Der Wind der Straße

Als ich für ein paar Monate nach Berlin fuhr, hatte ich zwei Bücher des schottischen Reisenden und Schriftstellers Kenneth White im Gepäck. Im Zug las ich Der blaue Weg. Eine Reise nach Labrador. „Vielleicht ist die Idee die, soweit wie möglich zu gehen bis ans Ende deiner Selbst – bis zu einem Territorium, wo die Zeit Raum wird, wo die Dinge in ihrer ganzen Nacktheit erscheinen und der Wind weht, anonym.“ Das waren neue, für mein Ohr ungewohnte Töne. Ich hatte plötzlich den Wunsch, weiterzureisen. Dieser ungeheuer weite Raum von Labrador, sein Atem, weckte in mir den Wunsch, weiter zu gehen, immer weiter. Ich fuhr dann doch nach Berlin.

In der Folge habe ich lange Zeit fast nur Reiseberichte gelesen, sie kamen mir wie leuchtende Spuren vor, die in alle Himmelsrichtungen führen. Ich reiste in Büchern. Das Lesen wurde zu einer Form der Wanderung. Es gibt einen ganzen Stamm rastloser Dichter, leidenschaftliche Reisende, die sich nur wohl fühlen, wenn sie auf Achse sind und den Wind der Straße im Gesicht spüren. Eine besondere Art durch die Welt zu streifen, scheint ihnen angeboren zu sein, das Vagabundentum eine natürliche Form des Daseins. Im Gegensatz zu Ferien oder Geschäftsreisen, bei denen die Reise als Mittel zum Zweck betrachtet wird, ist es die Reise selber, die sie trunken macht. Sie brechen oft mit unzureichenden Mitteln auf, meist mit nicht viel mehr als ein wenig Hoffnung auf Glück im Gepäck, und das nimmt nicht viel Platz weg. Mut, Abenteuerlust, Widerstandskraft und Verstand sind erforderlich, um sich unterwegs zu behaupten. Trotz Härte und Strapazen, die ihnen widerfahren, empfinden sie nicht die Heimkehr, sondern den eigenen vier Wänden entronnen zu sein als eigentliches Glück. Unterwegssein heißt, sich ganz der Landstraße zu überlassen, losgelöst von allem dahinzuziehen, ohne Sorgen um die Zukunft, ohne Angst vor dem Unbekannten, sondern alles dem Augenblick zu überlassen. Wir verdanken diesem Fieber und der Lust am Wandern die Meisterwerke der Nomadenliteratur: Sandmeere, Brunnen der Wüste, Wanderer mit dem Wind, Verbotene Reise, Die Erfahrung der Welt, Zeit der Gaben oder In Patagonien. In diesen kostbaren Raritäten findet man den Zauber des Reisens wieder, ein Zauber, der leicht verloren geht, da mittlerweile jeder Ort auf der Welt ein Vorwand für Pauschalreisen ist. Sie entfalten den Duft unbekannter Landschaften, die vielleicht schon bald für immer verschwunden sein werden. Es wird nicht nur die Geschichte ihrer Reisen erzählt, man entdeckt darin auch eine Philosophie des Unterwegsseins.

