Genealogie

Die Liebe zu den Büchern habe ich von meiner Mutter. Sie war eine leidenschaftliche Leserin. Mit zwanzig las sie den ganzen Shakespeare. Bei uns zu Hause gab es ein Regal voller Bücher, darunter etliche Bände von Jeremias Gotthelf. Sie haben mich nie interessiert. Was gingen mich die Emmentaler Bauern an? Ich wollte in die Welt. Die großen Städte waren für mich die Welt. Ganz oben in der rechten Ecke des Regals stand ein dickes Buch für und über die Frau von Reader’s Digest. Die Mutter sah es nicht gerne, wenn wir darin blätterten und nahm es uns weg. Der Vater hat keine Bücher gelesen, auch in seiner weitläufigen Verwandtschaft schien sich niemand wirklich für Bücher zu interessieren.

Wenn ich mich mit Pit aus dem Buch Große Erwartungen von Charles Dickens vergleiche, so fällt mir als erstes auf, dass Pit als Knabe, im Gegensatz zu mir, voll Lerneifer war. Er wollte lernen, aber er durfte nicht zur Schule, seine um viele Jahre ältere Schwester, die ihn aufzog (beide Eltern waren gestorben) verbot es ihm. Pit sollte wie Joe, ihr Mann, einmal Schmid werden. Joe konnte kaum lesen, aber er hatte für Pits Lerneifer größtes Verständnis. Ich hingegen musste zur Schule, was ich nur widerwillig tat. Das Lernen lag mir nicht. Vielleicht war ich ein wenig begriffsstutzig, obwohl die Lehrerin der ersten Primarklasse gemeint hat, ich sei bestimmt ein intelligenter Bub, aber es fehle mir an Fleiß und Wille. Als Linkshänder hatte man mich gezwungen mit der rechten (der schönen) Hand zu schreiben. Ohrfeigen und Schläge gehörten zum Schulalltag.

Die Schwester schickte Pit zur Großtante von Mr. Maples, der ein regelmäßiger Gast bei ihnen war. Die Großtante von Mr. Maples, eine obskure Frau, gab abends zwischen sechs und sieben Uhr Unterricht für Kinder, die keine Schule besuchten. Gelernt haben die Kinder da nicht viel.

Ich war bereits in der dritten oder vierten Klasse, als ich endlich lesen konnte. Es war ein Erweckungserlebnis, jenem eines Zen-Mönches ähnlich, der nach unzähligen gescheiterten Versuchen schließlich sein Koan lösen kann.

Ich verfiel dem Zauber der Bücher. Von ihnen komme ich nicht los. Zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenkte man mir ein Buch, sofern ich nichts Dringlicheres (Schuhe, Hemd, Windjacke) benötigte. Alle Bücher, die ich als Knabe erhalten habe, sind mir lebhaft im Gedächtnis geblieben : Winnetou, Robinson Crusoe, Lederstrumpf, Tom Sayers und Huckleberry Finns Abenteuer, Andersens Märchen, die Bibel in jeweils dem Alter entsprechenden Ausgaben. Ich erinnere mich noch gut an Absalom, dem Sohn Davids; auf der Flucht verfingen sich seine langen roten Haare in den Ästen eines Baumes. Er blieb im Baum hängen. Um ihn herunterzuholen, musste man ihm das Haar, auf das er sehr stolz war, abschneiden. Alles was ich von der Bibel weiß, stammt aus der Kindheit. Trotzdem habe ich das Gefühl, ziemlich bibelfest zu sein.
Die Weihnacht, an der man mir die Biographie von Thasunka Witko (Tolles Pferd), dem großen Indianerhäuptling der Oglala-Lakotas, schenkte, war meine wichtigste Weihnacht überhaupt. Ob dem Buch vergaß ich den Schnee, die Kameraden, das Schlitteln. Der Winter auf den Plains östlich der Rocky Mountains muss hart gewesen sein, in den Tipis herrschte eine eisige Kälte, da brauchte ich nicht noch an die frische Luft. Ich las es gleich ein paar Mal hintereinander. Noch heute lese ich ein Buch, das mir gefällt, mehrmals hintereinander.
Das Buch war aus der Reihe Berühmte Indianer, weiße Kundschafter, verfasst von Ernie Hearting, einem Schweizer Kaufmann, der eigentlich Ernst Herzig hieß und in den USA tätig gewesen war. Das Ungewöhnliche an seinen Büchern ist, dass er im Gegensatz zu Karl May, nicht einfach drauflos fantasierte, sondern sich exakt an historische und ethnographische Quellen hielt. Seine Sympathien galten den Indianern, er scheute sich nicht, das Vorgehen der amerikanischen Armee in seiner ganzen grausamen Brutalität darzustellen. Tashunko Witko wurde mein erstes Vorbild. Er war von einem beispiellosen Mut und Entschlossenheit und klarer Geisteskraft.

