Gibt es etwas Phantasieloseres, als Monets Garten und Haus in Giverny zu besuchen, Magnet ganzer Touristenhorden? Und dann die Seerosen, mein Gott, wer kann sie noch sehen? Monet ist doch passé, was die Kunst angeht. Der Impressionismus perfekt, um an den Auktionen Höchstpreise zu erzielen. Trotzdem sind wir hingegangen. Trotzdem hat es sich gelohnt. Trotzdem war es ein Erlebnis.
Giverny ist eine ländliche Idylle. Das langegezogene Dorf, das fast ausschließlich aus Restaurants, Boutiquen, Galerien, Cafés und Eisdielen besteht, liegt über der Flussniederung der Seine, die hier eine scharfe Biegung nach Norden macht. Zwischen elf Uhr vormittags und vier Uhr nachmittags steht vor dem Monet-Haus eine endlose Menschenschlange an. Sie trampeln durch Haus und Garten, die einst dem Meister der hellen Farben und des Lichts gehörten. Würden sie mit ihren Smartphones nicht eifrig herumknipsen, sie wüssten am Abend nicht einmal mehr, was sie tagsüber gesehen haben.
Wir sind am Morgen beizeiten hingegangen. Es war noch still. Die Blumen glitzerten vom Tau, der in der Nacht gefallen war.
Claude Monet wohnte mit seiner großen Patchwork-Familie (zwei Kinder von Camille, seiner ersten Frau und sechs, die Alice, seine zweite Frau in die Ehe gebracht hatte) von 1883 bis zu seinem Tod 1926 hier. Er legte den Garten eigens für seine Kunst an und ließ ein Nebenflüsschen der Epte umleiten, um den Seerosen-Teich mit Wasser zu speisen. Der Garten war lange brach gelegen, der Teich versumpft. Erst in den Siebzigerjahren wurden sie wieder in ihre ursprüngliche Gestalt gesetzt und ein Museum daraus gemacht.
Das Landhaus ist ein langes zweistöckiges Gebäude, rosafarbige Fassade, grüne Fensterläden. Monet hatte die Räume selber gestrichen, sie strahlen eine luftig-leichte Atmosphäre aus, hervorgerufen durch den Kontrast zwischen den hellen Wänden und Decken und dem Terrakotta-Rot der Böden. Blau-weiße Fayence-Kacheln aus Rouen prägen die Atmosphäre der Küche. Das gelbe Esszimmer sieht wie von der Sonne vergoldet aus. Im Blauen Salon harmonieren die japanischen Farbholzdrucke wunderbar mit dem eleganten Blau der Wände und Decke, auch die Comtoise-Standuhr und der Bücherschrank sind blau gestrichen.

Im Salonatelier hängen unzählige Werke von Monet selber, genauer gesagt, Replikate davon. Sie bilden eine Landkarte seines gesamten Schaffens.
Monet kommentierte seine Sammlung einem Besucher so: „Hier sind die alten Erinnerungen. Ich hänge sehr an ihnen, ich habe sie gerne um mich. Soweit es mir möglich war – und dies war nicht immer einfach! – habe ich ein Bild aus jedem meiner Lebensabschnitte behalten. … Schauen sie, die Strände der Normandie, England, Norwegen, Belle-Île, die Seine – das ist der Eisgang vor meinem Haus – Südfrankreich, Italien, mein Garten …“
Wie ein farbiger Bilderbogen zog unsere Reise durch die Normandie vor meinen Augen vorüber. Die Hafenstädte und Seebäder Cabourg, Honfleur, Trouville und Dieppe, der Küstenort Étretat mit den steil abfallenden Falaises, die gotische Kathedrale von Rouen, Orte, an denen Monet sich durch Licht, Meer und Wind zu seinen großartigen Gemälden inspirieren ließ.
Mein Blick blieb am Bild hängen, das den Felsenbogen von Étretat zeigt. Im Hintergrund das blaue Meer, von hellen Lichtflicken gesprenkelt, die Felsspitzen leuchten in der Sonne. Gegen das ferne Ufer hin hat das Meer eine grüne Farbe, es sieht so aus, als ob es in eine weite Graslandschaft überginge, die Grenzlinie zwischen den Elementen ist nicht sichtbar. Sind die weißen Tupfer Segelschiffe oder weidende Kühe?
Auf einem anderen Gemälde leuchtet die Hauptfassade der gotischen Kathedrale von Rouen im satten Korngelb der Abendsonne. Aus dem Boden kriechen bereits die Schatten der Nacht hervor und drohen das Licht, das sich auf der Fassade auszuruhen scheint, zu verschlingen. Es sieht so aus, als ob die Kathedrale auf einem grauen Kissen schweben und nicht auf einem mächtigen Fundament stehen würde.
Eine weitere Arbeit zeigt die Strandpromenade des mondänen Badeortes Trouville mit seiner sommerlichen Atmosphäre aus Wasser und Himmel. Elegante Paare bevölkern die Promenade, die Frauen in langen, hellen Röcken und mit Sonnenschirmen, die Männer mit Hut und Jackett, das wuchtige Grand-Hotel Roches Noires im blitzenden Nachmittagslicht, der Wind, der an den Fahnen zerrt.
