Der Schinkansen schoss aus dem langen Tunnel. Eine verhangene Berglandschaft war kurz zu sehen. Dann die riesige Bahnhofshalle von Echigo-Yuzawa. Es war ein enttäuschender Augenblick, und es ging sehr schnell. Ich hatte etwas ganz Anderes erwartet. Yuzawa liegt in der gebirgigen Zentralregion Japans. Ein Skiort. Heilbäder mit heißen Quellen. Im Winter blasen die kalten Winde von Sibirien herunter. Sie nehmen die Feuchtigkeit über dem japanischen Meer mit und laden sie als Schnee über dem Gebirge ab. Manchmal fallen über drei Meter Schnee.
Im Buch Yukiguni (dt. Schneeland) von Yasunari Kawabata dauert es, bis die Dampfeisenbahn im Bahnhof eintrifft. Ein Glück für den Leser, denn die ersten Seiten sind von einer außerordentlichen Schönheit.
„Als der Zug aus dem langen Grenztunnel kroch, lag das „Schneeland“ vor ihm weit ausgebreitet. Die Nacht war weiß bis auf ihren Grund. An der Signalstation hielt der Zug.“
Shimamura ist unterwegs zu Komako, der jungen Geisha, die er im Frühling kennengelernt hat, als er nach einer langen Bergwanderung in das Heilbad hinuntergestiegen war. Eine junge Frau, die mit einem offensichtlich kranken Mann im anderen Abteil sitzt, zieht das Fenster herunter und spricht mit dem Vorsteher der Signalstation. Sie dankt ihm dafür, dass er ihren Bruder eingestellt hat. Eine eisige Kälte strömt in den Waggon.
Shimamura erfährt, dass die junge Frau am Fenster Yôko heißt. Er ist von ihrer traurigen Stimme hingerissen. Yôko schließt das Fenster. Der Zug setzt sich erneut in Bewegung. Im Waggon geht das Licht an. Im Fenster des Zuges gleitet die Landschaft mit ihren verschneiten Berghängen vorüber. Im Spiegel des Fensters bemerkt Shimamura das schöne Gesicht von Yôko, ihre leuchtenden Augen. Die Landschaft in der Abenddämmerung, die da vorüber strömt, und das junge Gesicht verschmelzen zu einem einzigen Bild, das Shimamura tief erregt. Yôko und der Kranke steigen wie er am gleichen Bahnhof aus. Shimamuras Faszination für Yôko zieht sich durch das ganze Buch, doch sie bleibt für ihn außer Reichweite.


Shimamuras Eltern waren reich, er braucht nicht zu arbeiten und führt ein müßiges Leben. Er schreibt Essais über europäischen Tanz, ohne jemals einen solchen Tanz gesehen zu haben. Er tut es einzig und allein aufgrund der Lektüre darüber. Daneben übersetzt er Valéry und Alain aus dem Französischen.
Schneeland ist aber auch die Geschichte einer verlockenden Landschaft mit glänzenden Abhängen und glühenden Bergspitzen. Sie grundiert die Erzählung, gibt ihr etwas ungeheuer Weites, Raumschaffendes. Es gibt eine organische Verbindung zwischen der Natur und den Figuren. Etwa wenn sich das dunkle Grün des Zedernhains in Komakos Nacken spiegelt oder wenn auf ihrer Haut die gesunde Farbe der Berge erscheint. Als sie Shimamura auf dem Shamisen, einem japanischen Saiteninstrument, vorspielt, steigen die Klänge in die fernen schneebedeckten Berge. Die Natur des Bergtales ist ihr ständiger Begleiter und zugleich Ausdruck der wachsenden Kraft ihres Spiels.
Im Vordergrund der Erzählung steht die Gestalt der Geisha Komako mit ihrer überfließenden Vitalität und ihrem Charme. Shimamura ist ein Ästhet, der alles nur aus der Distanz betrachtet, im Spiegelbild sozusagen, ein Gefangener seiner Scheinwelt. Er ist fasziniert von Komakos jugendlicher Reinheit. Das Gefühl der Reinheit hindert ihn daran, sie zu verführen. Zugleich fühlt er etwas Schamloses und Gefährliches in dieser Reinheit. Er vergleicht ihre körperliche Frische mit einer frisch geschälten Zwiebel oder einer Lilienknolle, ihr Mund habe die Form eines Aals. Und er verletzt sie gerade mit dieser Idee der Reinheit. Denn darin zeigt sich seine Kälte, seine Unfähigkeit zur Liebe. Die heftige Leidenschaft Komakos stört sein Bild der Reinheit.
