieß er mit bürgerlichem Namen) wurde in Berlin als Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Sein Vater war Sozialdemokrat. Walter ging auf eine sozialistische Schule. Mit vierzehn machte er eine Lehre als Chemigraph, ein mittlerweile ausgestorbener Beruf des graphischen Gewerbes. Er war intelligent, ein hervorragender Schüler, die Lehrer hätten es gerne gesehen, wenn er das Abitur gemacht und dann zur Universität gegangen wäre. Trotz angebotenem Stipendium, war der Vater dagegen: Eine Berufslehre sei das Beste für den Jungen. Die finanzielle Lage der Familie muss prekär gewesen sein. Der Sohn hat diese Entscheidung dem Vater nie verziehen. Kaum war er mit der Lehre fertig, lief er von zu Hause fort und trampte durch Europa, Nordafrika und den Nahen Osten. Während der Lehrzeit hat er Maxim Gorki, Jack London, Knut Hamsun und B. Traven gelesen. Er fuhr mit der S-Bahn zur Arbeit. Manchmal war er so vertieft in seine Lektüre, dass er die Haltestelle verpasste, an der er hätte aussteigen sollen. Ob den Büchern wurde ihm klar, dass es die amerikanischen Weiten und die Wolga tatsächlich gab, und er hatte nur ein Ziel vor Augen: er wollte etwas von der großen weiten Welt sehen. Er schloss die Lehre mit Bestnoten ab. Der Vater hoffte, dass er kaufmännische Kurse besuchen und später die Leitung eines graphischen Betriebes übernehmen würde.

Der Süden zog ihn an. In Venedig schrieb er den Eltern seine erste Postkarte. Er wanderte den Nil hinauf, durchquerte mit Beduinen die Sinai-Halbinsel, in den Bergen Siziliens wäre er beinahe verhungert, auch in Paris musste er hungern. Er betätigte sich als Gelegenheitsarbeiter, Straßenmusiker und Bänkelsänger. Er hatte eine gute Stimme. Bertold Brecht, den er in Kopenhagen kennenlernte, war neidisch auf ihn, denn er, Brecht, brachte nur ein heiseres Krächzen zustande, wenn er sang.

Aus der Fremde berichtete er für den sozialdemokratischen Vorwärts. Nach vier Jahren kehrte er nach Berlin zurück, trat der Kommunistischen Partei Deutschlands bei und wurde Mitarbeiter der Roten Fahne, dem Organ der KPD. Für seine Erzählung Das Hinterhaus, die in Fortsetzungen in der Roten Fahne abgedruckt wurde, erhielt er vierhundert Mark. Eine Riesensumme für den Dreiundzwanzigjährigen.

Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin, für die Nazis das Signal, die Macht ganz an sich zu reißen und den totalen Staat auszurufen. Als Hoffmann eines Abends nach Hause wollte, kam ihm die Witwe entgegen, bei der ein Zimmer hatte, er solle sofort verschwinden, die SA stünde vor dem Haus, um ihn abzufangen. Er irrte einige Tage durch Berlin, in der Menge auf der Straße fühlte er sich halbwegs sicher. Obwohl er keinen Kontakt mehr zu den Eltern hatte, suchte er sie eines Nachts auf. Der Vater gab ihm zweihundert Mark mit der Bitte, sofort wieder zu verschwinden, damit sie nicht gefährdet würden. Er floh nach Amsterdam, wurde verhaftet, kam dank Freunden frei, sie besorgten ihm eine Schiffspassage nach Kopenhagen.

In Kopenhagen begegnete er zufällig Wilhelm Reich, mit dem er sich in Berlin angefreundet hatte. Als Jude, Kommunist und Psychoanalytiker war Reich unter den Nationalsozialisten gleich mehrfach gefährdet.
Reich machte Hoffmann den Vorschlag, ein Buch über die Erlebnisse in Berlin unmittelbar vor der Machtübernahme durch die Nazis zu schreiben.
Hoffmann war unsicher. Reich trieb ihn förmlich dazu an. Täglich zwanzig Seiten, entschied er! Am Abend holte der Lehrling der Setzerei die fertig geschriebenen Seiten ab. Innerhalb von ein paar Wochen war das Buch beendet. Untermenschen erschien im Tobris Verlag, der extra dafür gegründet worden war. Auf Reichs Vorschlag nahm er den Schriftstellernamen Kolbenhoff an.