Warum fühlen sich gewisse Menschen nur glücklich, wenn sie unterwegs sind? Oft ist es ihnen selbst nicht klar, was sie umtreibt. Sie finden schwer eine Erklärung für ihre zähen Begierden nach dem Wunderbaren, das sie in der Ferne, im Fremden vermuten, vielleicht ausgelöst durch den magischen Klang von Ortsnamen wie Isfahan, Taschkent, Kinabula, Hunza. Unterwegssein ist für sie eine Lebenshaltung und nicht eine Beschäftigung. Das Reisen gehört zu den Tätigkeiten des Menschen für die es zahlreiche Motive gibt, aber die keiner erklären kann.
Für Isabelle Eberhardt, der Autorin von Sandmeere, war das ziellose Wanderleben das wahre Leben. Sie reiste zwischen 1900 und 1904 als Mann verkleidet durch die algerische Wüste, getrieben von einer Sehnsucht nach Freiheit, Ekstase, Einsamkeit und Lebensintensität. Die Begriffe „Nomade“ und „Träumerei“ tauchen in ihrem Werk oft auf. „Nomadin war ich schon als Kind; Nomadin werde ich mein ganzes Leben bleiben, verliebt in wechselhafte Horizonte, in noch unerforschte Fernen.“ Sie empfand einen seltsamen Reiz darin, Dinge, die sie mochte und als angenehm empfand, wieder aufzugeben, um herauszufinden, was sich „jenseits der geheimnisvollen blauen Mauer des Horizonts verbirgt“.
Als die junge Ella Maillart im Spätherbst 1930 im Zug von Moskau nach Leningrad saß, fragt sie sich, ob sie nicht „einfach dem Tyrann Abenteurer erlegen ist, der seine Untertanen immer wieder ins Unbekannte stößt“. Sie hat in Moskau ein paar Kleidungsstücke verkauft, um sich die Fahrt nach Leningrad leisten zu können.
Nicolas Bouvier dagegen wurde nicht von solchen Skrupeln geplagt: „Eine Reise braucht keine Beweggründe. Sie beweist sehr rasch, dass sie sich selbst genug ist“, schreibt er in Die Erfahrung der Welt.“ Der englische Journalist Peter Fleming meint in Tartarennachrichten, was ihn und Ella Maillart dazu veranlasst habe, 1933 den ungewissen Weg von Peking nach Kaschmir zu gehen, sei die pure Lust am Reisen gewesen. Das erklärt zwar nicht, warum gereist wird und was die Gründe für den Wandertrieb sein mögen, sondern zeigt eher, dass es dafür keine befriedigenden Erklärungen gibt. Die Bewegung ist ein Urbedürfnis des Menschen, das ihn schon in seiner Frühzeit geprägt hat. Als Sammler und Jäger musste der Mensch weite Strecken zurücklegen, um seine grundlegenden Bedürfnisse zu decken. Er blieb solange in einem Gebiet, bis das Beschaffen der Nahrung mehr Zeit als das Weiterziehen in Anspruch nahm. Es scheint eine unbewusste atavistische Macht zu sein, die uns umtreibt.
„Im Menschen wohnt etwas, das stärker ist als er, das ihn Wege gehen lässt, die ohne Ziel scheinen“, sagt Alexandra David-Néel in Wanderer mit dem Wind, ihr war es 1924 nach einer langen strapaziösen Wanderung als erster weißer Frau gelungen, heimlich nach Lhasa zu kommen.
Ella Maillart war überzeugt davon, dass ein Reisender letzten Endes nichts als ein Suchender sei – „gleichgültig, ob er Sonne, Abwechslung, Spaß oder Erkenntnis sucht“ –, und sie wollte reisen, bis sie nicht mehr suchen musste. Sie betrachtete ihre Rastlosigkeit stets als ein Forschen nach spiritueller Wahrheit, ein Drang nach der Vollkommenheit eines weltumspannenden Seins, einer Wahrnehmung der Wirklichkeit, die nicht durch die Dualität von Subjekt und Objekt bestimmt ist, sondern ein Ganzes bildet. Sie war überzeugt davon, „dass das Leben selbst eine Reise an das Ende der Welt ist, eine Rückkehr zu der Einheit, die uns abhandengekommen ist; oder, falls wir zu schwach sind, zumindest ein Suchen nach Zeichen der Einheit.“
Je länger Ella Maillart unterwegs war, umso mehr lernte sie zu verzichten. Die Vorstellung vom besseren Leben war für sie nicht an materiellem Reichtum und wirtschaftliche Sorglosigkeit geknüpft. Was sie in jungen Jahren auf dem Meer und in den Schweizer Bergen erfahren hatte, bestätigte sich später auf ihren Reisen durch Asien; „wie überflüssig doch all das ist, was wir für unentbehrlich halten“.

Diese Reisenden haben einen Widerwillen gegen das rasche Vorwärtskommen und sind immer zu Abschweifungen bereit. Bruce Chatwin reiste nicht gerne im Flugzeug, weil darin die Gebiete überflogen und nicht durchquert werden. Es ist ein Verlust des Weges. Ella Maillart ärgert sich in Verbotene Reise über Peter Fleming, ihren vorwärtshastenden Reisegefährten, der das Ziel so rasch als möglich erreichen will. Sie hätte auf ihrem Weg von Peking nach Kaschmir gerne ein paar Umwege gemacht, um bestimmte Gebiete genauer zu erkunden. Die jungen Genfer Nomaden Nicolas Bouvier und Thierry Vernet brauchten mehr als ein Jahr, um in ihrem Topolino von Genf nach Kabul zu kommen. Die Tibetforscherin und Abenteurerin Alexandra David-Néel hatte ein Stipendium für zwei Jahre in der Tasche, als sie 1912 nach Indien aufbrach; sie kehrte erst dreizehn Jahre später aus Asien heim. Als Patrick Leigh Fermor im Dezember 1933 zu Fuß von Antwerpen nach Istanbul aufbrach, wusste er nicht, wie lange er unterwegs sein würde. Im Januar 1935 erreichte er sein Ziel. Der eigentliche Luxus des Reisens besteht darin, Zeit und Muße zu haben und nicht an Umkehr denken zu müssen; Langsamkeit ist eine Qualität des Reisens. Sogar schlechte Straßen werden zu einem Vorteil. Die wirklichen Erfahrungen macht man, wenn man sich verirrt oder bereit ist, vom Weg abzuschweifen. Beim langsamen Reisen kommen die Eigenheiten eines Ortes zum Vorschein, seine Klänge und seine Farben.