Zu jener Zeit war der Mensch noch beeindruckt von der Kraft der Elemente. Die Leere ein kostbares Gut. Jetzt füllen Zäune, Schaukeln, Werbeschilder, Imbissbuden, Surfbrettstände die windige Weite des Strandes. Dinge, mit denen der Mensch meint, sich beschäftigen zu müssen, weil er mit sich selbst nichts anzufangen weiß. Die eleganten Menschen von damals mussten jenen in Shorts, Flip-Flops und Baseballmützen Platz machen.
Die Heuschober, die auf einem Bild zu sehen sind, sind längstens von den normannischen Wiesen verschwunden, an ihrer Stelle liegen nun in schwarzem Plastik eingeschweißte Heuballen herum.
Inmitten der Landschaftsbilder und Seestücke ist Camille –die 1879 zweiunddreißigjährig an Krebs gestorben war – auf ihrem Totenbett zu sehen, das Gesicht eingerahmt von einem eisigen Brautschleier.

Claude Monet war ein Meister des Sehens.
Sich in Farben ausdrücken, das war sein eigentliches Anliegen. Ausdrücken, was er sah. Wirklich sah! Nicht nur eine Brücke, ein Haus, ein Boot, auch das Atmosphärische der Luft, das Zusammenwirken von Helligkeit und Schatten, von Farb- und Lichtreflexen, der flüchtige, vergängliche Zauber eines Augenblickes. Auf seinen Gemälden werden Sinnesempfindungen fühlbar. Beim Bild Sonnenuntergang über der Seine im Winter ist die winterliche Kälte deutlich spürbar.
Da sich die Natur fortwährend ändert, war es für Monet eine schier unmögliche Aufgabe, das zu malen, was er tatsächlich sah. Es blieb ihm oft nichts anderes übrig, als immer wieder von neuem zu beginnen. Manchmal arbeitete er an sechs, sieben Gemälden nebeneinander, immer das gleiche Sujet, aber jedes hält eine andere Tages- und Jahreszeit und andere Wetterverhältnisse fest. So sind seine Serienbilder entstanden, deren Höhepunkt die Nymphéas sind, die Seerosen-Gemälde, die er in seinen letzten Lebensjahren schuf.
In diesem Augenblick beneidete ich Monet um seine Sehkraft. Cézannes Bemerkung fällt einem ein: „Monet: Ein Auge … aber, bon Dieu, was für eines!“
Je länger ich die Kopien betrachtete, umso klarer wurde mir, dass das Auge dieses Genies wenig mit unserem zu tun hat. Monets Auge war von einer lebendigen Intensität. Er verstand es, die wirklichen Eindrücke eines Momentes festzuhalten. Gewohnheit und Vorstellung legen unseren Blick für das Wirkliche lahm. Wir bleiben verhaftet an einer alltäglichen, uns bekannten Betrachtungsweise, sehen die Dinge nicht als solche, sondern so wie wir es gewohnt sind, sehen das, was wir über sie zu wissen meinen. Ich öffne am Morgen die Vorhänge des Hotelzimmers, schaue zum Fenster hinaus, sehe auf dem Vorplatz die roten Steinfliesen feucht glänzen und sofort ergänzt mein Verstand, „aha, in der Nacht hat es geregnet“. Wir merken es nicht einmal, so eilig haben wir es, aus allem, was wir sehen, Schlüsse zu ziehen. Indem wir das Gesehene interpretieren, einordnen und mit Begriffen belegen, verhindern wir ein unmittelbares, direktes Sehen.

Claude Monet, die Impressionisten überhaupt, hatten nicht nur eine neue Art des Sehens entdeckt, sondern auch Maltechniken entwickelt, mit denen sie die Flüchtigkeit des Augenblicks festhielten. Sie hatten einen unübertrefflichen Sinn für Farbtöne und die Wirkung des Lichtes. Im Gegensatz zu den traditionellen Malern arbeiteten sie draußen im Freien, en plein air. Sie setzten die Farben mit schnellen präzisen Strichen direkt auf die Leinwand, mehr das Ganze als die Details im Auge. Für die Verteidiger der akademischen Malerei war es nichts als Pfusch und Schmiererei.
Die Impressionisten brauchten lange, bis sie sich gegen die Phalanx der Etablierten durchsetzen konnten. Man hielt sie für eine Bande rebellischer Bohemiens, die mit ihren schludrig gemalten Bildern eine Revolution in der Kunst anzetteln wollten und verweigerte ihnen die Salon-Ausstellungen, den Louvre und andere Museen. Tatsächlich stellt der Impressionismus einen Bruch mit der Tradition der europäischen Malerei dar.
Ihre erste Gruppenausstellung, die sie im Frühling 1874 im ehemaligen Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines in Paris organisierten, war ein Skandal, sie erntete bei der Kritik vornehmlich Hohn und Spott. Aufgrund eines Bildes von Monet, das eine neblige Hafenansicht von Le Havre zeigt, Impression, soleil levant sein Titel, nannte ein Kritiker die Maler naserümpfend „Impressionisten“, sie fanden die Bezeichnung treffend, dass sie sich fortan so nannten.
