Die Auswanderer

In den letzten Tagen dachte und dachte ich an ein hohes und steiniges Tal. Ein Tal im Berner Oberland. Ich dachte an die Flühe, den blauen Himmel, die Matten, die in der Morgensonne glänzen und an die frische Luft, die nach Bergblumen und Holzfeuer riecht. Dort oben wurde ich geboren. Dort oben hatte ich die ersten zwei Jahre meines Lebens verbracht und manche Tage in meiner Jugend. Wie lange ist das alles schon her. Wie lange bin ich nicht mehr in dem kleinen Bergdorf gewesen und habe zu den Flühen empor geschaut. Mein Heimattal?
Nein. Ich habe keine Heimat! Außer, vielleicht, die Bücher.
Es ist ein von der Abwanderung bedrohtes Tal, abseits der Touristenzentren Grindelwald, Interlaken und Wengen.

Heute kann man sich kaum noch vorstellen, in welcher Armut die Menschen da oben einst gelebt haben. Aber gilt das nicht für die ganze Bergwelt der Schweiz? Die kleinen Höfe warfen zu wenig ab, um die großen Familien zu ernähren. In der Not wanderten viele nach Amerika aus. Alle Geschwister des Großvaters waren nach dem Ersten Weltkrieg emigriert und hatten sich in Kalifornien oder Oregon angesiedelt. Einer seiner Brüder ist dort verschollen. Wer hatte diesen armen, schlecht ausgebildeten Leuten die Reise übers Meer finanziert?
Müsste man bei ihnen nicht auch von Wirtschaftsflüchtlingen sprechen? Sind diese Menschen nicht vor der Armut und dem Hunger in der Schweiz geflüchtet. In der Hoffnung gegangen, auf einem fremden Kontinent eine bessere materielle Existenz zu finden? Etwas Glück. Also all das, was die Heimat nicht bieten konnte.
Waren es nicht Wirtschaftsflüchtlinge aus Europa (Iren, Deutsche, Franzosen, Italiener, Schweizer etc.), die die USA aufgebaut haben?

Was unterscheidet meine ausgewanderten Vorfahren von den Schwarzen, die aus Afrika nach Europa kommen, weil es für sie auf dem eigenen Kontinent keine wirtschaftlichen Perspektiven gibt?
Gut! Den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ gab es damals noch nicht. Er wurde erst 1965 geprägt. Anfänglich wurden die Flüchtlinge, die der Mangelwirtschaft in den kommunistischen Ostblockstaaten zu entfliehen versuchten, als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. Seit 1977/78 wird der Begriff ausschließlich für jene aus der Dritten Welt verwendet, die nicht des politischen Asyls wegen hierher kommen.
Sind die Polen oder Portugiesen, die hier in der Schweiz auf dem Bau oder in der Landwirtschaft arbeiten, nicht auch Wirtschaftsflüchtlinge, sind sie nicht vor der desolaten wirtschaftlichen Situation im eigenen Land geflohen? Und was ist mit den Krankenschwestern und Ärzten aus Deutschland, die in unseren Spitälern arbeiten, weil die Löhne hier bedeutend höher als in ihrem eigenen Land sind? Oder die Schweizer Rentner, die in Phuket oder an der Costa Brava leben, weil sie dort für ihr Geld mehr konsumieren können als hier?
Müsste nicht jeder, der mit der wirtschaftlichen Situation im eigenen Land irgendwie unzufrieden ist und sich in der Fremde nach etwas Besserem umsieht, als Wirtschaftsflüchtling bezeichnet werden?

