Es war ein schneidend klarer Morgen, durchsichtig und kühl. Die Hügelzüge am anderen Ufer der Tejomündung zeichneten sich deutlich ab. In der Regel verschwanden sie in einer schwefelgelben Dunstglocke. Die Fassade des Postgebäudes an der Rua Arsenal war schwarz von Autoabgasen.
Heute hatte ich mehr Glück als am Freitag. Die Frau am Postschalter händigte mir drei Briefe aus. Aber die Bücher waren noch nicht da.
Ich überquerte die Rua da Prata und schritt unter den Bögen der Praça do Commercío Richtung Café Martinho da Arcada.
In den engen Straßen der Baixa hingen Wolken von Abgasen. Unglaublich, die vielen Autos. Eine gelbe Trambahn rumpelte vorbei. Straßenhändler hatten auf Decken alte Postkarten, zerfledderte Bücher, Schlüsselanhänger und Ortspläne ausgebreitet. Eine Bettlerin klagte laut. Der monotone Gesang der Lotterielosverkäufer war zu hören. Eine dichte Menschenmasse bewegte sich auf den Trottoirs.
Im Café war es still. Der Verkehrslärm brandete an den Sandsteinpilastern der Arkaden zurück. Die hohen, kleinfächerigen Fenster filterten das durchsichtige Dezemberlicht. Wände und Decke waren gelb vom Nikotin. Das graue Licht der Deckenlampen brütete über den dunklen Stühlen und den schwarzweiß geäderten Marmortischchen. Der Kellner lehnte am Schanktisch und putzte sich die Fingernägel, als ich eintrat. Sein Gesicht war weder alt noch jung und hatte eine wächserne Farbe. Seine Jacke mit den goldenen Borten an Ärmeln und Kragen, mochte einmal weiß gewesen sein, nun war sie grau und fadenscheinig. Hinter der Theke bückte sich eine alte Frau über dem Spültrog und wusch Gläser ab.
In einer Ecke lasen ein paar alte Männer die Zeitung. Manchmal unterbrachen sie die Lektüre und kommentierten die Neuigkeiten des Tages. An ihren gichtkranken Fingern blinkten Ringe mit teuren Steinen.
Am Fenster saßen der Dichter Fernando Pessoa und Ricardo Reis, eine der Dichtergestalten, die Pessoa erfunden hatte. Auf dem Tisch standen Mokkatässchen und Cognacgläser.
Dass Reis wieder in Portugal war, überraschte mich. Er war ein eingefleischter Monarchist und verabscheute die Republik. Deswegen war er 1919 nach Brasilien ins Exil gegangen.
Ich wollte hören, worüber sie sprachen und setzte mich in ihre Nähe.
Pessoas Blick verlor sich im Unbestimmten. Er sah das Ferne, das keiner sonst sieht und von dem niemand weiß, ob es Vergangenheit oder Zukunft ist. Seine Erscheinung drückte Namenlosigkeit, Vereinzelung und Melancholie aus. Das wirkliche Leben ist eine Illusion. Pessoa ist ein anderer, das Medium von Gestalten, die er selbst erschaffen hat. Sein Gesicht ist von einer schmerzlichen und unstillbaren Sehnsucht gezeichnet. Zugleich drückt es eine feine Ironie aus, einen sanften Humor; er weiß, dass die Dinge nicht das Gewicht haben, das wir ihnen geben. Er gehört zu den Menschen, die sich entschließen, fortzugehen, aber den Aufbruch Tag für Tag hinausschieben.
Der Arzt und Dichter Ricardo Reis in seinem dunklen und elegant geschnittenen Nadelstreifenanzug wirkte viel bestimmter und lebendiger als Pessoa. Sein glattrasiertes Gesicht drückte Entschlossenheit und Willenskraft aus. Pessoas Haltung dagegen war zögernd und schlaff.
Der Kellner nahm meine Bestellung auf. Ich legte die Briefe ungeöffnet vor mich auf den Tisch.
Ich schnappte nur Bruchstücke vom Gespräch zwischen Pessoa und Reis auf. Sie sprachen über Alberto Caeiro, auch einer der Dichter, die Pessoa erfunden hatte. In Lissabon geboren, verbrachte Caeiro sein kurzes Leben im Ribatejo, auf dem kleinen Landgut einer alten Tante. Er war sechsundzwanzigjährig als er 1915 an Tuberkulose starb. Er hatte kaum Schulbildung und seine literarischen Kenntnisse waren nicht der Rede wert. Trotzdem hinterließ er ein Bändchen erstaunlicher Gedichte mit dem Titel O Guardador de Rebanhos (Der Hüter der Herden). Er war ein intuitiver Geist. Seine Sinneswahrnehmung richtete sich auf das unmittelbare Sein der einfachen Dinge. Pessoa und Reis fingen erst nach seinem Tode zu schreiben an. Caeiro war gewissermaßen ihr Lehrmeister gewesen.