Bei den Großeltern auf dem Lande lebten auch ein Onkel und zwei Tanten. Mein Bruder und ich verbrachten viele Sommer im Kidli, so hieß der abgeschiedene Bauernhof nämlich. Es war ein Wald- und Kuhweidenuniversum im Luzerner Hinterland über dem kleinen Dorf Kottwil. Vom Hof des Nachbarn waren nur Dachgiebel und Kamin zu sehen. Als wir eines Sommers wieder da oben im Kidli waren, ich glaube, für mich war es das letzte Mal, lasen die beiden Tanten Der roten Seidenschal von Federica de Cesco. Ich war neugierig auf das Buch, aber die Tanten versteckten es vor mir. Je hartnäckiger sie mir das Buch vorenthielten, umso neugieriger wurde ich darauf. Eines Tages hatten sie es in der Stube liegen gelassen. Ich weiß nicht, ob aus Unachtsamkeit oder weil sie nun doch fanden, ich dürfe es lesen. Ich schnappte mir das Buch und verschwand damit im Wald. Dort hatten wir eine große Laubhütte im Stil eines Tipis. Der Onkel hatte sie für uns gebaut. Ich machte es mir darin bequem und begann zu lesen. Irgendwann hörte ich die gellende Stimme von Helen, der jüngeren Tante, ich solle sofort zum Mittagessen kommen. Ich versteckte das Buch und ging essen.
Der Onkel besaß ein paar Bücher, darunter eine Biographie von David Crockett, dem Waldläufer aus Tennessee mit der Waschbärenmütze auf dem Kopf; er kam in der Schlacht von Alamo bei San Antonio, Texas ums Leben. Seither hat das Wort Tennessee für mich den Klang von leuchtend grünen Wäldern, durch die silbrig schimmernde Flüsse flossen.

Als ich nicht mehr zu den Großeltern aufs Land ging, schickte man mich ins Ferienlager des CVJM. Diese Ferien sind mir in angenehmer Erinnerung geblieben. Im letzten Lager, das ich besuchte, wurden im Lauf der zwei Wochen, die es dauerte, Wettkämpfe veranstaltet. Für jeden Wettkampf erhielt man eine bestimmte Anzahl Punkte. Am letzten Abend wurden die Punkte zusammengezählt und die Rangliste verkündet. Ich hatte eine der höchsten Punktzahlen erreicht und durfte mir einen der Preise auswählen, die vorne auf dem Tisch lagen. Neben einem Fahrtenmesser, dem Wunsch aller Knaben, gab es noch etliche andere Dinge zur Auswahl, darunter auch zwei Taschenbücher. Ich wählte die Taschenbücher, eines besitze ich heute noch: Billy Budd von Herman Melville.

Mit siebzehn wurde ich Trotzkist. Ich las die Bücher von Karl Marx, Leo Trotzki und Ernest Mandel. Ich bezweifle, dass ich viel davon verstanden habe. Zumal ich immer mit den schwierigsten Büchern anfing und einfachere, sachdienlichere etwas verachtete. Dann stellte ich fest, dass biographische Werke mir mehr lagen als die theoretischen. Im Fluss einer Lebenserzählung eingebettet, wurden Theorien für mich greifbar. Franz Mehring über Karl Marx, Trotzkis Autobiographie Mein Leben, die Biographie des deutschen Revolutionärs Eugen Leviné, von seiner Frau verfasst; er wurde 1919 nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik standrechtlich erschossen.

Mit neunzehn Jahren geriet ich an Unruhige Jugend von Konstantin Paustowskij, dem zweiten Band seiner Erzählungen vom Leben, mein erstes literarisches Buch. Und ich war für den Marxismus verloren. Paustowskij war ein ruheloser Wanderer. Russland, dieses riesige Reich, ließ ihm viel Platz dafür. Ich spürte die Enge meines eigenen Daseins und träumte von einem Nomadenleben.
Im gleichen Jahr schenkte mir die Mutter die Lebensgeschichte von Schwarzer Hirsch (Hehaka Sapa), dem großen Seher und Heiler der Oglala-Lakotas, ein gewaltiges poetisches Buch. Vielleicht hoffte sie, mich auf andere Gedanken zu bringen. Sie fand meine Begeisterung für den Marxismus daneben. Wohin das führe, sähe man bei der Sowjetunion. Wie oft hatten wir uns deswegen gestritten. Ich konnte ihr noch lange erklären, dass Trotzki ein Gegner von Stalin war, es half nichts.
Schwarzer Hirsch war ein Heiliger im ursprünglichen Sinn des Wortes. Er konnte weder lesen noch schreiben, er sprach auch kein Englisch, aber er besaß eine umfassende Lebenserfahrung und hatte eine tiefe Einsicht in die Natur der Dinge. Der Anthropologe John G. Neihardt hat seine Erzählung aufgeschrieben. Schwarzer Hirsch war ein Verwandter von Tolles Pferd. Claudio Magris vermutet, dass Schwarzer Hirsch Tolles Pferd nicht verstanden habe, obwohl er viel von ihm erzählt. Tolles Pferd sei die wohl rätselhafteste Figur unter den Lakotas gewesen, ein ruheloser Hamlet, der aus Versehen unter die Indianer geraten war. Nachts wanderte er wie ein Schatten durch das schlafende Tipi Dorf. Er hatte eher braunes als schwarzes Haar, außerdem war es gelockt. In der Kindheit nannte man ihn deshalb „Curly“. Im Gegensatz zu seinen Stammesbrüdern, die sich einfach in die Schlacht stürzten, verfolgte er im Kampf gegen die Weißen eine strategische Kriegsführung. Nach seiner Gefangennahme wurde er von einem Soldaten mit dem Bajonett hinterrücks niedergestochen.