Der Genfer Reisende und Schriftsteller Nicolas Bouvier zeigt in seinem Aufsatz Lob der Schweizer Wanderlust, dass es in der Geschichte der Schweiz eine nomadische Konstante gibt, die gerne verschwiegen wird, weil es oft die Armut war, die die Menschen auf die Landstraße getrieben hat. Etwa in die Reisläuferei und das Söldnerwesen. Die Patrizier verdienten ein sattes Geld an den armen Bergbauernsöhnen, die sie an fremde Heere verkauften. Die rabiaten Eidgenossen waren auf den Kampfplätzen gefürchtet und deshalb sehr geschätzt. Zugleich war man damit die Überbevölkerung in den Bergtälern los.
Ulrich Bräker, (Der arme Mann im Tockenburg) war knapp zwanzig Jahre alt, als ein gewisser Laurenz Aller von Schwellbrunn auf seinen Vater zutrat und ihn fragte, was er mit dem ganzen Haufen Buben zu tun gedenke, wo doch keiner von ihnen ein Handwerk gelernt habe. Warum er sie nicht in die Welt hinausschicke? Nach ein paar Jahren kämen sie als wirkliche Herren zurück, gut ausstaffiert und Hüte mit Goldborten auf dem Kopf. Da gäbe es gelobte Länder, wo man Geld machen könne wie das Vieh Mist. Dieser Laurenz verbürgte sich für Ulrich; Vater und Sohn waren einverstanden. Sie verabredeten den Zeitpunkt der Abreise. Im Dorf sollte niemand etwas davon erfahren. Sie marschierten nachts los. Nach Schaffhausen. Wo Laurenz den Buben an einen preußischen Werbeoffizier verkaufte.
Es ging zu Fuß nach Berlin, dort wurde der junge Bräker in die Armee von Friedrich II. gepresst. Für sechs Jahre. Neben ihm gab es noch viele andere Schweizer, die auf die gleiche miese Art an die Preußen verdingt worden waren. Ulrich verabscheute den militärische Drill; die Ernährung war miserabel und der Sold reichte gerade fürs Instandhalten der Uniform und dem militärischen Zubehör. Er dachte ans Abhauen. Als er sah, wie die wieder eingefangenen Desserteure Spießrutenlaufen mussten und ihnen dabei den Rücken blutig gehauen wurde, verließ ihn den Mut. In der Schlacht von Lowositz am 1. Oktober 1756 gelang ihm die Flucht dann doch, und ein Monat später war er wieder in seinem geliebten Wattwil.
Nach dem Verbot der Söldnerdienste waren es Berufsleute, Handwerker, Hausbedienstete und Hauslehrer, die ihr Glück in der Fremde suchten. Nicht Grobheit und Kampfeslust wie bei den Söldnern zeichnete sie aus, sondern Fleiß, Geschicklichkeit, gutes Betragen, Genauigkeit.

Viele Jahre nach dem Tod des Großvaters bin ich auf einer Wanderung über den Susten-Pass wieder einmal ins Tal gekommen. Ich übernachtete bei Onkel und Tante, die nun im Haus lebten, das einst ihm gehört hatte.
Ich wusste, dass der Großvater mehrere Jahre in Amerika gewesen war und fragte, ob es von ihm noch Briefe von damals gäbe.
Im Frühling hätten sie den Dachboden geräumt und zu einem Zimmer ausgebaut, da hätten sie die Briefe mit all dem anderen Gerümpel, der dort oben herumlag, fortgeschmissen, sagte die Tante. Wenn sie gewusst hätten, dass ich mich dafür interessiere, hätten sie die Briefe behalten.
Einzig seine Registration Card hatten sie aufbewahrt. Sie wurde am 3. Dezember 1930 vom Schweizer Konsulat in Portland, Oregon ausgestellt und war bis zum 31. Dezember 1933 gültig. Sie ist nicht verlängert worden. Außerdem war da noch eine kolorierte Postkarte, auf der das American Geographical Society and Indian Museum von Washington abgebildet ist. Was mochte Großvater dazu bewegt haben, gerade diese Karte zu kaufen? War er jemals in Washington gewesen? Im Museum da? Hatte ihn die Geographie des amerikanischen Kontinents interessiert, die blutige Unterdrückung der Indianer? Jedenfalls ist es alles, was aus seiner Zeit in Nordamerika übrig geblieben ist.
Die ältesten Tanten und Onkel hätten wohl noch einiges zu berichten gewusst, aber ich habe es versäumt, sie danach zu fragen. Und jetzt sind sie alle gestorben.
Das einzige, woran er sich noch besinnen könne, sagte der Vater, als ich ihn einmal danach gefragt habe, sei, dass der Großvater Melker in Oregon gewesen war. Jeden Abend hätten ihm die Daumen vom vielen Melken so wehgetan, dass er sie kaum noch bewegen konnte.
Nach vier Jahren kehrte der Großvater heim. An einem Winterabend. Das Tal war tief verschneit. Er hatte die Absicht, nach Amerika auszuwandern und war zurückgekommen, um die Großmutter und die zehn Kinder zu holen. Doch die Großmutter winkte ab, nie und nimmer würde sie das Tal verlassen, das sei ihre Heimat, auch wenn das Leben arm und hart sei, keiner brächte sie lebendig von hier fort. Und schon gar nicht nach Amerika. Darauf kehrte sie an die Arbeit zurück und das Thema Auswanderung war ein für alle Mal vom Tisch. Und noch etwas Anderes kam für die Großeltern trotz der erdrückenden Armut nicht in Frage: die Kinder zu verdingen, sie für billiges Geld an reiche Bauern fortzugeben, wie es viele arme Familien taten. Sie wussten, sie hätten die Kinder der Willkür, rohen Gewalt und noch Schlimmerem ausgesetzt.
Sie besaßen zwar nur drei oder vier Kühe, ein Dutzend Ziegen, einen Pflanzplätz, und den zähen Willen, es zu schaffen. Und irgendwie ist es gegangen.

