Olhaõ liegt ungefähr dreißig Kilometer westlich der Mündung des Guadinanas, dem Fluss, der im Süden Portugal von Spanien trennt. Eine weite, grau schimmernde Lagune schirmt das Städtchen gegen das offene Meer ab. Weit draußen im Haff steht der Leuchtturm. Am Rand des Städtchens gab es eine Fischfabrik. Manchmal war der Gestank so penetrant, dass es einem übel davon wurde.
Aufgrund einer Postkarte, die ich in einem Souvenirladen in Lissabon fand, stellte ich mir Olhaõ als maurisches Städtchen vor, leuchtend weiß, verschachtelt und verwinkelt, mit würfelförmigen Bauten, geheimnisvollen Treppen, Innenhöfen, Dachterrassen und runden Kaminen, die Minaretten gleichen.
Zu meiner Enttäuschung sah Olhaõ nicht besonders maurisch aus.
Am Morgen verließ ich jeweils gegen zehn Uhr die kleine Pension, in der ich wohnte, und ging in ein Café an der Rua da Republica. Ich setzte mich ans Fenster, um das Leben auf der Straße zu beobachten.
Kaum hatte der Kellner den Milchkaffee und das geröstete und von Butter triefende Brot serviert, schlenderte ein Penner am Lokal vorbei und starrte auf mein Frühstück. Ein verhutzeltes Männchen mit langem filzigem Haar, vom Wetter gegerbter Haut und zwei gierigen, listigen Augen. Eines Tages deutete ich ihm, hereinzukommen und sich an meinen Tisch zu setzen. Er drückte die Nase an die Scheibe und schaute belustigt auf mein Gestikulieren. Dann ging er weiter. Nach ein paar Minuten strich er wieder am Fenster vorbei und blinzelte listig. Aber ich winkte ihn nicht mehr herein. An diesem Morgen schlenderte er wohl noch ein halbes Dutzend Mal vorbei.
Am Uferquai standen die Markthallen aus rotem Backstein und mit runden Ecktürmen. Daneben gab es einen kleinen Park. Nach dem Frühstück setzte ich mich dort auf eine Bank und betrachtete die weite Lagune, die vor mir lag. Lange Inselbänke schützten sie vor dem offenen Meer. Auf einer gab es eine Kolonie hässlicher Ferienhütten. Das Meer sah weich und fern aus. Die Ebbe sog alles Wasser ab und ein schwarzer, faulig riechender Morast kam zum Vorschein. Muschelsucher wateten darin herum. Farbige Fischerboote lagen im Schlick. Wenn die Flut stieg, fingen sie munter auf dem Wasser zu tanzen an. Jetzt schauten nur noch ein paar wenige, mit Gras überwachsene Buckel aus dem Wasser, es herrschte reger Verkehr auf den schmalen Wasserstraßen, Fischerboote fuhren aufs offene Meer hinaus oder kamen von ihrem Fang zurück. Es war März, die Tage wurden länger und wärmer.
Ich zog das Buch hervor, das ich mir bis zum Schluss der langen Reise durch Portugal aufgespart hatte: Die Fahrt zum Leuchtturm von Virginia Woolf. Sowohl der Leuchtturm, den ich vor Augen hatte, als auch jener im Buch sind nur mit dem Boot erreichbar. Der im Buch ausschließlich bei gutem Wetter und ruhigem Meer, denn er stand weit entfernt auf einer vorgelagerten felsigen Insel. Ich wusste, dass ich nie zum Leuchtturm hinaus fahren würde. Es genügte mir, ihn so aus der Ferne zu sehen. Wiewohl ich gerne gewusst hätte, ob das Leben eines Leuchtturmwächters wirklich so einsam ist wie es im Buch beschrieben wird, dass einem sogar alte Zeitschriften willkommen sind.
