Lieber Paul Nizon
Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie sich Riesenauflagen von Ihren Büchern wünschen. Verständlich! Sie wären dann richtig reich. Ein Auflagenmillionär à la Max Frisch oder Peter Handke. Darum nehme ich nicht an, dass es Sie schrecklich interessieren wird, was ich Ihnen zu schreiben habe, bei Riesenauflagen schielt man nach den Massen und hat nicht den einzelnen Leser im Auge.
Ich habe Sie erst spät entdeckt. Ich geriet an eines Ihrer Journale, fand darin eine Stelle über Elias Canetti, las mich fest.
Ich weiß nicht mehr, welcher Band es war, aber Grund genug, gleich den ganzen zu lesen und nach und nach die anderen auch. Früher bin ich Ihren Büchern aus dem Weg gegangen, ich fand die Sprache zu exaltiert. Heute ist es gerade diese Sprache, die ich mag, sie passt bestens zu der aufrührerischen Sensibilität, mit der sie in Ihrer eigenen Existenz herumstochern und herumbohren. Diese Sondierungen faszinieren, dieses Bruchstellen entlanglaufen. Und Laufen nicht nur im übertragenen Sinn, bei Ihnen ist das Gehen immer auch Teil Ihrer Schreibexistenz, mehr als ein notwendiges Übel, um von A nach B zu kommen. Es wird viel marschiert in Ihren Büchern. Sie sind der geborene Fußgänger, ein Schreibnomade, der auf seinen eigenen Sohlen die Welt erkundet. Bei Ihnen ist Gehen auch mehr als ein physischer Akt, darin stecken Empfindungsoffenheit, Neugier, Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe, die zu einem erhöhten Lebensgefühl führen, zu einem Lebens- und Augenblicksrausch. Und sie sind immer auch Nahrungsaufnahme.
An Ihren Journalen gefällt mir dieser funkelnde, kaleidoskopartige Mix aus Geh-Reports, Aufzeichnungen, literarischen Einfällen, Reiseskizzen, Porträts und essayistisch-philosophischen Bemerkungen – diese vagabundierende, kreisende Art zu schreiben, die im Jahr der Liebe ihren Höhepunkt hat. Mir gefällt auch, dass für Sie primär die Stadt das zu erkundende Revier ist, dass Sie nie mit der Idee geliebäugelt haben, Ihr Wanderterritorium in die Wildnis oder ins Hochgebirge zu verlegen, dass Sie die Reise nach Asien und das einfache Leben dort, eher als Einschränkung und Desorientierung und weniger als eigentlichen Lebensrausch empfunden haben.
Wenn Sie wieder einmal jammern, dass Sie nicht imstande sind, Romane zu schreiben, die hohe Auflagen erzielen, Lesefutter, Marktbedürfnisse befriedigend, dann danke ich dem lieben Gott für diese Schwäche. Wie viel auf- und anregender sind doch Ihre Notierungen, in denen die Notwendigkeit spürbar ist, etwas ganz Bestimmtes und nur das auszudrücken. Ich halte Romane – bis auf einige Ausnahmen – als eine inadäquate Form von Literatur. Zu viel Konstruiertes! Zu viel Füllmaterial! Struktur und Form scheinen wichtiger als Eigensubstanz. Primär scheint es eine Frage der handwerklichen Geschicklichkeit und weniger eine des Heraustreibens lebensfordernder Stoffe. Was mir auch gefällt, ist Ihre Analysefähigkeit, die weder psychologisch noch soziologisch, sondern immer poetisch ist. Eine poetische Analyse will heißen, eine eigenständige, bildhafte, darstellende Art die Dinge zu betrachten, sprachlich durchgearbeitet, Existenzforschung und Dichtung in einem.
Sie scheinen zu jener Sorte Mensch zu gehören, denen das Sitzleder fehlt, für die das Leben immer nur ein Provisorium ist, unmöglich festzuhalten, ein sich vorläufiges einnisten, immer mit der Idee des Aufbruchs und Weiterziehens im Hinterkopf. Als ich in einem Ihrer Aufsätze las, dass Sie in Paris zahlreiche Mansardenzimmer und Ateliers zum Schreiben benützt haben, immer wieder umgezogen sind, wenn ein Werk abgeschlossen war, einen neuen Raum und eine andere Umgebung für ein neues Werk benötigten, eine Art Zugvogelleben im Großraum Paris, jedes Atelier in einen anderen Arrondissement, habe ich das wie eine Bestätigung meiner Behauptung empfunden. Es kam mir Knut Hamsun in den Sinn, der auch nicht zu Hause auf seinem Hof in Norholm schreiben konnte, sondern sich davon machte und sich irgendwo in einem kleinen Hotel an der norwegischen Küste einquartierte, ohne dass Marie, seine Frau, wusste, wo er steckte und sich versteckte, um seiner Schreibarbeit nachzugehen. An einem solchen Verhalten erkennt man die Nomadenseele, die unstete, umherirrende Existenz, die Ekstatiker des Gehens. War es nicht Hamsun, der sagte, dass Dichter Vagabunden und Leierkastenmänner sind.
