Ich war siebenundzwanzigjährig, als ich Die Fackel im Ohr das erste Mal las, den zweiten Teil der dreibändigen Lebensgeschichte von Elias Canetti, das erste Buch von diesem Autor überhaupt. Ich musste zum Militärdienst einrücken, nach Losone im Maggiatal. Am Samstag zuvor war ich in einer Buchhandlung gewesen, um mir Lesestoff für die zwei Wochen zu besorgen, die der Dienst dauerte.
Das Kapitel über Isaak Babel, dessen Erzählungen ich mit Begeisterung gelesen hatte, war der Schlüssel zu dieser Tür. Canetti war Babel im Herbst 1928 in Berlin begegnet, als er für den Malik Verlag eine Biographie über Upton Sinclair zusammenstellte, eine kurze Begegnung, aber Canetti war so fasziniert, dass er dem Russen ein ganzes Kapitel widmete. Babel von Paris gekommen, wo er seine Frau besucht hatte, war auf der Rückreise nach Russland und machte Halt in Berlin. Canetti bewunderte „die Farbigkeit, die Wildheit und Kraft“ der Erzählungen aus Odessa, sie seien wie von den eigenen Kindheitserinnerungen gespeist.
„Mit seinen kugelrunden Augen hinter den sehr dicken Brillengläsern sah er sich die Leute um uns an, jeden einzelnen, alle, und hatte nie genug von ihnen.“ Babels Neugier habe sich weniger auf die Leute in den Künstler- und Nobellokalen gerichtet, als auf jene in einfacheren Gaststätten. Dort hätten sie oft nebeneinander gestanden und Erbsensuppe gelöffelt. Der leere Teller sei Babel lästig gewesen, er hätte sich einen unerschöpflichen gewünscht, um weiter beobachten zu können, denn die Leute wechselten rasch, es gab viel zu sehen. Canetti sagt, er habe nie jemanden erlebt, der mit solcher Intensität beobachtete wie Babel.
Lange war der dicke Herr in grauem Anzug, dem weißen Haarschopf und massigen Schnurbart für mich der typische Autor einer gehobenen, gut gebildeten Leserschicht; ich machte einen Bogen um seine Bücher.
Und jetzt erwies sich Die Fackel im Ohr als ideales Buch, um mich im Militärdienst vor den Befehlen und der Langenweile zu drücken. Ich wurde von einer Lesegier gepackt, wie ich sie selten erfahre, jene Momente, in denen man vollkommen in die Lektüre abtaucht, in ihr aufgeht, Umwelt und Mitmenschen als Störfaktoren empfindet, und nur eines wünscht, nämlich in Ruhe gelassen zu werden, um ungestört lesen zu können. Ich war überwältigt von Canettis kolossalem Erinnerungsvermögen, vom Detailreichtum, mit dem er Schauplätze, Situationen, Figuren und Gespräche schildert.
Damals nahm ich die Bücher, die mich begeisterten, so hin, wie sie sind, inzwischen habe ich diese Unvoreingenommenheit verloren. Etliche Figuren kommen mir bei der erneuten Lektüre satirisch überzeichnet vor.
Es war nicht so, dass ich den Kameraden aus dem Weg ging. Im Gegenteil. An gewisse Gespräche kann ich mich noch gut erinnern. Abends gingen wir in die Kneipe und tranken Merlot. Am anderen Tag hatte ich Kopfschmerzen. Wir waren alle ungefähr im gleichen Alter, ein kleines Detachement von Hilfssoldaten. Es gab auch ein paar ältere, Tessiner, und eine Gruppe von Frauen, die ihre Unterkunft außerhalb der Kaserne hatten.
Ich verstand mich gut mit Engelbert, einem Biologen aus Bern. Manchmal verdufteten wir und streiften der Maggia entlang. Engelbert hatte sich auf Flechten spezialisiert. Er erklärte mir die verschiedenen Arten und unter welchen Bedingungen sie wuchsen. Gewisse Flechten waren ein Indikator dafür, ob die Luft sauber oder verschmutzt war.