Das dunkle Holzhaus war einfach eingerichtet. Man kochte im offenen Kamin. Es gab kein fließendes Wasser im Haus, es musste am Brunnen geholt werden. Kartoffeln, Kohl und Käse bestimmten den Speisezettel. Man zog das Jahr über ein Schwein groß, das in der Altjahrswoche geschlachtet wurde. In der Stube standen die Betten der Eltern, der Webstuhl, ein Tisch. In den beiden Kammern schliefen die Kinder, immer zwei in einem Bett.
Die Großmutter nähte die Kleider für die Kinder selber. Und das neben der ganzen Arbeit auf dem Feld und im Haus. Im Winter, wenn es wenig zu tun gab, wob sie. Am Webstuhl in der engen Wohnstube. Sie war eine begabte und einfallsreiche Weberin, erzählte die Mutter, sie hätte nicht nur simple Tücher weben können wie die anderen, sondern solche mit komplizierten farbenfrohen Mustern, die sehr begehrt waren.
Paul Wyss, der Berner Kunstmaler und Förderer traditioneller Handwerke, verbrachte seine Ferien oft im Gadmen. Die Handweberei aus dem Gadmertal mit ihren einzigartigen Mustern, faszinierte ihn dermaßen, dass er im Unterland für bessere Absatzmöglichkeiten sorgte. Auf seine Initiative hin wurde die Webarbeiten 1914 an der dritten Schweizer Landesausstellung gezeigt – und waren ein großer Erfolg.

Die Wiesen und Matten, die die Großeltern besaßen, waren abschüssig und steinig, etliche lagen weit weg vom Stall, in dem die Tiere untergebracht waren. Man mähte von Hand. Da keine Lasttiere zur Verfügung standen, wurde das Heu in Netzen zu Ballen gepresst und auf dem eigenen Rücken zu den nahen Schobern getragen. Im Winter transportierte man das Heu auf Hornschlitten zum Stall mit den Tieren. Auch das Bergheu wurde im Winter auf Schlitten ins Tal hinunter gebracht.

Einmal zeigte mir Änni, die älteste der Tanten, ein Foto, auf dem die ganze Familie zu sehen ist. Es muss in den 1930er Jahren entstanden sein. Großvater und Großmutter und die zehn Kinder. Die ältesten waren fast erwachsen, der jüngste konnte noch nicht gehen. Am meisten verblüffte mich der Großvater auf dem Bild. Ein dunkelhaariger Mann mit einem Schnauzbart. Er sieht darauf überhaupt nicht wie ein armer, von materiellen Sorgen geplagter Bergbauer und Familienvater aus. Er wirkt eher wie ein zufälliger Bekannter der Familie, der reiche Onkel aus Amerika, der hin und wieder zu Besuch kommt, einer, der gerne reist und keine Verpflichtungen hat; ein jugendlich wirkender Bohemien, der die Welt gesehen und über die Natur der Dinge Bescheid weiß. Ein wenig gleicht er dem Schriftsteller Robert Walser. Ja, er hat etwas untrüglich Robert Walserisches auf dem Foto.

Die ersten zwei Jahre meines Lebens verbrachte ich in Gadmen, im Haus des Großvaters. Dann wurden der Mutter die häusliche Enge und die schneereichen Winter zu viel. Und auch der Umstand, dass der Vater so wenig zu Hause war. Im Sommer war er als Senn oben auf den Alpen tätig, im Winter ging er ins Holz oder arbeitete im Stollen an der Grimsel. Es wurden drei oder vier Alpen auf verschiedenen Höhen bewirtschaftet. Wenn das Futter auf einer Alp knapp wurde, trieb man das Vieh auf die nächste. Der Vater molk die Kühe und die Ziegen, und in einem Kupferkessel, der im offenen Kamin der Hütte über dem Feuer hing, machte er Käse aus der Milch. Damals waren die Alpen noch richtige Dörfer aus krummen Holzhütten. In jeder Hütte lebte ein Senn. Die Sennen bildeten eine kleine Gemeinschaft. Dem Vater gefiel dieses Leben sehr. Ich vermute, es war die beste Zeit in seinem Leben gewesen. Doch ein Auskommen für eine Familie war es nicht. Wir zogen ins Unterland.

Hirten und Ruhelose. Ich muss es von ihnen geerbt haben, den Hang zum Abenteuer. Aber wie der französische Schriftsteller Paul Léautaud bin ich eher ein „passiver Abenteurer“, ein Kopfreisender, einer, dem das Träumen, die Rastlosigkeit in Gedanken gut genug ist, einer, der die Routen in der eigenen Phantasie ausmacht und die eigentliche Wanderung durch die Lektüre ersetzt.