Nach vielen Jahren lese ich wieder einmal Das Totenschiff, eines der ersten Bücher, das ich in meiner Buchhändlerlehre gekauft hatte. B. Travens erster in Buchform veröffentlichter Roman, 1926 erschienen. Darin ist ein neuer, damals unerhörter Ton zu vernehmen. Der Ton eines Rebellen, der sich längstens keine Illusionen mehr macht: rau, ruppig, träfe, von beißender Ironie und schroffer Sozialkritik, in einem von Amerikanismen durchsetzten Deutsch. Carl von Ossietzky, Bertold Brecht und Kurt Tucholsky waren begeistert.
Trotz den trostlosen Zuständen, die das Buch schildert, strömt es Vitalität und Überlebenswillen aus, einen Humor, den nur jene kennen, die nichts zu verlieren haben.
Die Helden in Travens Büchern sind Vogelfreie, Habenichtse, Chancenlose, Menschen ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, die unter jämmerlichen Bedingungen ihr Leben bestreiten müssen. Sie foutieren sich um bürgerliche Konventionen und bewahren sich so ihre Freiheit.
Gerald Gale, der Ich-Erzähler, ein Matrose, verliert seine Seemannskarte, das einzige amtliche Dokument, das er besitzt. Kein Pass, kein Geburtsschein, nur diese elende Karte, und sie ist weg. Er wird zu einer Person, die es eigentlich nicht gibt. Wer nicht beglaubigen kann, wann und wo er geboren worden ist, hat keine Existenzberechtigung, der mag erzählen, was er will, wer soll ihm glauben. Ohne diese Karte hat er keine Chance, jemals wieder auf ein ordentliches Schiff wie die S.S. Tuscaloosa anzuheuern, die mit einer Ladung Baumwolle von New Orleans nach Antwerpen gekommen ist und ohne ihn wieder ausläuft, weil er zu lange bei einer jungen Dame liegen bleibt, samt seinen Sachen und seiner Seemannskarte an Bord. Kein Konsulat ist gewillt, ihm ein neues Dokument ausstellen.
Er stromert durch Europa, gammelt in den Hafenstädten Antwerpen, Marseille und Barcelona herum, wird von der Polizei gefasst und über die Grenze in ein anderes Land abgeschoben. Manchmal reicht es für Kost und Logis hinter schwedischen Gardinen.
In Portugal gerät Gerald Gale auf einen Kahn, vor dem ihn schon das Äußere hätte warnen sollen. Dass die Yorrick noch schwimmt ist mehr dem Zufall als der Wartung geschuldet. Gewartet wird auf dieser Dreckskanne nicht einmal mehr das Allernötigste. Alles ist abgenutzt, verschlissen, eine ständige Bedrohung für die Mannschaft; ein grober, unflätiger Haufen in zerlumpter Kleidung und mit rüdem Mundwerk, Deklassierte, ohne Chance, jemals wieder hochzukommen, ihre einzige Zukunft es ist, irgendwann in den Meeresfluten zu verschwinden. Sie werden wie der Dreck behandelt, leben im Dreck und der Fraß ist auch nicht viel mehr als Dreck. Auf Totenschiffe werden hohe Versicherungssummen abgeschlossen, sie führen meist geblendete Ware mit sich. Irgendwann laufen sie auf Grund und die Reederei streicht ein hübsches Sümmchen ein. Die Leute darauf sind Staatenlose wie unser Matrose Gale, ohne ordentliche Dokumente und gerade noch gut genug, um auf einem solchen Kahn zu arbeiten. Gale, obwohl Anstreicher, wird zum Kohlenschippen verknurrt. Die Zustände im Heizungsraum sind katastrophal. Es herrscht eine solche Hitze, dass sie sich eine Decke holen müssten, würden sie in die Hölle kommen. Stanislaus, mit dem Gale sich anfreundet, zeigt ihm Tricks und Kniffs, um den elenden Drecksjob ohne allzu üble Verletzungen und Verbrennungen zu verrichten.
Gale hätte in verschiedenen Häfen die Möglichkeit, abzuhauen, aber er tut es nicht. Und warum nicht? Weil er auf die Heuer nicht verzichten will. In jedem Hafen, den sie ansteuern, wird ihnen gerade so viel ausbezahlt, dass sie sich ordentlich besaufen können, aber nie das ganze Geld.
B. Traven war ein Geheimniskrämer, was ihn persönlich anbelangt. Sogar den Vornamen hat er seinen Lesern verschwiegen. Man weiß wenig über sein Leben, als Autor blieb er im Verborgenen, ein Phantom. Briefe und Honorare des Verlags gingen an ein Postfach in Mexiko City. Was mochte der Grund für diese Heimlichtuerei sein? Scheu vor der Öffentlichkeit? Koketterie? Ein schreckliches Geheimnis? Oder wollte er einfach in Ruhe gelassen werden, wie er es in seinen Briefen andeutete?
War er ein Deutscher, denn seine Bücher, auf Deutsch geschrieben, erschienen zuerst in der Büchergilde Gutenberg Leipzig, oder war er Amerikaner, in Chicago geboren, wie er immer behauptet hat. Er war 1924 in Mexiko an Land gegangen, so viel scheint festzustehen, und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1969 in Mexiko City. Nicht einmal seine Frau kannte seine Lebensgeschichte in allen Einzelheiten. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erreichten Millionenauflagen. Das gab zu wilden Spekulationen Anlass. Kein Wunder, dass zahlreiche Spürhunde hinter ihm her waren und versuchten, sich in seinen Waden festzubeißen: Detektive, Literaturwissenschaftler, Journalisten. Als 1947 der Film Der Schatz der Sierra Madre von John Huston mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle ein Welterfolg wurde, bot die Zeitschrift LIFE eine Belohnung von 500 Dollars für jenen, der das Rätsel B. Traven lösen würde.
Einige glaubten, es gelöst zu haben. Trotz vielen plausiblen Erklärungen wird man das Gefühl nicht los, gelüftet wurde das Geheimnis nie ganz.
Es gab da einen Hal Croves, der in Mexiko City lebte und von sich behauptete, B. Travens Agent zu sein. Als Hal Croves am 26. März 1969 stirbt, mit wohl siebenundachtzig Jahren, enthüllt seine Witwe, dass er tatsächlich B. Traven gewesen sei – und zugleich identisch mit Ret Marut, dem Revolutionär, dem es 1919 nach dem Ende der Münchner Räterepublik gelungen war, sich vor dem Erschießungskommando zu retten.
Der alte verstaubte Laden, in dem ich meine Lehre machte, war selber ein Totenschiff. Es gab kaum Kunden. Ab und zu erschien eine verschrumpelte Nonne oder ein Priester mit weißem Stehkragen und schlechtem Atem. Einzig der Versand lief ein wenig: Breviere, Kirchengesangsbücher, Solschenizyn. Der Bücherdandy hatte zwischen all den vergessenen Büchern keine Chance.
Neben einem Buchhandelsvertreter, der oft abwesend war, und einem Mann hinter der Fakturierungsmaschine, arbeitete noch eine Buchhändlerin da. Sie war behindert, hatte einen Buckel, das Gehen machte ihr Mühe. Als sie sah, was ich mir für ein Buch angeschafft hatte, schüttelte sie den Kopf. Wie konnte ein junger Mensch bloß so hoffnungslose Bücher lesen. Man muss doch positiv denken, sich auf das Leben einlassen, die Dinge erst einmal hinnehmen wie sie sind. Zu viel Kritisches in jungen Jahren schade der Entwicklung eines Menschen. Ich mochte sie gerne und wollte mich nicht mit ihr streiten.