Eines der Lokale, in das wir oft gingen, wurde von zwei Frauen geführt, Mutter und Tochter. An der Theke standen jeweils ein paar Männer und sangen alte Tessiner-Lieder. Die Mutter saß am Kamin, stocherte mit einem Schürhaken im Feuer und sang mit. Sie hatte eine helle, mädchenhafte Stimme, die mich überraschte, denn sie passte nicht so recht zu dem alten, runzligen Gesicht und dem verbrauchten Körper.
Canettis junge Jahre waren geprägt von wechselnden Schauplätzen und der Begegnung mit unterschiedlichsten Kulturen und Sprachen. Er kam 1905 im bulgarischen Rustschuk an der unteren Donau als Kind sephardischer Juden zur Welt. Um der Enge des Balkans zu entfliehen, siedelte die Familie 1911 nach Manchester in England um. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters (er starb am 8. Oktober 1912 an einem Herzversagen, dreißig Jahre alt), zog Mathilde Canetti mit ihren drei Söhnen nach Wien, in jene Stadt also, wo sie ihren Mann kennengelernt hatte. Um den Folgen des Krieges auszuweichen, gingen sie 1916 ins sichere Zürich.
Canetti sprach schon früh mehrere Sprachen: Ladino, das alte Spanisch der Juden, die im Mittelalter aus Spanien vertrieben worden waren, Englisch, Französisch und Deutsch, das ihm die Mutter mit brachialen Mitteln beigebracht hatte.
In Die Fackel im Ohr wird die Zeit zwischen dem 16. und dem 26. Lebensjahr erzählt; die intensivste Zeit im Leben eines Menschen; Jahre des Wachsens, Ausdehnens, Vermehrens und der energischen Bewegungen.
Frankfurt a.M., Wien und Berlin sind die wichtigsten Aufenthaltsorte im Buch. Mathilde Canetti war mit den drei Söhnen nach Frankfurt gezogen, wo Inflation und die Folgen des 1. Weltkrieges deutlich spürbar waren. Unerbittlich hat sie ihren Ältesten aus dem Zürcher Blumengarten gerissen; sie wollte keinen Deppen als Sohn, der vor lauter Büchern nicht wusste, wie es in der Welt tatsächlich zu und her ging. Elias war sechzehn, er fühlte sich zu den Menschen und der Schule in Zürich hingezogen, das Schweizerdeutsch hatte er gegen den zähen Widerstand der Mutter gelernt. Der Wegzug aus Zürich war ein Schock für ihn. Später zog die Mutter mit den zwei jüngeren Brüdern wieder nach Wien. Elias blieb bis zum Abitur in Frankfurt, dann übersiedelte auch er nach Wien.
Mathilde Canetti insistierte darauf, dass Elias einen nützlichen Beruf erlerne und in seinem Leben ebenso erfolgreich würde wie ihr Bruder in Manchester. Elias Abneigung gegen alles, was mit Geld, Geschäfte machen und Reichtum zu tun hatte, kondensierte sich in diesem Onkel. Die Spannungen zwischen Mutter und Sohn wurden immer größer. Schließlich kam es zum endgültigen Zerwürfnis. Als die Mutter ihm das Geld für eine Wanderung ins Karwendelgebirge verweigerte, das sie ihm anfänglich zugesichert hatte, packte Elias einen wilden Zorn. Er ging auf sein Zimmer, nahm einen Block mit teurem Schreibpapier und füllte wie ein Durchgedrehter Seite um Seite mit dem Wort „Geld, Geld, Geld“. Bald war der Boden übersät mit vollgekritzelten Seiten. Der Arzt wurde alarmiert, er empfahl, Elias solle die Wanderung machen und dann von zu Hause ausziehen.
Das Chemiestudium, das er auf Druck der Mutter absolvierte, schien er wie nebenbei gemacht zu haben und ohne, dass es ihn wirklich interessierte. Er wollte nur eines: Dichter sein.
