Lebensverströmer

Eines Nachmittags saß ich im Sihlfeldfriedhof auf einer Bank und las etwas von Friedrich Glauser, diesem liebenswürdigen Schlawiner, der,  kaum zwanzigjährig, in Zürich in die Dada-Szene und an die Drogen geriet. Die Kurve in ein bürgerliches Dasein hat er nie geschafft. Er bewegte sich auf brüchigem Eis durchs Leben: Vormundschaft, Einsitzen in Gefängnissen und Irrenanstalten wegen Drogenkonsum, Rezeptfälschungen, Diebstahl und Einbrüchen, Fremdenlegion, billige Jobs als Küchengehilfe, Gruben- und Gartenarbeiter. Glauser war ein Verschwender und Lebensverströmer, der einen luftigen, federleichten, dem Ernst des Lebens abträglichen Erzählstil pflegte und dabei einen scharfen Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Zustände von damals hatte. Sanfte Ironie, schalkhafter Witz und spitzbubenhafte Komik verbinden sich mit einer unglaublich poetischen Präzision. Seine Anmut und befreiende Leichtigkeit erinnert an die Beatles. Weiterlesen

Die Widerspenstige

Vier Uhr morgens. Es ist dunkel und still.
Ich liege auf der weinroten Recamière im Wohnzimmer und begleite Nina Sergejewna (eine Übersetzerin) auf ihren Spaziergängen durch den tief verschneiten Wald, den es in der Nähe des Sanatoriums für sowjetische Künstler gibt, wo sie ihren Urlaub verbringt. Das Sanatorium liegt etliche Bahnstunden von Moskau entfernt in einer abgelegenen, ländlichen Gegend. Februar 1949.
Sie hat ein Zimmer für sich allein, angenehm groß und geheizt. Sie muss nicht – wie in der Gemeinschaftswohnung in Moskau – dreimal am Tag den Schreibtisch in einen Esstisch verwandeln. Keine keifenden Weiber reißen sie aus der Konzentration. Im Gegensatz zum Leben in Moskau, wo ein chronischer Mangel am Notwendigen herrscht, fehlt es im Sanatorium an nichts. Sie kann sich ganz auf die eigenen Gedanken konzentrieren, das Buch schreiben, das man gerade liest. Weiterlesen