Kolbenhoff hielt es nicht mit den Arrivierten. Leon Feuchtwanger und Thomas Mann konnten ihm gestohlen bleiben. Er wollte nicht „Gottes wunderbare Harfe“ sein. Er suchte nach einer Sprache, die dem sozialen Elend in Deutschland gerecht wurde, Gegenausdruck zur bürgerlichen Literatur. In Untermenschen erzählt er in einem wilden, expressionistischen Stil und mit viel Sozialpathos von Leuten, die durch alle sozialen Maschen gefallen waren, Deklassierte und Arme, ohne die geringste Chance auf irgendetwas, von Strolchen und Tippelbrüdern, denen am Arbeiten nie etwas gelegen war. In Deutschland gab es anfangs der Dreißigerjahre sechs Millionen Arbeitslose, wirtschaftliches und soziales Elend waren groß.
Am Ende des Buches bekennt er: „Ihr Heimatlosen, Verstoßenen, Stiefsöhne des Lebens, ihr Huren, Mörder, Vagabunden, ihr armseligen Betrüger des Lebens mit dem großen, großen kranken Herzen: Ich bin einer der euren.“

Das war den KPD-Genossen zu viel. Zuerst wurde Wilhelm Reich aus der Partei ausgeschlossen, sie fanden seine Sexualtheorie „ahistorisch“, „unmarxistisch“.
Dann musste Kolbenhoff vors Parteigericht. Es passte ihnen nicht, dass er mit Reich befreundet war und in seinem Buch Untermenschen keine heroischen Arbeiterkämpfer dargestellt hat, die sich für den siegreichen Kommunismus einsetzten. Er hatte sogar zu behaupten gewagt, die kommunistische Sache sei in Deutschland verloren und die Arbeiterschaft liefe scharenweise zu Hitler über.
Die deutsche Arbeiterklasse hätte durch den Sieg Hitlers keine Niederlage, sondern einen großen Sieg errungen, erklärten sie ihm, die Arbeiterschaft, mit der Partei an der Spitze, werde diesen Nazispuk bald hinwegfegen. Kolbenhoff staunte, wie konnte man angesichts der Tatsache, dass die Partei in Deutschland zerschlagen war und der hohen Zahl von Opfern, einen solchen hirnverbrannten Blödsinn glauben.
Er solle sich von Wilhelm Reich distanzieren, das Buch einstampfen und seine Behauptungen über die deutschen Arbeiter widerrufen, dann käme er mit einer Rüge davon. Kolbenhoff entschied sich für Reich und das Buch, aber der Ausschluss aus der Partei traf ihn hart. Es kam ihm einer Exkommunizierung gleich.

Er blieb in Kopenhagen, setzte sich intensiv mit Literatur auseinander, lernte Dänisch und Englisch, was ihm später in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft sehr zustatten kam.
Obwohl er schon lange nicht mehr Mitglied war, ließ er sich 1942 von der Partei zu Agitationszwecken nach Deutschland schicken. Er wurde sofort zum Wehrdienst eingezogen und nach einer kurzen Rekrutenschule an die Front geschickt. Zuerst nach Jugoslawien, dann nach Italien. Er wurde den Verdacht nicht los, dass die Genossen ihn einfach verheizt hatten. Ganze Zellen wurden damals an die Nazis verraten, wenn sie sich den Kommandos der Zentrale der KPD widersetzten. In Monte Cassino geriet er in amerikanische Gefangenschaft und wurde über den Atlantik in ein Lager spediert.