Obwohl ich Dante, Montaigne, Lichtenberg, Stendhal, Tolstoi, Defoe und Melville mit Begeisterung gelesen habe, hat mich die Literatur des 20. Jahrhunderts immer mehr fasziniert als jene der vergangenen Jahrhunderte. Während ich diese Zeilen schreibe, merke ich, wie viele Lücken ich habe. Mit jedem Jahr, das ich älter werde, werden sie grösser.
Wenn ich mir die Bücher in Erinnerung rufe, die für mich am wichtigsten sind, mit denen ich gelebt und die mich aus einem unerklärlichen Grund nie mehr losgelassen haben, sind es Bücher, in denen der Autor radikal Ich sagt, oder solche, die vom Reisen und Unterwegssein erzählen, deren Helden Vagabundenseelen haben. Es ist die Poesie der Straße mit ihrem Fluss und Farbenreichtum, die es mir angetan hat. Wendekreis des Krebses, Geschwister Tanner, Unter dem Vulkan, Geschichten aus Odessa, Der kleine Freund, Das Buch der Unruhe, On the Road, Der Himmel über der Wüste, Die verlorenen Spuren, Die Erfahrung der Welt, Der blaue Weg.

Nach der Lehre als Buchhändler las ich Arthur Rimbaud, Antonin Artaud, Jean Genet, Lautréamont, die Beat-Dichter. Sie waren Rebellen, Bohemiens, Poètes Maudits, die mit ihrer Dichtung die Sprache umpflügten und unsere Vorstellung von der Welt auf den Kopf stellten. Poesie als Revolte gegen eingefahrene Denkgewohnheiten, gegen die Behäbigkeit und Sattheit des Lebens. Sie waren auf der Suche nach einem ursprünglichen, nackten Sein; keine Kultur, sondern die trunkene Flut der Worte, eine am Wahnsinn entlang schlitternde Poesie, in der die normale soziale Ordnung als lebensfeindliches Zeichen wahrgenommen wird. Man muss an die Wurzeln der Worte gehen, um eine Gefühl für die Dichtung zu erhalten.

Ich schrieb Rainer, einem Freund, der damals in Berlin Bildhauerei studierte, ich hätte die Proust-Biographie von Painter zu lesen begonnen. Rainer antwortete in dem barschen Ton, der ihm eigen war. Er verstünde nicht, warum ich mich zuerst mit Sekundärliteratur beschäftigen müsse und nicht direkt auf ein Werk zuginge. Seiner Meinung nach sei das eine typische Buchhändlerkrankheit; man brauche Krücken, fremde Hilfen, jemand, der einem sagt, was in einem Buch stünde und wie man es zu lesen habe, anstatt auf die eigene Geisteskraft zu vertrauen.
Beschämt legte ich den Painter weg und nahm Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zur Hand. Es war eine Verzauberung, vom ersten Satz an. Ich wurde richtiggehend hinabgezogen in diesen gewaltigen Strom der Zeit und des Vergessens. Oft musste ich eine Seite mehrmals lesen, um sie zu verstehen. Aber das störte mich nicht. Es ist eines jener Werke, das man immer wieder hervornimmt, um festen Boden unter die Füße zu kriegen. Im vergangenen Jahr, während der Pandemie, habe ich die ganzen fünftausend Seiten erneut gelesen. Und der Rausch war wieder da.

Schaut wie ich sitze
wie ein an Land gezogener Kahn
Hier bin ich glücklich.

Das ist die bildgewaltige Stimme des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer. Er darf nicht vergessen gehen. Er war weder Rebell noch  Bohemien. Seine Gedichte habe ich ebenfalls in meiner Lehrzeit entdeckt. Des rostigen Schleppdampfers wegen, den er im Gedicht Skizze im Oktober beschreibt, wollte ich unbedingt nach Schweden reisen. Großartige Dichtung und das Glück schließen sich bei ihm nicht aus.