Vier Uhr morgens. Es ist dunkel und still.
Ich liege auf der weinroten Recamière im Wohnzimmer und begleite Nina Sergejewna (eine Übersetzerin) auf ihren Spaziergängen durch den tief verschneiten Wald, den es in der Nähe des Sanatoriums für sowjetische Künstler gibt, wo sie ihren Urlaub verbringt. Das Sanatorium liegt etliche Bahnstunden von Moskau entfernt in einer abgelegenen, ländlichen Gegend. Februar 1949.
Sie hat ein Zimmer für sich allein, angenehm groß und geheizt. Sie muss nicht – wie in der Gemeinschaftswohnung in Moskau – dreimal am Tag den Schreibtisch in einen Esstisch verwandeln. Keine keifenden Weiber reißen sie aus der Konzentration. Im Gegensatz zum Leben in Moskau, wo ein chronischer Mangel am Notwendigen herrscht, fehlt es im Sanatorium an nichts. Sie kann sich ganz auf die eigenen Gedanken konzentrieren, das Buch schreiben, das man gerade liest.
Als Leser freut man sich, wenn Nina Sergejewna unbemerkt aus dem Haus schlüpfen und in die glitzernde Reinheit der verschneiten Landschaft untertauchen kann. Sie versucht den anderen Gästen aus dem Weg zu gehen, nur allein kann sie die Stille des verschneiten Waldes genießen. Sie geht den Pfad immer tiefer und tiefer in den Wald hinein, trunken vom glitzernden Schnee, den weißen Dreiecken der Tannen, den grauweißen schlanken Birkenstämmen, die weiter oben rosa schimmern. Sie empfindet eine nagende Trauer in diesen Augenblicken des Glücks.
Zuweilen sagt sie sich laut Gedichte auf. Einmal wird sie dabei von Sablin, einem jungen Journalisten und Karrieristen und dessen Frau überrascht. Als sie ihnen sagt, sie habe Gedichte von Pasternak rezitiert, meint die Frau, der sei doch total unverständlich, sie und ihr Mann hätten kürzlich Pasternaks Gedichte gelesen und sich halbtot gelacht über das wirre Zeug.
„Was für ein desillusionierender Faktor doch eine Ehefrau ist“, denkt Nina Sergejewna. Sie mag sich nicht auf ein Streitgespräch einlassen.
Die Poesie hilft ihr, über das Verschwinden von Aljoscha, ihrem Mann, hinwegzukommen, einem Mediziner und Wissenschaftler, der 1937 eines Nachts vom Geheimdienst abgeholt worden war. Sie hörte nie wieder etwas von ihm. „Zehn Jahre mit Briefverbot“, hieß es auf den Ämtern, als sie sich dort nach ihm erkundigte. Sie träumt oft von seinem Tod und wacht dann weinend auf.
Sie sitzt mit Sablin und Bilibin, einem alternden Schriftsteller, am gleichen Esstisch. Sie freundet sich mit Bilibin an. Auf einem der gemeinsamen Spaziergänge durch den verschneiten Wald erzählt er ihr, dass er fünf Jahre in einem Gefangenenlager interniert war. Sie hofft von ihm etwas über ihren verschollenen Mann zu erfahren. Bibilin erklärt ihr, dass „zehn Jahre mit Briefverbot“ ein Euphemismus für sofortige Erschießung sei. Nina denkt an all die Gänge auf die Ämter, das endlose Warten in endlosen Menschenschlangen, in Kälte und Dunkelheit, die immer gleiche unwirsche Antwort, die Untersuchung ihres Mannes sei noch nicht abgeschlossen.
Immer wieder dringt die brutale Wirklichkeit des sowjetischen Alltags in das Scheinleben des Sanatoriums ein. Das ideologische Gedöns aus Zeitung und Radio. Es wird von einer Judenverschwörung berichtet, Juden und Kosmopoliten sollen schuld sein an den Missständen der Nachkriegsjahre. Eines Nachts wird der jiddische Dichter Weksler abgeholt. Es geschieht fast lautlos. Er hat Nina Sergejewna gerne seine Gedichte vorgelesen, sie hat ein tiefes Gefühl dafür gezeigt. Alle im Sanatorium haben sein Verschwinden mitbekommen, aber man spricht nicht darüber.
Eines Tages sitzt ein neuer Gast an ihrem Tisch. Klokow, Leiter der literaturkritischen Abteilung einer Moskauer Zeitschrift, modische Lackschuhe und mit Fliege, goldenes Zigarettenetui, Manschettenknöpfe mit dicken Steinen.
„Ein gelackter Plebejer“, denkt Nina Seregejewna. Er ist ihr sofort unsympathisch, die Liebeswürdigkeit, mit der er sie begrüßt und zugleich die Serviererin Lisa anfährt, weil die Suppe nicht heiß genug sei, dabei um die Bügelfalten besorgt, als er die Hosenbeine hochzieht. Er erklärt, er sei durch die Presse über die volksfeindlichen Umtriebe und das antipatriotische Wesen der Kosmopoliten aufgeklärt worden, die ihre Verbindungen nach Amerika und ihre Wurzeln im Zionismus hätten.