Dank seinem Englisch wurde er in den Kriegsgefangenenlagern Dolmetscher und Lagersprecher. Er war beliebt. Mit den amerikanischen Offizieren verstand er sich gut. Alle nannten ihn „Shorty“, er war nur „ein Zentimeter grösser als Napoleon“.
Am meisten erstaunte ihn die unglaubliche Sturheit, mit der die jungen deutschen Gefangenen, keine zwanzig Jahre alt, immer noch an Hitler glaubten. Was die Amerikaner über die Niederlage des Dritten Reiches erzählten, war in ihren Augen erstunken und erlogen. Einer von ihnen drohte, nach dem Endsieg würden Verräter wie er, Kolbenhoff, kurzerhand an die Wand gestellt und erschossen.
Kolbenhoff interessierte sich ungemein für diesen Starrkopf, er beschloss ein Buch darüber zu schreiben.
Aus unserem Fleisch und Blut erzählt von einem siebzehnjährigen Jungen, der fanatisch an Hitler glaubt und sich verschworen hat, für die Idee des Nationalsozialismus zu sterben. Das sei der wahre Sinn seines Lebens. Er fühlt sich hart wie Stahl. Ein Wolf! Angst kennt er nicht. Wenn der Befehl lautet: „Töte!“, dann tötet er. Er erschießt einen älteren Kameraden, weil der zu behaupten wagt, die deutsche Sache sei verloren. Er irrt einsam durch eine total zerbombte Stadt, die von den GIs kontrolliert wird. Seine Einheit ist ausgelöscht. Er hofft, Unterschlupf bei der Mutter zu finden, doch die jagt in fort. Mit so einem wie ihn will sie nichts mehr zu tun haben.
Das Buch erhielt 1947 vom Bermann-Fischer-Verlag, der nach Stockholm emigriert war, den Preis für den besten Roman, der in der Kriegsgefangenschaft geschrieben worden war.

Walter Kolbenhoff wurde im März 1946 in Oberbayern aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. München war verwüstet, ganze Straßenzüge nichts als Ruinen und Schutt. Die wirtschaftliche Lage katastrophal. Es mangelte an Nahrung, Heizmaterial, Wohnungen, Kleidung, einfach an allem. Schwarzmarkt, Spekulation und Schiebertum hatten Hochkonjunktur. In den Gefangenenlagern in Amerika war das Leben im Vergleich zu hier paradiesisch gewesen. Er hatte nur ein Ziel, so rasch wie möglich aus Deutschland zu verschwinden. Am liebsten nach Kopenhagen, wo er sich so heimisch gefühlt hatte.
Durch Zufall begegnete er Alfred Andersch. Sie hatten sich im Gefangenenlager von Fort Ruston, Louisiana kennengelernt.
Andersch arbeitete unter Erich Kästner beim Feuilleton der Neuen Zeitung, die mit amerikanischer Erlaubnis erscheinen durfte.
Andersch stellte ihn Erich Kästner vor. Der händigte Kolbenhoff einen Stapel amerikanischer Bücher aus, mit der Bitte, Passagen daraus zu übersetzen und mit Kommentaren zu versehen.

Hans Wallenberg, der Chefredaktor der Neuen Zeitung, war begeistert vom wachen Auge und dem klaren Schreibstil im Feuilleton Ein oberbayerisches Dorf:  Er bot Kolbenhoff den doppelten Lohn an und forderte ihn auf, rauszugehen und über das zu schreiben, was er sah und hörte.
„Das politische Gesicht des Dorfes verändert sich scheinbar. Die Menschen verändern sich nicht“, stand im Artikel. Obwohl keine Namen genannt wurden, rief der Bürgermeister von Dietramszell wutentbrannt in der Redaktion an, Kolbenhoff hätte mit seinem Artikel das ganze Dorf blamiert. Er, der Bürgermeister, könne für nichts garantieren, falls Kolbenhoff wieder einmal her käme. Er sei morgen Abend da, antwortete ihm Kolbenhoff.
„Was mich bei dieser ganzen Geschichte am meisten erstaunte“, schreibt er in seiner Autobiographie, „war die Tatsache, dass keiner der Menschen, mit denen ich zusammentraf, sich auch nur der geringsten Schuld bewusst war. Hitler muss in ihnen etwas Atavistisches angesprochen haben, das längst vergessene, barbarische Reaktionen weckte. Und als sich mit dem zu Ende gehenden Krieg alles als falsch, ja als böser Wahn erwies, wollten sie es nicht mehr wahrhaben. Sie verdrängten es. Sie löschten es aus ihrem Gedächtnis.“