Unsere Vorstellungen von der Welt beruhen mehr auf Mutmaßungen, Annahmen, Vorurteilen und Selbsttäuschungen als auf einem klaren Blick auf die Wirklichkeit. Auf Reisen muss man sich ständig neuen Wirklichkeiten stellen. Nichts ist so, wie man es erwartet. Täglich gilt es, neue Herausforderungen zu meistern, der Geist wird mit unbekannten Dingen konfrontiert. Gefordert sind Agilität, Wachheit, Spontaneität und die Bereitschaft zum ständigen Wandel. Wenn man nachlässig ist, erteilt einem die Reise eine Lektion in Aufmerksamkeit und Geduld. Maxim Gorki sah in der Straße die eigentliche Universität des Lebens und für Michel de Montaigne war – im Gegensatz zu anderen Philosophen – Reisen eine Betätigung, die unseren Horizont erweitert und uns bildet. Es schärft Sinne, Intuition und Verstand, fördert Sinnlichkeit und Genussfähigkeit.
„Die Reise lehrt ihre Begleiter, die Augen aufzumachen, die Ohren zu spitzen, ein bisschen besser zu reisen. Wer durch diese Schule geht, fühlt sich bereichert“, schreibt Nicolas Bouvier in Lob der Reiselust und in Das Leere und das Volle sagt er: „Die Reise – die innere und die äußere Reise – hat keinen Sinn, wenn das Verhalten, das man bei der Abreise hatte, nicht permanent auf den Kopf gestellt wird. Oder permanent angepasst wird. …. Was zählt ist der Übergang.“
Reisende Autoren sind neugierig, sie wollen mehr erfahren, denn Reisen ist Wissen. 1977 erschien In Patagonien von Bruce Chatwin. Das Buch erlangte rasch Kultstatus. Chatwin durchstreifte den Süden Argentiniens meist zu Fuß, überzeugt davon, dass gewisse Abschnitte im Leben zu Fuß gemacht werden müssen. Er war der geborene Wanderer und Erzähler, getrieben von Erfahrungshunger und dem Drang zur Nachforschung, dabei zeigte er ein großes Faible für Sonderlinge und Lust am Merkwürdigen und Bizarren. Unterwegs traf er Menschen verschiedenster Herkunft, und je mehr er auf die Menschen zuging, umso grösser wurde seine Neugier auf die Eingewanderten oder das Schicksal von Verschollenen.
Im gleichen Jahr erscheint auch Zeit der Gaben von Patrick Leigh Fermor, worin er von seiner monumentalen Wanderung nach Konstantinopel erzählt. Als er aufbrach, war er neunzehn Jahre alt und blickte auf eine Reihe von Schulabbrüchen zurück. Es wird eine Wanderung durch ein Europa, das im 2. Weltkrieg unterging und das Leigh Fermor – vierzig Jahre später – in seinem Wanderbericht wieder auferstehen lässt. Er ist ein Bildungsbesessener, unterwegs besucht er Kirchen, Klöster, Museen, rezitiert Horaz beim Gehen und breitet sich über die Völkerwanderung und Landschaftsmalerei aus; wobei Lebensfreude, jugendlicher Enthusiasmus und Intellekt eine wunderbare Legierung bilden.