Ich verstehe Sie gut, wenn Sie sich nirgendwo zugehörig fühlen, außer bei Frauen vielleicht, eigenwillig sind, skeptisch der Gesellschaft gegenüber, der Banalität des bürgerlichen Lebens, dessen primäres Ziel materielle Sicherheit und Reichtum ist. Wieviel Belangloses steckt in einem von Gewohnheiten abgenützten Leben, in dieser Gleichförmigkeit des Alltäglichen. Mir gefällt Ihre solitäre, geheime Existenzweise, diese vielleicht antiquierte Idee des Künstlers als Rebellen. Als Stromer. Außenseiter. Abweggehender. Einer, der verstört, Verständnislosigkeit und Kopfschütteln hervorruft. Der nur in gebührendem Abstand zur Gesellschaft zu seinen Einsichten kommt, dem Salz in seiner Kunst. Man muss in einem bestimmten Grad verrückt sein, um zu Hellsichtigkeit zu gelangen. Schreiben soll auf eine streunende, kreisende Art geschehen, ein assoziatives Vordringen von einem Raum in den nächsten, von einem Bereich in einen anderen. Ein Schreiben, das sich aus konkreten Orten und Lebensumständen nährt, also von örtlichen Gegebenheiten ausgeht – das kommt in Ihren Büchern wunderbar zum Ausdruck.
Ja Nizon, Sie haben eine Beatnik-Seele. Ihr Schreiben hat etwas Abdriftendes à la Jack Kerouac oder Allen Ginsberg. Auch für sie war eine herumirrende Daseinsart die Voraussetzung fürs Schreiben, ein Schreiben, das eng mit dem eigenen Leben verknüpft ist und das wiederum neues Leben gebiert, eine andere Wirklichkeit erzeugt, eine sich gegenseitig durchdringende Lebens- und Schreibexistenz. Der daraus resultierende Totalitätsanspruch an das eigene Leben war typisch für die Beatniks, diese Suche nach Glückseligkeit, Intensität und Ekstase. Aber es gibt auch einige gravierende Unterschiede: Bei Ihnen spielt der Osten mit seiner Gelassenheitsphilosophie keine Rolle, während Buddha und Laotse für die Beatniks wichtige Inspirationsquellen waren. Ich glaube auch, die Beatleute waren näher am Wahnsinn, das Leben schien immer in Gefahr zu kippen und kippte auch oft, vor allem durch Alkohol und Drogen bedingt. Es gibt bei ihnen etwas Gewalttätiges, das wahrscheinlich ein Element der amerikanischen Gesellschaft ist. In dieser Hinsicht werden Sie von einer anderen Vitalität bestimmt. Diese wilde amerikanische Seite fehlt Ihnen, was nicht heißt, dass man sie vermisst oder abträglich für Ihr Schreiben wäre. Ein anderer Aspekt ist wohl die Musik. Sie kommen aus der klassischen Ecke, Brahms, Ravel, Puccini, während die Beatniks dem Jazz zugetan waren, den schnellen Rhythmen des Bebops, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, die, wenn ich das richtig sehe, für Sie keine Rolle spielen, und der Rock n’ Roll noch weniger. Wo ich hingegen wieder Parallelen sehe, ist in geopoetischer Hinsicht. Die Beatniks waren ständig zwischen der Ost- und der Westküste unterwegs, mit Abstechern nach Mexiko und Tanger. Sie hatten ein kontinentales Gefühl für Amerika, Amerika war für sie konkreter geographischer Raum, dem sie in ihrem Schreiben Ausdruck verliehen. Dieses Gefühl ist auch bei Ihnen erkennbar, weniger in der hektisch rasenden Beatnik-Art, aber so wie Sie in Europa unterwegs sind, in den Städten dieses alten Kontinents zu Hause, sich immer wieder umsiedeln, Rom, Barcelona, Zürich, Berlin, London zu temporären Heimstätten machen, Paris als Wahlheimstatt, – also konkrete geographische Orte, die ihre Spuren in Ihren Werk hinterlassen haben.