Allen Widrigkeiten zum Trotz glaubte Kolbenhoff „eine gute Portion Glück mit auf den Weg bekommen zu haben“. Er war einer der wenigen Mitarbeiter, die von der Neuen Zeitung eine eigene Wohnung erhielten. Sie lag an der Schellingstraße 48, gleich gegenüber der Redaktion, dreieinhalb Zimmer im vierten Stock. Er zog mit Isolde dort ein. Sie hatten sich in Dietramszell kennengelernt und am 4. Januar 1947 geheiratet, einem der kältesten Tage in diesem Winter, das Thermometer zeigte minus siebenundzwanzig Grad. Die Hochzeit feierten sie bei Toni und Hans Werner Richter. Das Festmenü bestand aus einer Boulette für jeden, etwas Brot und Rübenschnaps. Isolde war eine Studentin aus Köln, die mit ihrem vierjährigen Sohn vor den Bombardements zu Verwandten nach Dietramszell geflohen war. Kolbenhoff war in das oberbayerische Dorf gekommen, um den Brief eines Mitgefangenen aus Fort Ruston abzuliefern.

Das mit der Wohnung sprach sich schnell herum, sie wurde ein Zentrum für Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Künstler und auch manchem Spinner. Der Verleger Heiner-Maria Ledig-Rowohlt war der erste, der dort übernachtete. Der Dichter Günther Eich schaute oft vorbei. Manchmal saßen ein Dutzend Leute und mehr im Wohnzimmer und debattierten über die Zukunft Deutschlands.
Die radikale demokratische Erneuerung blieb Wunschvorstellung. Deutschland wurde immer mehr zur Manövriermasse im Poker der Siegermächte. Das Entnazifizierungsprogramm half Opportunisten (vor einem Jahr noch stramme NSDAP-Mitglieder und nun waschechte Demokraten) erneut wichtige Posten im Land zu besetzen. In der Sowjetzone wurde die stalinistische Diktatur des Arbeiter- und Bauernstaates errichtet, SPD und KPD zwangsverschmolzen.

Im August 1946 erschien die erste Nummer der zweimal monatlich erscheinenden Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Genration, herausgegeben von Alfred Andersch und Hans Werner Richter. Den Namen übernahmen sie von der Lagerzeitschrift Der Ruf . Blätter für deutsche Kriegsgefangene, bei der neben Kolbenhoff auch Andersch und Richter mitgearbeitet hatten.
Kolbenhoff blieb weiterhin Redaktor bei der Neuen Zeitung, schrieb aber auch für den Ruf.
Der Ruf wurde das Sprachrohr der jungen Kriegsheimkehrer, sie waren begeistert vom unerhört offenen Ton, mit dem die Politik der Besatzungsmächte kritisiert wurde. In Kürze stieg die Abonnentenzahl auf Hunderttausend.
Den Besatzern ging das alles zu weit. Nach zehn Monaten wurde dem Ruf die Lizenz entzogen. Die Amis waren unter Harry Truman vom Antifaschismus auf Antikommunismus umgeschwenkt, die sozialistischen Ideen passten ihnen nicht. Aber auch die Russen integrierten heftig gegen das Blatt.

Andersch und Richter schien das nicht zu beeindrucken. Richter gründete die Gruppe 47. Die Gruppe wird die nächsten zwanzig Jahre Literatur und Literaturbetrieb in Deutschland maßgeblich bestimmen. Walter Kolbenhoff gehörte von Anfang an dazu. Es gab keine Mitglieder, nur Teilnehmer.
Bei den Treffen wurden Texte vorgelesen und offen kritisiert. Die deutsche Sprache musste gründlich abgeklopft und vom Nazidreck gereinigt werden. Eine straffe, knappe, schnörkellose Sprache wurde bevorzugt, die amerikanische Kurzgeschichte die angemessenste Form eines Neubeginns.

Angesichts des Kalten Krieges, der sich immer deutlicher abzeichnete, verschärften die Amis die Zensurbestimmungen. Auch die Neue Zeitung wurde zurückgestuft. Zuerst musste Hans Wallenberg gehen, dann fast der gesamte Redaktionsstab, darunter auch Walter Kolbenhoff. Die Wohnung an der Schellingstraße 48 wurde ihm gekündigt.

Nach 1950 arbeitete er für verschiedene Rundfunkanstalten, Zeitungen und Zeitschriften, er war als Hörspielautor und Übersetzer aus dem Dänischen und Englischen tätig. Seine Bücher Die Kopfjäger (1960) und Das Wochenende (1970) wurden wenig beachtet.