Später erzählt ihm eine blinde Masseurin, dass Yôko, die junge Frau im Zug, der kranke Mann und Komako im gleichen Haushalt leben, in dem einer Musiklehrerin. Der kranke Mann heißt Yukio. Er ist der Sohn der Musiklehrerin. Er hat Tuberkulose. Komako und er seien verlobt. Sie sei Geisha geworden, um seine Arztkosten zu bezahlen. Shimamura spricht Komako darauf an, doch sie weicht ihm aus. Als er wieder zurück nach Tokyo geht, begleitet Komako ihn zum Bahnhof. Während sie auf den Zug warten, stürzt Yôko herbei, Komako solle sofort nach Hause kommen, Yukio ginge es sehr schlecht. Komako weigert sich, sie kann sich nicht von Shimamura lösen. Im Herbst darauf reist Shimamura ein drittes Mal ins Schneeland. Auf einen Spaziergang kommen er und Komako beim Friedhof vorbei. Sie sehen Yôko vor Yukios Grab knien und beten. Sie ginge jeden Tag zu seinem Grab. Es bleibt unklar, was vom Geschwätz der blinden Masseurin wahr ist und was nicht. Die Beziehung zwischen Komako und Yôko gibt ein weiteres Rätsel auf. Wenn Shimamura von Yôko zu reden anfängt, verfällt Komako in ein eisiges Schweigen.
Wie
[/caption]Wie einst Shimamura werden auch wir von einem Angestellten des Hotels am Bahnhof abgeholt. Das alte Takahan-Hotel, in dem Kawabata seinen Roman geschrieben hat und das zugleich Handlungsort des Romans ist, gibt es nicht mehr. Das schlanke dreistöckige Gebäude mit seiner Fassade aus Holz und Glas und seinem geschwungenen Walmdach musste einem modernen Betonklotz weichen. Es liegt ein Stück weg vom Zentrum, auf der anderen Seite des Tales. Unser Zimmer ist im traditionellen japanischen Stil eingerichtet. Tatamimatten, Schiebetüren, ein niedriges Tischchen, Sitzgelegenheiten auf dem Boden. Es gibt einen verglasten Balkon, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf das ganze Tal hat, das Hotel steht auf einem Hügel. Yuzawa ist so hässlich wie alle modernen Städte in Japan. Ein wildes Potpourri aus Wohnblöcken, charakterlosen Häusern und monströsen Betonbauten, eingeklemmt zwischen der Autobahn auf der einen Seite des Tales und dem wuchtigen Trace des Schinkansen auf der anderen. Da und dort noch das lindengrüne Rechteck eines Reisfeldes.
Jetzt versinkt der Ort in einer trüben Abenddämmerung. Die Ebene ist von Lichtern übersät. Falter kleben an den Scheiben. Zwischen den Faltern und den Lichtern das Geräusch des Regens.
Shimamura sitzt in seinem Hotelzimmer und beobachtet eine Motte, die am Lampenschirm klebt. Eine andere – grün wie der Tod – hängt am Fliegengitter. Er solle seine Kleider nicht draußen herumhängen lassen sondern sie wegschließen, rät ihm seine Frau vor der Abreise, es sei die Zeit, da die Motten Eier legten. Das ist das einzige, was wir von ihr erfahren. Als er eine tote Motte in den Händen hält, muss er an seine Kinder denken.
Der Lärm der Zikaden wird mit dem Wort „zirpen“ nur sehr unzulänglich beschrieben. Auf einem Spaziergang durch das Dorf hört er, wie jemand das Grillenlied singt. Es ist eine helle und zugleich traurige Stimme. Es ist die von Yôko, der rätselhaften Schönen, die im Zug den Kranken umsorgt hat.
Meistens kommt Komako spät nachts zu Shimamura, nach irgendwelchen Festlichkeiten, an denen sie als Geisha teilgenommen hat. Sie kommt und sagt, dass sie sofort wieder gehen werde, bleibt dann doch, setzt sich, steht wieder auf. Oder sie schreibt ihm einen Brief, dass sie diese Nacht nicht kommen werde, schickt Yôko damit zu ihm, fällt mitten in der Nacht völlig betrunken ins Zimmer, bleibt liegen, steht wieder auf und will gehen – etwas schrecklich Unruhiges geht von dieser Frau aus. Vielleicht ein Ausdruck ihres Kummers, weil sie spürt, dass ihre Leidenschaft für Shimamura ins Leere greift.