Worauf Nina Sergejewna antwortet: Wenn sie die Zeitung läse, fügen sich „die Buchstaben zu Worten, die Worte zu Zeilen, die Zeilen zu Absätzen, die Absätze zu Spalten, aber das alles ergäbe keine Gedanken, kein Gefühl, kein Bild“.
Bilibin warnt sie. Bei allem, was man sagt, sei höchste Vorsicht geboten. Vor allem bei Typen wie Klokow. Jeder kann der Denunziant des anderen sein. Ein kleiner Bericht an eine bestimmte Stelle und Sablin und er müssten als Zeugen gegen sie herhalten. Die Menschen sind stumpfsinnig und misstrauisch vor Angst, sie verleumden einander.
Bilibin gibt ihr sein Manuskript zu lesen, das er im Sanatorium abgeschlossen hat. Zuerst freut sie sich. Sie erkennt vieles wieder. Er hat ihr auf den gemeinsamen Spaziergängen oft von der Zeit im Strafgefangenenlager erzählt, von der elenden Arbeit im Bergwerk, den Essenskürzungen, wenn sie das vorgeschriebene Soll nicht erreichten, von Hunger, Kälte, Widerwärtigkeiten, Tod.
Im Roman verschweigt er die brutale Wirklichkeit des Lagers. Er hat daraus eine Hymne auf eine Bergwerkkolchose im Stil des sozialistischen Realismus gezimmert: Sozialistischer Wettbewerb zwischen Bergarbeiterbrigaden, unglaublicher Aufschwung der Produktions- und Arbeitswelt aufgrund des großen vaterländischen Sieges über den deutschen Faschismus, technische Automatisierung des Kohleabbaus dank initiativen Frauen.
Nina Sergejewna ist empört. Und enttäuscht. Bilibin ist ein Opportunist. Ein Feigling. Ein falscher Zeuge. Es fehle ihm an Ehrfurcht vor den Menschen, die im Lager umgekommen seien, wirft sie ihm vor. Wenn er nicht den Mut zur Wahrheit habe, solle er wenigstens schweigen.
Am Ende ihres Aufenthaltes setzt das Tauwetter ein. Der Wald sieht fleckig und schmuddelig aus, er biete Nina Seregejewna keinen Trost mehr. Sie ist sich nicht mehr sicher, ob sie das Recht gehabt hat, Bilibin derart abzukanzeln. Sie selber schweigt ja auch.
Es ist hell geworden, als ich das Buch schließe.
Ich habe Untertauchen von Lydia Tschukowskaja (1907 – 1996) vor mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal gelesen. 1937 war ihr Mann, der Physiker Matwej Bronstein, verhaftet worden. Es war die Zeit des größten Terrors. Wie Nina Sergejewna hatte sie tagelang vor irgendwelchen Ämtern Schlange gestanden. Die einzige Auskunft war: „Zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“. 1957 wurde Matwej Bronstein rehabilitiert, Lydia Tschukowskaja erfuhr nie, wann, wo und warum ihr Mann umgebracht worden war.
Im Winter 1939/40 schrieb sie die Erzählung Sofja Petrowna. Eine einfache Frau glaubt an die Gerechtigkeit des Systems, das Millionen Menschen umgebracht hat, darunter ihren eigenen Sohn. Sie steht unzählige Stunden vor Ämtern an, um etwas über sein Schicksal zu erfahren. Hätte man die Manuskripte der beiden Erzählungen gefunden, wäre es der sichere Tod der Autorin gewesen. Sie durften in der Sowjetunion nicht erscheinen, Sofja Petrowna erschien 1965 bei der Librairie des Cinq Continents in Paris, Untertauchen 1972 unter dem Titel Going Under in London. Lydia Tschukowskaja musste vierzig Jahre lang warten bis das Buch 1988 in der Sowjetunion erscheinen konnte.
In Protestbriefen verteidigte sie Solschenizyn, Sacharow und andere Oppositionelle. Als Scholochow in seiner Rede auf dem XXIII. Parteitag bedauerte, dass die Oppositionellen Daniel und Sinjawaski nicht „einfach erschossen“ worden seien, schrieb sie einen offenen Brief, in dem sie Scholochow einen „Verräter an der gesamten russischen Literatur“ nannte. 1974 schloss man sie aus dem sowjetischen Schriftstellerverband aus. Es war eine Verurteilung zur Nichtexistenz in der Literatur. Damit waren ihr weitere Publikationsmöglichkeiten entzogen, ihre früheren Bücher wurden nicht wieder aufgelegt, ihr Name aus allen Lexiken getilgt.