Jeder Reisende kennt die Unwägbarkeiten und Härten des Umherziehens: Gefahr, Verdruss, Angst, Hunger, Kälte, Erschöpfung und Krankheit. Annemarie Schwarzenbach schreibt in Alle Wege sind offen: „Die Reise aber, die vielen als ein leichter Traum, als ein verlockendes Spiel, als die Befreiung des Alltags, als die Freiheit schlechthin erscheinen mag, ist in Wirklichkeit gnadenlos, eine Schule, dazu geeignet, uns an den unvermeidlichen Ablauf zu gewöhnen, an Begegnen und Verlieren.“
Bemerkenswert ist dabei, mit welcher Gleichmut diese Abenteurer auf Widrigkeiten reagieren und mit welcher Zuversicht sie reisen. Bei der Lektüre hat man den Eindruck, sie gingen mit instinkthafter Sicherheit durch alle Gefahren und Kräfte verzehrenden Anstrengungen hindurch. Schwierigkeiten und Wagnisse geben ihrem Dasein klare Konturen, sie können sich beweisen, dass sie keine jämmerlichen, verkümmerten Wesen sind.
Zugleich ist Reisen eine Pendelbewegung, die immer nach zwei Seiten ausschlägt. Negative Erfahrungen sind vom Glück nicht zu trennen. Wir finden in ihren Büchern nicht nur Verdruss oder Gefahr. Wir finden auch Momente, die von einer tiefen emotionalen Erregung geprägt sind; kurze, unerwartete Momente, in denen das Leben in sie hineinströmt und ein Gefühl der Euphorie und des Überschwangs erzeugt. Meist sind es ganz einfache Dinge wie der Duft einer frischen Melone, die Wärme eines Dungfeuers, eine freundschaftliche Begegnung mit fremden Menschen oder der Laut von Rebhühnern, die sich nach einer durchwachten Nacht im Morgengrauen bemerkbar machen. Diese Augenblicke sind von einer solchen Intensität, dass Nicolas Bouvier das Wort „Glück“ dafür als ziemlich dürftig empfunden hat. Sie sind kostbar und gerade deswegen wertvoll, weil sie sich so selten einstellen und als solche kaum fassbar sind; ein ansteckendes Glück, auch für den Leser.

Reisende entwickeln ein präzises Gefühl für Räume und weite Horizonte, ein Gefühl, das in unserer Kultur verloren ging, dieser „Sinn einer weit offenen Welt“. (Kenneth White) In ihren Büchern finden wir eine poetische Geographie, die immer vom konkreten Ort ausgeht, der offene Raum als Droge. Für Ella Maillart war klar, dass man die weiten Horizonte, die man vor Augen hat, verinnerlichen muss, um sie wahrzunehmen. Die äußere Unermesslichkeit wird so zu einer inneren Dimension.
Ihre Reisen werden von transkontinentalen Gefühlen bestimmt, einer Vision von mächtigen zusammenhängenden Territorien. Eurasien etwa – das wir in unseren Köpfen klar in Europa und Asien trennen und in Nationalstaaten parzellieren – ist für sie ein einziges zusammenhängendes Gebiet, das von der atlantischen Küste bis ans Gelbe Meere reicht. Eine solche Empfindung ist eine Form der Erkenntnis, die vollkommen neue Perspektiven eröffnet, denn die unermessliche Weite des euroasiatischen Territoriums beginnt damit vor der eigenen Haustür. Nicolas Bouvier, der weite Strecken davon in seinem Topolino zurückgelegte, hat sich diese Empfindung durch die hart erworbene Erfahrung seiner drei langen Reisejahre zu Eigen gemacht. Die äußere Geographie verwandelt sich dabei in eine innere, mentale, Landschaft wird zur existentiellen Erfahrung.

Eine Reise ist auch keine Sache der Behaglichkeit – ihre magische Kraft liegt vielmehr darin, dass sie das Leben von allem reinigt, was man bisher als wichtig und erstrebenswert erachtet hat, ein Akt der Befreiung, um die ausgefahrenen Gleise der Gewohnheiten zu verlassen und den Kopf einem frischen Wind auszusetzen. Nach der Lektüre ihrer Bücher möchte man ebenfalls aufbrechen, sein Leben von allem Ballast befreien, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, es vereinfachen, um das eigene Selbst in seiner Nacktheit zu erfahren und jene Bedürfnislosigkeit zu erlangen, „die das Leben feiner und leichter als Asche macht“, damit Empfindsamkeit und Wahrnehmung an Schärfe und Klarheit gewinnen.

Erwähnte/Zitierte Bücher
Bouvier, Nicolas; Die Erfahrung der Welt. 2000, Basel
Bouvier, Nicolas; Das Leere und das Volle. 2005, Basel
Bouvier, Nicolas; Lob der Reiselust. 2007, Basel
Chatwin, Bruce; In Patagonien. 1981, Reinbek bei Hamburg
David-Néel, Alexandra; Wanderer mit dem Wind. 1979, Wiesbaden
Fleming, Peter; Tataren-Nachrichten. 1996, Frankfurt a.M.
Eberhardt, Isabelle; Sandmeere. 4 Bände, 1981, Berlin und Schlechtenwegen
Leigh Fermor, Patrick; Die Zeit der Gaben. 2005, Zürich
Leigh Fermor, Patrick; Zwischen Wäldern und Wasser. 2006, Zürich
Maillart, Ella; Verbotene Reise. Von Peking nach Kaschmir. 2003, Basel
Maillart, Ella; Der bittere Weg. 2001, Basel
Schwarzenbach, Annemarie; Alle Wege sind offen. 2001, Basel
White, Kenneth; Der blaue Weg. Eine Reise 1984, Zürich