Pariser Spaziergänge

Dieses Mal wohnten wir an der Rue de Vaugirard. Die Straße beginnt am Boulevard St. Michel, schneidet der Rue de Médicis den Weg ab, führt am Jardin du Luxembourg entlang und in einer langen Geraden hinauf zum Boulevard de Pasteur.
Für den Morgenkaffee gingen wir ins „Le Petit Suisse“, ein kleines Bistro an der Place Paul Claudel, wo, so schien es wenigstens, vor allem Leute aus dem Quartier ihren Kaffee tranken. Sie grüßten sich und schwatzten zusammen. Wir setzten uns draußen auf die Terrasse. Die Luft war kühl, der Himmel blau. Wir fühlten uns selber wie Pariser. Nichts ist deprimierender als der Frühstücksraum in einem Hotel. Man hat es da nur mit seinesgleichen zu tun. Ich aber möchte mit Einheimischen in Berührung kommen, mit Menschen, die ein Quartier oder eine Stadt ausmachen. Auf der anderen Seite des kleinen Platzes staken die hohen schwarzen Gitterstäbe der Umzäunung des Jardin du Luxembourg wie Lanzen in die Höhe, dahinter viel Grün und eine Ecke des Schlosses. Von hier aus brachen wir zu unseren Stadtwanderungen auf. Spaziergänge durch Paris gehören zu meinen absoluten Lieblingsbeschäftigungen. Was für ein geheimnisvoller Zauber! Was für ein Sog! Ich bin ihm ausgeliefert, sobald ich eine Pariser Straße betrete. Ich kann es nicht erklären, was natürlich schlecht ist in unserer erklärungswütigen Zeit. Man findet für jedes und alles eine Erklärung. Irgendwo habe ich gelesen: Es gibt viele Erklärungen, wenig Erkenntnisse.

Wir spazierten den Kanal St. Martin hinauf bis zur Place Jaurés. Wuchtige Bäume boten Schatten vor der warmen Sonne. Die Bistros hatten Tische und Stühle auf die Trottoirs gestellt. Es war Mittagszeit und alle besetzt. Ein Boot glitt die Wassertreppe hinab, Schleuse für Schleuse. Weiter oben wurden die grünen Uferstreifen breiter. Am anderen Ufer sah ich eine Gruppe Punks, die wie Spatzen um eine Bank herumhüpften. Das einzige Mädchen unter ihnen trug einen Anzug aus schottischem Karomuster.
Mit der Metro fuhren wir bis zur Place Pigalle und wanderten die Rue des Martyrs hinab, eine farbige und lebendige Straße, die mit ihren Gemüse- und Früchteläden noch viel vom alten Pariser Charme behalten hat. Der Schriftsteller Paul Léautaud ist in dieser Straße groß geworden, ein scheuer und verträumter Knabe damals. Nichts deutete auf das bissige Lästermaul als Erwachsener hin.
Im Roman Der kleine Freund hat er dem Quartier zwischen Pigalle und den großen Boulevards ein paar herrliche Seiten gewidmet. Das war in der Zeit, als noch Pferdefuhrwerke und Droschken die Straßen bevölkerten.

Als wir die Rue de Condé zum Boulevard St. Germain hinab gingen, stand die Tür bei der Nummer 26 weit offen. Ich benützte die Gelegenheit und trat ein. Seit 1892 ist hier der Verlag Mercure de France untergebracht. Eine große gewölbte Eingangshalle, nüchtern, Wände und Decke weiß gestrichen. Im Hintergrund eine offene Tür, ein Schreibpult war zu sehen, ein Regal voller Bücher. Ich stieg in den ersten Stock hoch. In einem Raum, zu dem die Tür offen stand, sortierte eine junge Frau Dokumente in eine Hängeregistratur ein. Ich fragte sie, welches das Büro von Paul Léautaud gewesen war? Sie hatte keine Ahnung, auch die Kollegin nicht, die sie fragte.
„In welchem Verlag hat er gearbeitet“, fragte die andere.
„Im Mercure de France“, gab ich zur Antwort.
„Oh, die haben ihre Büros einen Stock höher“, sagte sie, sichtlich erleichtert, dass sie diesen lästigen Besucher so bequem loswurde.
In zweiten Stock traf ich ebenfalls auf zwei junge Frauen, auch sie konnten mir keine adäquate Auskunft geben. Wie viele Spinner mittlerweile in Paris umherirren, dachten sie wohl. Vielleicht hatten sie Recht. Ich solle den Portier fragen, im Büro hinter dem Entree. Der Portier war nirgends zu finden. Ich blieb noch eine Weile in der Eingangshalle stehen, dachte daran, dass Paul Léautaud über dreißig Jahre lang dieses Entree betreten hatte, um in sein Büro, den „Pariser Wandschrank“, zu kommen. Mehr um die Tiere besorgt, die er in den Straßen von Paris aufgelesen hatte, als um die Arbeit, die ihn im Verlag erwartete.