Seine eigentliche Universität waren die öffentlichen Vorträge von Karl Kraus, für Canetti eine Schule des Hörens. Bei diesen Vorträgen lernte er Veza Taubner kennen, die geheimnisvolle Schöne mit der hypnotischen Ausstrahlung einer Andalusierin, belesen wie kaum eine andere. Canetti wich ihr anfänglich aus, später wurden sie ein Paar und heirateten. Im Gegensatz zu Canetti behielt Veza eine gewisse ironische Distanz zu Karl Kraus. Für Canetti wurde alles, was der Redner sagte, zum Gesetz, an dem nicht gezweifelt werden durfte, er begann Karl Kraus nachzuahmen. Das Bild von der schönen Andalusierin ist Canetti vollkommen gelungen, irritierend ist die Tatsache, dass er in seiner Lebensgeschichte verschweigt, dass Veza selber Schriftstellerin, lange vor ihm veröffentlicht und bekannt geworden war.
Der Gegensatz zwischen Wien und Berlin hätte nicht grösser sein können. Da die Hauptstadt des Habsburgerreichs, das im 1. Weltkrieg untergangenen war, jetzt von einer morbiden Trägheit befallen, und dort die preußische, die innert wenigen Jahrzehnten eine Großstadt wurde. Sie war laut, dynamisch, von einer vitalen Härte, ein neues Epizentrum von Kultur und Literatur. Alles was einen Namen hatte, drängte sich in Berlin zusammen. Durch Wieland Herzfelde, dem Leiter des Malik Verlages, lernte Canetti zahlreiche Berühmtheiten kennen. George Grosz schenkte ihm die Zeichenmappe Ecce Homo, die wegen Obszönität verboten war. Bei Brecht fiel ihm als erstes die proletarische Verkleidung auf.
Canetti war von Büchern besessen, und von Menschen. Von beiden bekam er nie genug. Er entzündete sich an Büchern. Sie waren seine Obsession. Er verzichtete lieber auf Malzeiten als auf Bücher. Im Vergleich zu ihm, habe ich nichts gelesen.
Kaum hatte Canetti seine Dissertation über die Darstellung des Tertiärbutycarbinols abgeschlossen, stürzte er sich in seine literarischen Projekte. Den Lebensunterhalt verdiente er mit Übersetzungen für den Malik Verlag. Er zog an den Stadtrand von Wien, nach Hacking an die Hagenbergstraße, von seinem Fenster aus sah er auf den Steinhof, die Stadt der Irren.
Er entwarf acht verschiedene Figuren, daraus sollte eine achtbändige Comédie Humain an Irren werden. Beim Schreiben sprang er von einer Figur zur nächsten. Doch dann implodierte die Sache, einzig die Figur des Büchermenschen blieb übrig, die anderen lösten sich in Luft auf. So entstand Die Blendung, sein erstes Buch und einziger Roman. Er hatte es innerhalb eines Jahres geschrieben. Der Büchermensch hieß zuerst nur „B.“, später „Brand“, der flackernde Name irritierte Canetti beim Schreiben, er taufte ihn in „Kant“ um, Peter Kien wurde der endgültige Name. Ein weltfremder Sonderling, Sinologe und Altertumsforscher, verblendet, was die Wirklichkeit betraf, voller Verachtung für alltägliche Dinge. Das Leben spielt ihm so übel mit, dass er am Schluss seine Bibliothek anzündet und samt seinen fünfundzwanzigtausend Büchern verbrennt.
Wäre Kien nicht lang und dürr wie sein Name, könnte man meinen, Canetti habe sich in Kien selber proträtiert, oder die Befürchtungen der Mutter, was aus einem auf Büchern versessenen Jungen werden könnte.
Noch in Frankfurt, stand er eines Tages wie gebannt am Straßenrand, als eine riesige Menschenmasse anlässlich der Ermordung von Walter Rathenau aufmarschierte. Fünf Jahre später, im Juni 1927, war er dabei, als die erzürnte Wiener Arbeiterschaft in langen Zügen vor das Justizgebäude zog und es in Brand steckte, denn im Burgenland waren streikende Arbeiter erschossen und die Mörder freigesprochen worden. Wie in Frankfurt wurde er von der Masse überwältigt und von ihr aufgesogen.
Diese zwei Massenkundgebungen waren die Keimzelle zu seinem Lebensprojekt. Er wollte herausfinden, was Masse ist und wie Macht aus der Masse entsteht. Fast drei Jahrzehnte lang beschäftigten ihn diese Fragen. 1960 erschien sein opulentes Buch Masse und Macht.