Eines Nachmittags saß ich im Sihlfeldfriedhof auf einer Bank und las etwas von Friedrich Glauser, diesem liebenswürdigen Schlawiner, der, kaum zwanzigjährig, in Zürich in die Dada-Szene und an die Drogen geriet. Die Kurve in ein bürgerliches Dasein hat er nie geschafft. Er bewegte sich auf brüchigem Eis durchs Leben: Vormundschaft, Einsitzen in Gefängnissen und Irrenanstalten wegen Drogenkonsum, Rezeptfälschungen, Diebstahl und Einbrüchen, Fremdenlegion, billige Jobs als Küchengehilfe, Gruben- und Gartenarbeiter. Glauser war ein Verschwender und Lebensverströmer, der einen luftigen, federleichten, dem Ernst des Lebens abträglichen Erzählstil pflegte und dabei einen scharfen Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Zustände von damals hatte. Sanfte Ironie, schalkhafter Witz und spitzbubenhafte Komik verbinden sich mit einer unglaublich poetischen Präzision. Seine Anmut und befreiende Leichtigkeit erinnert an die Beatles.
Auf dem Heimweg sah ich an der Ecke Goldbrunnen- Berta-Straße zwei junge Frauen in Campingstühlen auf dem Trottoir sitzen. Sie hörten sich Here Comes the Sun auf einem Ghettoblaster an, diesem sanften George-Harrison-Song vom Album Abbey Road. Eine von ihnen war eine Dunkelhäutige. Aber warum erwähne ich das überhaupt? Ich hätte gerne eine Bemerkung gemacht, nicht wegen der Hautfarbe, sondern dass zwei so junge Frauen Beatles hören. Ich war gerührt und wäre am liebsten durch die Straßen getanzt. Der Song weckte ferne, längst verschwundene Bilder und Gefühle in mir. Seltsam wie lebendig und kraftvoll ihre Musik geblieben ist, anderes aus jener Zeit klingt platt und dümmlich. Peter Handke hat von frechen Engelszungen und einer Anmut geschrieben, die so rasch nicht wieder auf diese Welt kommen wird. Aber vielleicht trifft das die Sache nicht ganz. Mir fiel wieder ein, was ich im Friedhof gelesen hatte: „Das einzig Bleibende, das wir aus unserer Jugend bewahren, sind Bilder, und diese schlummern in uns. Manchmal nur weckt sie ein Geruch, ein Lied, ein Geschmack. Aber dann sehen wir sie plötzlich mit einer fast blendenden Deutlichkeit, unübertrefflich klar und scharf sind sie, und erst durch sie , durch diese Bilder, werden die Gefühle wieder lebendig, die damals uns ergriffen hatten.“
Im Radio hörte ich das erste Mal die Beatles. Das war bei den Großeltern auf dem Lande. Es gab Plattenspieler und Schallplatten, aber nicht in unserem Haushalt. Die Musik traf mich mit einer Wucht, die mich fast um den Verstand brachte, zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, von etwas wirklich Lebendigem durchströmt zu werden. Ich konnte kaum glauben, dass es so was gab. Eine unbeschreibliche Energie und Frische! Vorher war alles dumpf und ereignislos. Für die Erwachsenen war es idiotischer Lärm, von Musik könne keine Rede sein.
In der Folge wollte ich nur noch diese Musik hören. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit kam ich auf die Beatles zu sprechen. Alles andere interessierte mich nicht mehr. Der ganze Mief der Alten war wie fortgeblasen. Ihre eckigen Vorstellungen, was richtig und was falsch ist, und ihre Tiraden über Fleiß, Betragen und Gehorsamkeit fand ich bloß noch lächerlich. Jetzt brauchte ich mich vor ihnen nicht mehr zu fürchten. Auf diesem Terrain konnten sie nicht mithalten.
Als ich Fotos von den Beatles sah, wollte auch ich mir unbedingt die Haare wachsen lassen. Der Vater zerstörte diesen Traum mit einer regelmäßig wiederkehrenden Unerbittlichkeit. Er scherte uns Buben die Haare selber. Für den Coiffeur sei kein Geld da, hieß es. Wir mussten uns auf einen Hocker setzen, ich als Ältester zuerst, dann wurde uns das Friseurmäntelchen der Mutter umgebunden. Der Vater hantierte mit Schere und einem mechanischen Haarschneideapparat, der mehr rupfte als schnitt. Seine Arbeit fiel gründlich aus. Nacken und Schläfen waren kahl geputzt, darüber ein topfähnliches, leicht abstehendes Toupet. Jeder Sträfling lief mit einer besseren Frisur herum. Für mich war es jedes Mal eine Katastrophe. Ich tobte und weinte wie ein Gestörter, mir war ganz elend zumute. Der Vater wurde wütend, und teilte Schläge aus. Ich dachte daran, von zu Hause wegzulaufen.
Eines Tages setzte die Mutter diesem Drama ein Ende. Sie entschied, ich solle fortan zum Coiffeur gehen. Jedes Mal, wenn ich vom Coiffeur kam, examinierte der Vater das Ergebnis und beschied, dass er nachbessern müsse.
An einem Samstagnachmittag gab es im Gasthaus Ochsen oben im Dorf eine Rockveranstaltung. Ich war zu jung. Zutritt erst ab sechzehn Jahren. Der Eintritt kostete auch was. Also lümmelte ich vor dem Gasthof auf der Treppe herum. Ab und zu erschienen einige der Konzertbesucher auf der Treppe. Phantastische Gestalten in Jeans, geblümten Hemden, bunten Westen und langem Haar. Dazu umwerfende Mädchen, unglaublich schön, in Mini-Röcken oder engen Jeans, die ihre Figur betonten. Ich war hingerissen. Das war meine Welt. Bloß ich hatte keinen Zutritt.
In der Schule waren die Fab Fours nie ein Thema gewesen, sie waren im Lehrplan nicht enthalten. Im Jahr, als sie sich trennten, kam ich aus der Schule. Ich konnte ein wenig lesen, schreiben und rechnen. Ich war für Schulstoff ungeeignet. Die Natur hat mich dafür nicht ausgerüstet. Sobald ich irgendwelchen Stoff büffeln muss, versage ich. Ich kann noch so lange über Lehrbüchern brüten, wenn ich sie am anderen Tag wieder aufschlage, kommt es mir so vor, als ob es das erste Mal wäre.
Die Trennung der Beatles war für viele ein Schock. Ich habe es irgendwie verstanden. Sie waren zu einem Mythos geworden, an den bestimmte Erwartungen geknüpft wurden. Sie wollten etwas Anderes als eingesperrt sein in dem Gefäß namens The Beatles. Traurig fand ich, dass sie sich so heillos zerstritten hatten.
Damals war ich jung, bescheiden, anspruchslos. Schade, dass ich nicht das Zeug zum Hochstapler hatte. Mit Bescheidenheit lässt sich einfach keine Welt erobern. Im besten Fall kassiert man ein paar harsche Reaktionen.