In ersten Stock des Landhauses sind die Schlafzimmer untergebracht. Im Schlaf- und Waschraum von Monet hängen Werke (ebenfalls Reproduktionen) von Künstlern, die er schätzte, von Weggefährten und Freunden im großen Abenteuer des Impressionismus. Monet war ein sorgsamer Sammler. Es ist die Galerie seines Lebens. Eugène Boudin, Johan Bartold Jongkind, Gustave Caillebotte, Auguste Renoir, Paul Cézanne, Paul Signac, Eugène Delacroix.
Meine Neugier galt in erster Linie den japanischen Farbholzschnitten. Sie waren der eigentliche Beweggrund für unseren Besuch gewesen.
Monet hatte sie auf einer Reise nach Holland bei einem Kunsthändler in Zaandam entdeckt. In Japan wurden die Drucke kaum beachtet, man benützte sie als Einwickelpapier. So waren sie nach Europa in die Kolonialwarenläden gekommen. Monet besaß eine ganze Kiste voll davon. Die ungewohnte Farbgebung und Bildkomposition der Holzschnitte hatte die Impressionisten fast um den Verstand gebracht. Die Drucke stellen meist Szenen aus dem Alltagsleben oder Naturansichten dar, sie zeugen von ungewöhnlicher Frische, Beobachtungsgabe und einer hohen technischen Gestaltungskraft.
Auf Japanisch heißen sie Ukiyo-e, Bilder der fließenden oder flüchtigen Welt. Die Flüchtigkeit und Unsicherheit des Augenblicks, die sie ausdrücken, wurden bei Monet zu einem Bildprinzip.
Bei Die Welle vor der Küste von Kanagawa, einem von Hokusais berühmtesten Drucken, hat man den Eindruck, die riesige Welle im Vordergrund überspüle nicht nur die Fischerboote sondern auch den Fuji in der Ferne, der wie ein kleiner Zuckerhut aussieht. Auf dem Bild Regenschauer über der großen Brücke von Atak von Hiroshige sehen die Menschen unter ihren Schirmen wie tanzende Pilze aus. Die Schönheiten aus dem Südosten von Kiyonaga Torji erinnerten mich in ihren farbenprächtigen Kimonos und den komplizierten Frisuren mit ihren Nadelgestecken an die Geishas, die mit weiß gepuderten Gesichtern und in bunten Kimonos durch das Gion-Viertel von Kyoto trippeln.
Monets Garten wurde für mich ein Raum der Träumerei. Die Bilder im Salonatelier hatten mich auf die dichte Leuchtkraft des rhythmischen Farbwahnsinns eingestimmt. Im Schatten eines wuchtigen Baumes blieb ich lange auf einer Bank sitzen, in die Betrachtung dieser verschwenderischen, sommerlichen Pflanzenüppigkeit versunken.
Neben dem Malen war der Garten Monets zweite große Leidenschaft. Indem ich in die Farben des Gartens eintauchte, tauchte ich in seine Bilder ein. Es war mehr ein Garten von Farben und Tönen als einer von Blumen und Pflanzen, die Vision eines Farbenkünstlers, als würden nur jene Blumen blühen, die farblich aufeinander abgestimmt sind und in den mannigfachen Grünschattierungen eine Harmonie von blauen, gelben und rosa Tupfen bildeten.
Hätte man nicht die gebeugten Rücken der Gärtner aus den Blumenbeeten herausschauen sehen, wäre der Eindruck entstanden, der Garten hätte in seinem Zauber die Bilder von Monet nachgeahmt, sich den Farbtönen von seiner Palette bedient.

Unterhalb der Straße ist der Wassergarten angelegt. In diesem Reich der tief-grünen Schattenzonen und Schattenspiele, aus denen eine feuchte Kühle herausströmte, fand eine eigentliche Steigerung der Lichteffekte statt. Der Teich mit den Wasserrosen löste sich in reine Farbzustände auf, als ob er ein Abbild jener fragilen Seerosen wäre, die Monet auf seinen riesigen Leinwänden geschaffen hatte. Kaskaden von Trauerweiden, buschig aufschäumende Glyzinien, hohes Schilfgras, Klatschmohn und Bögen aus Heckenrosen spiegelten sich im Wasser, das vom Blau des Himmels grundiert war. Die sich im Wasser spiegelnde japanische Brücke bildete ein Oval im leuchtend üppigen Grün. Nie kommt man dem Empfinden des Malers so nahe wie beim Betrachten der großen Serien der Seerosenbilder.
Meine Proust-Lektüre war vor langer Zeit Anlass dafür gewesen, dass ich eines Tages nach Paris reiste, das Musée d’Orsay am Quai Voltaire und die Orangerie in den Tuileries besuchte. Ich musste die Impressionisten mit eigenen Augen sehen! Die Recherche ist eine berauschende Bilderflut. Die Malerei nimmt darin einen breiten Platz ein, besonders die impressionistische. Und wie beim Impressionismus sind es die flüchtigen, verlorenen Augenblicke, die Proust festhalten wollte.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.