Ich las Mit Proust durch Paris. Literarische Spaziergänge. Rainer Moritz geht darin Plätzen und Straßen nach, die im Leben und Werk des Autors eine Rolle spielen. A. und ich haben einige davon abgeklappert, aber bald verloren wir die Geduld dafür und gaben es auf. Diese Gänge haben mir Proust in keiner Weise näher gebracht. Im Gegenteil!
Wie oft schon bin ich in Paris den Spuren von Marcel Proust gefolgt? Jedes Mal entziehen sich mir Stadt und Autor. Es ist besser, wenn ich sie auseinanderhalte. Hier das Paris, durch das A. und ich regelmäßig streifen, dort das Paris, das im Werk von Proust beheimatet und das nur in seinen Büchern zu finden ist. Sie ergänzen einander, lassen sich aber nicht vermischen. Die Stadt zeigt sich mir immer dann, wenn ich sie ziellos durchstreife.

Man weiß zwar, wo Proust, aber nicht, wo der Ich-Erzähler der Recherche in Paris gewohnt hatte. Man kann annehmen, dass die Orte identisch sind. Proust war alles andere als ein exakter Schilderer von Handlungsorten, sie sind für ihn nur im Spiegel seiner Erinnerungen, Gedanken und Empfindungen wichtig. Paris als Ganzes ist realer Schauplatz in der Recherche. Manchmal werden einzelne Straßen oder Plätze genauer bezeichnet. Aber schließlich ist es nicht so wichtig.

An einem sonnigen Morgen gingen wir durch die Parkanlagen der Champs Elysées. Dort gibt es eine Marcel-Proust-Allee. Der kleine Marcel kam oft mit der Haushälterin zum Spielen hierher. Hier verliebte er sich in Gilberte, der Tochter von Swann, einem Freund des Großvaters. Vor seiner unpassenden Hochzeit mit der Kurtisane Odette de Crécy war Swann ein regelmäßiger Besucher der Familie von Marcel. Wir finden das grüne Toilettenhäuschen, das in der Recherche eine wichtige Rolle spielt, es steht mittlerweile unter Denkmalschutz. Der Modergeruch, den die Stätte einst ausströmte, versetzte den Erzähler in einen beglückten und betörenden Zustand, ohne dass er herausfand, was der Grund dafür sein könnte. Viele Seiten später wird die Großmutter in diesem Etablissement einen Schlaganfall erleiden.

Wir gingen zur barocken Kirche St. Augustin an der Kreuzung der Boulevards Haussemann und Malesherbes hinauf, wo im Februar 1903 Prousts jüngerer Bruder Robert die 24-jährige Marthe Dubois-Amiet geheiratet hatte. Marcel war vom Anlass ziemlich irritiert. Ein solches Eheglück kam für ihn nicht in Frage. Das war klar. Laut Moritz war die Kirche mit der fünfzig Meter hohen Kuppel, 1870 erbaut, in den Augen von Proust eine der typischen Geschmacksverirrungen des Second Empires.
Proust hatte an beiden Boulevards gewohnt. Am Boulevard Haussmann 102 konnte man früher noch Teile seiner Wohnung besichtigen, die im ersten Stock lag. Das Gebäude gehört einer Bank, die dort ihre Büros hat. Man musste sich am Schalter melden und wurde in die Wohnung hinaufgeführt. Ich hatte mir weite Parkettfluchten vorgestellt, doch die Wohnung ist enttäuschend klein. Hier wohnte Proust zwischen 1906 und 1919, hier schrieb er große Teile der Recherche. Als die Tante ihre Anteile am Haus verkaufte, sah sich Proust gezwungen, eine neue Wohnung zu suchen.
Es muss unbedingt kolportiert werden, dass Proust sein Schlaf- und Arbeitszimmer mit Korkplatten auskleiden ließ. Er war sehr lärmempfindlich. Was einem angesichts der langen Satzperioden mit den vielen Einschüben nicht wundert. Sie zu schreiben erfordert höchste Konzentration. Das kleinste Geräusch, und man verliert den Faden. Auch als Leser braucht man bei der Lektüre absolute Ruhe, sonst verheddert man sich in diesen Sätzen, und die Gedanken schweifen ab.
Wir gingen den Boulevard Malesherbes hinab zur Place Madelaine. Die Boulevards sind ihrer Länge wegen sehr ermüdend, so dass wir in einen dumpfen Trott verfielen und kaum noch etwas wahrnahmen. Wir blieben eine Weile vor dem Eingang der Nummer 9 stehen, wo die Familie Proust ab 1873 gewohnt hatte. 1903 starb der Vater, zwei Jahre später die Mutter. Proust war vierunddreißig, er hatte bisher immer bei den Eltern gewohnt. Er entschloss sich, die Wohnung aufzugeben und mietete jene am Boulevard Haussmann. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Marcel als Knabe hier ein- und ausging. Wie er auf die andere Straßenseite eilte, wo die „Colonne Morris“ stand, eine Litfaßsäule mit grüner Pickelhaube. Sie steht immer noch da. Er musste unbedingt wissen, welche Stücke am Theater aufgeführt wurden. Das war für die Gespräche mit seinen Kameraden wichtig. In Unterwegs zu Swann erzählt er von seiner jugendlichen Neugierde: „Jeden Morgen lief ich zur Anschlagssäule, um nachzusehen, welche Stücke angezeigt waren. Nichts hätte selbstloser und beseligender sein können als die Träume, die jedes angekündigte Stück meiner Einbildungskraft schenkte und die für mich die Würze durch die Bilder erhielten, die sich unweigerlich gleichzeitig mit den Worten einstellten, aus denen der jeweilige Titel bestand, sowie auch durch die Farbe der noch feuchten und vom Leim geschwellten Plakatzettel, auf denen sie erscheinen.“