– Caeiro war ein Erneurer des Heidentums, hörte ich Dr. Reis sagen, aber nicht im Sinne der Griechen oder Römer, sie lebten das Heidentum, waren folglich nicht imstande, darüber nachzudenken. Zugleich war er ein Vertreter einer absoluten Dingbezogenheit, sogar in den heidnischen Gottheiten sah er eine Entstellung des Heidentums.
– Auf solche Erklärungen hätte sich Caeiro nicht eingelassen, erwiderte Pessoa, er drückt in seinen Gedichten etwas aus, das weiter geht als Gefühle oder der Verstand es zu tun vermögen. Die Wahrnehmung einer unmittelbaren Wirklichkeit braucht keine Begriffe, sie ist direktes Schauen, intuitives Erkennen und Verstehen.
Pessoa kippte den Cognac hinunter, den der Kellner ihm hingestellt hatte.
– Die Dinge haben für mich einen anderen Sinn, sagte Reis, wir brauchen Ideen zum Leben, ohne sie können wir nicht denken. Das Denken findet in den heidnischen Gottheiten einen festen Ausdruck. Aber hüten wir uns davor, den Ideen eine Wirklichkeit anzudichten, die nichts mit dem zu tun hat, woraus wir sie bezogen haben.
– Wir sind Intellektuelle, Reis, wir gehen vom Gedanken aus, Caeiro war ein Schauender, er hatte keinen Zugang zum Abstrakten und unser Gespräch wäre ihm wohl reichlich absurd vorgekommen. Haben Sie nicht einmal gesagt, jedes Werk spricht mit der Stimme, die ihm eigen ist, in der Sprache, in der es gedacht wird. Heißt das nicht, Stimme und Sprache verfälschen, wenn man auf der Intellektualität beharrt?
– Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht! Doch uns bleiben nur die Gedanken. Wir brauchen sie, um unser Leben zu ordnen und zu gestalten, um ihm eine Richtung zu geben – und um uns eine Vorstellung von der Welt zu machen, erst die Begriffe erlauben uns einen Zugriff auf die Wirklichkeit. Caeiro mag unser Meister sein, wie Sie sagen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir nicht unsere eigenen Vorstellungen entwickeln sollen, vielleicht, sogar müssen, um unseren poetischen Standpunkt zu finden.
– Da mögen Sie Recht haben. Bei Caeiro gibt es keinen Standpunkt, er lebte in einer fließenden Welt, wo sich die Standpunkte fortwährend verändern, nichts Festes.
– Das ist es, was mich manchmal an Caeiro stört, dieser Mangel an moralischer Festigkeit. Ich meine nicht, dass er verkommen war oder dergleichen, im Gegenteil, aber in seiner Unbedarftheit hatte er keine Vorstellung davon. Moral kommt von Kultur. Beides fehlte ihm, obwohl er lesen und schreiben konnte. Nehmen sie den Vers: „Die Dame am Klavier. / Es klingt angenehm, aber nicht wie das Strömen der Flüsse / oder das Säuseln der Bäume“.
– Jetzt werten Sie. Caeiro hat nicht gewertet. Er sagte bloß, es klinge nicht wie. Er hat im Säuseln der Bäume und Strömen der Flüsse wohl etwas Ursprünglicheres gehört.
– Das meine ich ja. Er war der Natur so zugehörig, dass es ihm an Moral und Kultur fehlte. Immerhin kommt er uns nicht mit den dämlichen Naturgefühlen der Romantiker; doch er reduziert die Welt ….
In diesem Moment wurden die Rentner laut. Etwas wegen den Kommunisten! Sie redeten durcheinander und schlugen mit den Zeitungen auf die Marmortischchen. Ich verstand kein Wort mehr.
Pessoa machte dem Kellner ein Zeichen. Nachdem er gezahlt hatte, erhoben sich die beiden Dichter. Sie setzten ihre weichen Hüte auf und verließen das Lokal.
Während vielen Jahren hatte Pessoa seine Nachmittage in diesem Lokal verbracht. Hier hat er gesessen, hat meditiert, geschrieben oder sich mit Freunden unterhalten. Er wollte wohl sein altes Café wiedersehen. Und in der Rua dos Douradores, einer Parallelstraße zur Rua da Prata hatte er als Übersetzer in einer Handelsfirma gearbeitet und die Kladde über seine inneren Unruhen geführt. Doch wie lange ist das schon her? Dass Reis aus seinem brasilianischen Exil heimgekehrt war, schien ihm zu behagen, jetzt hatte er wieder einen Gesprächspartner, mit dem er sich gerne unterhielt, auch wenn sie selten einer Meinung waren.
Ich sah Pessoa und Reis unter einem Bogen der Arkade auf den riesigen Platz hinaustreten, sie lösten sich im durchsichtigen Dezemberlicht in Luft auf, mitten im größten Verkehr. Wir wissen nicht, was die Wirklichkeit ist, hat Pessoa einmal geschrieben.