Wie gut verstand ich den sechsjährigen James (der begabteste und empfindungsfähigste der acht Kinder der Ramseys), der seinem Vater gerne die Brust mit einem Schürhaken zertrümmert hätte, weil der ihm mit der sarkastischen Bemerkung „morgen werde es nicht schön sein“ seine Freude auf die Fahrt hinaus zum Leuchtturm verdarb. Zehn Jahre später zwingt der Vater James und Sue mit ihm hinaus zum Leuchtturm zu segeln, obwohl keines der nun halbwüchsigen Kinder Lust darauf hat. Väter können schrecklich grausam sein.
Am Abend versank das Lido in der Dämmerung. Der Leuchtturm war nur noch als vager Strich zu sehen. Sein Licht begann aufzublinken. Nach vier Mal aufleuchten verschwand es für ein paar Sekunden gänzlich. Die Möwen glitten mit lautem Gekreisch über die Lagune. Die roten und die grünen Lampen wurden angezündet, die die Fahrrinne für die Fischerboote und das Passagierschiff markierten. Eine kühle Brise wehte durch die Maulbeerbäume. Die Sirene der Fischfabrik heulte und bald darauf kamen die jungen Arbeiterinnen schwatzend und lachend durch den Park.
Virginia Woolf erzählt in ihrem Buch von zwei Tagen im Leben der Familie Ramsey. Die zwei Tage liegen zeitlich etwa zehn Jahre auseinander. Die Ramseys verbringen den Sommerurlaub mit eingeladenen Gästen in einem Strandhaus auf der Halbinsel Skye oben in Schottland. Zum Strandhaus gehören eine Terrasse, ein großer Garten, Tennisplatz, Hecke, Strand und in der Ferne „der altersgraue Leuchtturm“. Am Abend sitzen fünfzehn Personen am Esstisch. Ein fragiles Netz menschlicher Beziehungen, das beim kleinsten Anlass zu zerreißen droht.
Der Roman besteht aus den drei Teilen: „Der Ausblick“, „Wie die Zeit vergeht“, „Der Leuchtturm“. Am ersten Tag ist die Familie noch vollzählig, im Kapitel „Wie die Zeit vergeht“ stirbt eines Nachts die Mutter. Andrew, der älteste Sohn, ein begabter Mathematiker, wird im Krieg von einer Granate getötet. Und Prue stirbt im Kindsbett.
Eines Tages führte mich die Besitzerin der Pension auf das Dach hinauf. Man sah über die ganze Stadt. Ich erblickte ein Labyrinth von Açoteias, Terrassen, Kuben, runden Kaminen, schmalen Außentreppen. Alles weiß gekalkt und mauretanisch. Wäsche flatterte im Wind. Schwarzgekleidete Frauen huschten über die Dächer und verschwanden hinter dunklen Türen. Ein Hund bellte auf der Dachterrasse des Nachbarhauses. Meine Anwesenheit schien ihn zu verdrießen. Da war es, das Postkartenbild, das ich seit meiner Ankunft vergeblich gesucht hatte. Eine Fata-Morgana, eine Stadt über der eigentlichen Stadt. Es kam mir so vor, als hätte die Besitzerin der Pension meinen zertrümmerten Tagtraum vor meinen Augen wieder zusammengesetzt.
Die Geschichte in Die Fahrt zum Leuchtturm wird vornehmlich aus der Optik von zwei Frauen erzählt: von Mrs. Ramsey, Ehefrau und Mutter, und Lily Briscoe, einer ledigen Malerin, die ihren Sommerurlaub bei den Ramseys verbringt; die Gezeiten ihrer Gefühle und Gedanken bilden den Fluss des Geschehens. Die Frauen sind in einer anderen Erde verwurzelt als die Männer, die sich schrecklich viel auf ihre Studier- und Bücherwelt einbilden.
Der verklemmte und unsichere Mr. Tansley, (sein Großvater war Fischer gewesen und sein Vater Drogist), hat sich mit Fleiß, Eifer und Strebsamkeit hochgearbeitet, er schreibt an seiner Doktorarbeit. Ein „jämmerliches Exemplar“, sagen die Kinder über ihn, „lauter Höcker und Höhlungen“.