Im Musée de Carnavalet ist das Zimmer, in dem Proust gearbeitet hat, nachgebildet. Er hat sein Riesenwerk nachts im Bett geschrieben. Das Bett mit dem blauen Satinüberwurf steht da, Fauteuils, ein schwarzlackierter Sekretär, Tischchen, die Wände mit Korkplatten ausgestattet.
Gleich daneben gibt es die Nachbildung des Schlafzimmers von Paul Léautaud. Was für ein Gegensatz. Das Zimmer von Proust strahlt Eleganz und Vornehmheit aus, das von Léautaud Bedürfnislosigkeit und Bescheidenheit. Unter dem Bett schaut sein Nachtgeschirr hervor. Am 23. November 1946 notierte Léautaud in sein Literarisches Tagebuch: „Ich habe mir einen Nachttopf aus Limoges-Porzellan gekauft. Klein. Mit kleinen Motiven verziert. Sehr hübsch.“
Die unmittelbare Nachbarschaft der beiden Zimmer hat eine ironische Komponente. In einem Brief bezeichnet Proust Léautaud als „Engel der Finsternis“, als „das widerwärtigste Wesen, das es gibt, ein Wesen, vollkommen bar aller Intelligenz, allen Stils, aller Grammatik, Sensibilität, Originalität, allen Talents“. Die Erzählung Amours, in der Léautaud von seiner erste Liebe berichtet, sei „das Scheußlichste und Blödsinnigste, was sich denken lässt“. Ja, Proust hätte die größte Angst, so schreibt er, sich mit Léautaud zu duellieren, eine Idee, über die Léautaud wohl laut herausgelacht hätte. Von Ehrgefühlen hielt er wenig, völlig absonderlich, deswegen aufeinander zu schießen.

Nichts liegt weiter auseinander, als der Schreibstil von Proust und jener von Léautaud. Wo Proust Bilder und Vergleiche aufhäuft, eine Metapher die nächste nach sich zieht, hat Léautauds Sprache etwas Karges, Nüchternes, Kunstloses. Keine Metaphern, keine Vergleiche, aber eine unvergleichliche Präzision und Direktheit, die für viele damals schockierend war. In Memoriam, in dem er über seinen Vater und dessen Sterben erzählt, war in Fortsetzungen im Mercure de France erschienen. Das schonungslose Porträt des Vaters, führte dazu, dass etliche Leser ihr Abonnement des Mercure kündigten. Sie schienen nicht gemerkt zu haben, dass trotz der Unverblümtheit eine zärtliche Liebe für diesen Rabenvater mitschwang. Sie vermissten Schicklichkeit, Zurückhaltung, Pietät angesichts des Sterbenden. Léautaud schreckte nicht zurück, die banalen Bemerkungen, die am Sterbebett des Vaters geäußert wurden, in seinen Bericht aufzunehmen. Zudem beschreibt er die Agonie minutiös, was wiederum an Proust erinnert, der das Sterben der Großmutter ebenfalls minutiös beschrieben hatte.
Mittlerweile sind wir uns in der modernen Literatur an anderes gewöhnt, als dass für uns Léautauds Bericht pietätlos wäre oder Tabus und Geschmacksfragen verletzt würden.

In der Librairie Delamain an der Place Colette finde ich eine zweibändige Ausgabe von À la Recherche du Temps Perdu. Dünndruck, Ledereinband. Unerschöpflicher Proust. Man sollte sich mit ein paar wenigen Büchern begnügen. Es ist der Roman, der mich am meisten berührt, in dessen Welt ich ebenso gerne herumspaziere wie durch Paris. Die durch sinnliche Erlebnisse unbewusst wachgerufenen Erinnerungen, die den Ausgangspunkt in der Recherche bilden, kenne ich gut. Wie oft schon haben bestimmte Gerüche, Geräusche, Geschmäcker in mir längst vergessene Erinnerungen wieder geweckt.