Paris, Ihr Exil- und Wohnort. Ich muss immer schmunzeln, wenn Kritiker sich über diese Form von Exil empören, auch darüber, wie wenig Verständnis sie aufbringen für Ihre durch die Straßen von Paris nomadisierende Schreibexistenz. Für mich als passionierten, wenn auch stark behinderten, Fußgänger hat diese Existenzweise etwas Erhebendes, Anregendes und Öffnendes. Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass Poesie mehr ist als eine wie auch immer geartete Unterhaltung, mehr als eine aufbauende und aufklärende Sache. Wenn Sie von einer poetischen Existenz sprechen, ist es immer auch eine gehende Existenz, Poesie und Gehen bilden eine Einheit.
Paris ist eine alte Liebe von mir, die ich mindestens einmal im Jahr besuche. Ich streife gerne durch die Straßen von Paris, die nervöse Erregung, die mich dabei packt und zugleich eine Vertrautheit und ein mich Heimisch fühlen. Auch in literarischer Hinsicht fühle ich mich mit Paris verbunden, wie viele haben hier gelebt, deren Werke ich bewundere: Knut Hamsun und Henry Miller, die in den Straßen von Paris gehungert haben, Paul Léautaud oder Marcel Proust, die hier geboren sind. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren reiste ich das erste Mal nach Paris, Robert Desnos wegen. Ich hatte gerade Die Abenteuer des Freibeuters Sanglot verschlungen und wollte unbedingt durch die Straßen gehen, in denen Sanglot hinter Louise Lame her war. Dabei verband sich für mich ein erotisches Verlangen mit Paris und der Literatur, ein wirbelnder, mich verschlingenden Kosmos. Und mit der Erotik sind wir wieder mitten in Ihrem Werk. Man kann nicht von Ihren Werk sprechen, ohne an das erotische Verlangen zu denken, an die Frauen und die Wirkung, die sie auf Sie haben. Ihre Stadtwanderungen sind immer auch erotische Streifzüge, getrieben von einem sexuellen Verlangen.
Lieber Nizon, auch späte Entdeckungen haben ihre Qualitäten, die denen in jungen Jahren ähnlich sind. Ich sage absichtlich ähnlich, es ist nicht mehr jenes ungeduldige und unschuldige Verlangen, jene exaltierte Erregung und Aufgestörtheit, diese elektrisierende Berührung, von der wir spüren, dass wir durch ein Buch mit etwas Neuem in Kontakt gekommen sind, das unseren Horizont übersteigt und uns zugleich in unseren tiefsten Tiefen erschüttert und durcheinander bringt, eine Lebensgier in uns weckt , die wir vorher so nicht gespürt haben. Natürlich ist vieles davon noch da, aber weniger aufrührerisch, überbordend, verschlingend, dafür weiträumiger, tiefgründiger, gelassener, weil mehr mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens in Berührung. Es sind wohl auch andere Dinge, die einem im Alter anrühren als in der Jugend. Man ist sich den eigenen Grenzen bewusster geworden, sie sind fühlbarer, in jungen Jahren kennt man dergleichen nicht, vor allem nicht die eigenen, man glaubt an das persönliche Genie. Später, wenn nicht alle Lebensträume aufgegangen sind, die Zeit etwas Endliches hat, tun sich andere Abgründe als in der Jugend auf. Erste Ermüdungserscheinungen machen sich bemerkbar, der Tod wird greifbarer, wirklicher. Man fragt sich, ob die Gewohnheiten, die man sich in den vergangenen Jahren zugelegt hat, bereits das ganze Leben sind. Da wirken Ihre Journale wie Revitalisierungs- und Verjüngungsstoffe. Man versucht, die Dinge wieder mit frischeren Augen zu sehen.
Als ich erfuhr, dass ein neuer Band der Journale erschienen ist, eilte ich in der Mittagspause in die Buchhandlung, um ihn sofort zu haben, den Gedanken an Essen wie eine lästige Behinderung beiseite schiebend. Der Kauf konnte nicht aufgeschoben werden.
Urkundenfälschung – eigenartiger Titel. Wo liegt da die Fälschung vor? Welche Dokumente sind gemeint? Ist es wie bei einem Vexierbild, das man umdrehen muss, um eine andere Figur darin zu erkennen? Muss das Gedächtnis im Alter längere Strecken zurücklegen, wird es deshalb zum Langzeitgedächtnis, verfälscht man Erinnerung gegebenenfalls, weil das Gedächtnis nicht mehr so flink hin und her eilen kann? Diese Fragen stellten sich mir spontan, als ich die Plastikfolie vom Buch riss.
In diesem Sinne schließe ich und wünsche Ihnen noch viele anregende Vagabundentage durch Paris.