Der Dichter Auguste Carmichael, „gelbe Katzenaugen“, liegt tagsüber einfach nur auf dem Rasen in der Sonne und schlägt sich abends seinen geräumigen Wanst voll. Er nähme Opium behaupten die Kinder, deshalb die gelben Flecken in seinem Bart. Aus ihm hätte ein großer Philosoph werden können, sagt Mrs. Ramsey zu Tansley, aber eine Liebesaffäre in Oxford, frühe Heirat, Armut, Indien hätten das verhindert.
Die Malerin Lily Briscoe, (dreiunddreißig Jahre alt, „ein selbstständiges kleines Ding“) ist verliebt in Mrs. Ramsey. Sie wäre gern eins geworden mit ihr, denkt sie, auf dem Boden sitzend und den Kopf an Mrs. Ramsey Knie gelehnt. Mrs. Ramsey bewundert die Unabhängigkeit der Malerin. Im Gegensatz zu Mrs. Ramsey, ist Lily keine Schönheit.
Mr. Ramsey lebt ganz in seiner Gedankenwelt. Während er durch den Garten wandelt, sagt er laut deklamierend Gedichte auf oder macht Überlegungen wie: „Diese Steine da, an die man mit der Fußspitze stieß, würden Shakespeare überdauern.“
In Lilys Augen besitzt Mr. Ramsey keine Spur von Größe. Er sei kleinlich, selbstisch, eitel, egozentrisch, ein verwöhnter Tyrann, mag er als Philosoph einige Wichtigkeit haben. In seinen Augen ist sie ein armes, dürftiges Etwas.
William Banks, ein älterer Witwer, Botaniker, „der nach Seife roch, peinlich adrett und sauber“, langweilte die anderen damit, dass beim Kochen darauf zu achten sei, dass die vegetabilen Nährstoffe im Gemüse nicht zerstört würden. Banks und Ramsey sind einmal Freunde gewesen. Doch Ramseys Heirat, so Banks, hätte der Freundschaft alles Mark entzogen, geblieben sei bloß die Gewohnheit der Freundschaft.
Es gibt auch noch eine Miss Minta Doll und einen Mr. Paul Rayley, die sich am Strand küssen, was Andrew und Nancy, die ältesten der Kinder, unsäglich empört. Ihre Ehe wird unglücklich enden.
Ein paar Tage lang stand ein blauer Kastenwagen am Quai bei den Markthallen. Ein Paravent aus Strohmatten schützte das Gefährt vor Wind und neugierigen Blicken. Darin wohnten ein struppiger magerer Mann mit langem Haar und grauem Bart und drei halbnackte dunkelhäutige Kinder, die auf dem Quai herumtollten. Dem Hund hatten sie ein rotes Band ins Haar gebunden. Manchmal sah ich den Mann durch die Gassen gehen, barfuß und in ausgefransten Jeans. Eines Morgens war eine Wäscheleine vor dem Wagen aufgespannt, buntes Zeug flatterte daran im Wind. Dann kam eine große dicke Schwarze heraus. Sie wusch Wäsche im Kunststoffbecken, das auf dem Mäuerchen stand. Das schmutzige Wasser schüttete sie ins Meer. Ich hatte gedacht, der Mann lebe mit den Kindern allein in dem Kastenwagen. Am Abend waren sie fort. Schade – ich hätte sie gerne kennengelernt. Damals faszinierten mich Vagabunden und Strolche, ohne den Mut zu haben, selber einer zu werden. Die Akademiker in Woolfs Buch blieben mir dagegen fremd.
Als ich den letzten Satz des Buches las, wusste ich, es war Zeit, weiterzuziehen. Ich winkte dem Leuchtturm draußen im Haff ein Adieu zu, holte meine Reisetasche in der Pension und ging zum Busbahnhof.