Ein Makaken-
[/caption]Ein Makaken-Affe springt vor uns über die Strasse, als wir am nächsten Morgen zum Suwa-Schrein hinunter gehen. Der alte verwitterte Schrein steht mitten in einem Zedernwald. Die Hunde beidseitig des Eingangs symbolisieren den ewigen Kreislauf des Lebens. Man findet sie vor jedem größeren Shintô-Schrein. Daneben sitzt eine dämonisch aussehende Figur mit einem Schwert in der Rechten und einem Seil in der Linken. Der Boden ist von einem Moosteppich überzogen. Farn und leuchtendes Gras spriesst daraus hervor. Aufgerichtete Steine und Steinlaternen stehen zwischen den kerzengeraden Stämmen der Zedern. Der Torii-Bogen aus Beton ist grau und nicht wie sonst von einem leuchtenden Orange. Am Rand der Anlage steht eine riesige Zeder mit einer Steinplatte darunter. Bei einer der ersten Begegnungen verlangt Shimamura von Komako, dass sie ihm für ein bestimmtes Anliegen eine Geisha beschaffe. Sie weist sein Ansinnen empört zurück, schickt ihm dann aber doch ein siebzehnjähriges Mädchen, das Shimamura überhaupt nicht anziehend findet. Er lässt sie einfach stehen und rennt aus Zorn und Enttäuschung den Hügel hinab. Beim Schrein erblickt er Komako, die sich zu amüsieren scheint. Sie setzen sich auf die Steinplatte. Als Shimamura sich zurückbeugt und in die mächtige Krone mit den dunklen Nadeln schaut, wird im klar, dass er eigentlich nur Komako begehrt.
Hinter dem Schrein entdecke ich den Sasa-no-michit, den Bambuspfad, den Komako jeweils genommen hat, wenn sie Shimamura besuchte und nicht wollte, dass sie gesehen wurde. Ich folge dem Pfad. Er endet abrupt am Schinkansen-Trace, das aus drei oder vier Meter hohen Betonpfeilern und enormen Verstrebungen besteht. Für den Bau des Traces wurde ein Teil des Zedernwaldes abgeholzt. Sonst wird in Japan in den Tempelanlagen jeder Baum gestützt, mag er noch so altersschwach sein. Manchmal sieht es so aus, als ginge ein Baum auf Krücken. Der literarische Pfad führt mitten durch Yuzawa. Wir kommen zu einer Reihe von gedeckten Geschäftsstraßen, die einen gespenstischen Eindruck machen. Es sind keine Menschen unterwegs, vielleicht weil es in Strömen regnet, viele Geschäfte geschlossen, aufgegeben, und die, die noch offen haben, sehen irgendwie armselig aus. Yuzawa hat wohl durch den Ski-Tourismus einen Boom erlebt. Die Menschen kamen hierher und übernachteten ein paar Tage. Jetzt mit dem Schinkansen kommen sie am Morgen zum Skifahren, am Abend fahren sie zurück nach Tokyo, denn die Fahrt dauert gerade noch zweieinhalb Stunden.
Im ersten Stock d
[/caption]Im ersten Stock des Takaham-Hotels gibt es eine große Bibliothek, ein Tischtennis und einen Fernseher. Dahinter ein kleines Museum. In den Vitrinen den Wänden entlang sind zahlreiche Ausgaben von Schneeland in den verschiedensten Sprachen zu sehen. Fotos von Kawabata. Von den Dreharbeiten zum Film, der 1957 von Shichô Toyado gemacht worden ist, mit Ryô Ikebe als Shimamura, Keiko Kishi als Komako und Kaoru Yachinasa als Yôko. Kawabata mitten unter den Schauspielern. Ein Foto zeigt Matuei, eine achtzehnjährige Geisha. Schönes Gesicht, dunkle Augen. Kawabata lernte sie kennen, als er das erste Mal nach Yuzawa kam. Verbirgt sich in der Figur Komako tatsächlich die Geisha Matuei, wie die Bildlegende andeutet? Früher wurden die Heilbäder in den Bergen fast ausschließlich von Männern aufgesucht. In jedem gutlaufenden Bad gab es Geishas, die die Wochenendgäste mit Musik und Tanz unterhielten. Dabei mussten sie vortäuschen, dass sie Entertainerinnen und nicht Prostituierte waren. Es gibt Fotos von den Bergen rundherum. Vom früheren Yuzawa. Das kleine Dorf lag inmitten von Reisfeldern. Es lebte ganz im Rhythmus der Natur. Seine alten dunklen Holzhäuser mit den Schindeldächern waren für Kawabata Sinnbild des nördlichen Japans.
Kawabata wurde 1899 als Sohn einer reichen Arztfamilie in Osaka geboren. Mit zwei Jahren wurde er Vollwaise. Mit vierundzwanzig schloss er sein Studium an der Kaiserlichen Universität von Tokyo ab. Er begann Erzählungen in Zeitschriften zu publizieren und hatte Erfolg damit. Zur Nobelpreisverleihung 1968 erschien er im Kimono und nicht im vorgeschriebenen Frack. Ursprünglich bestand Schneeland aus verstreuten Erzählskizzen, die Kawabata zwischen 1934 und 1937 in Yuzawa geschrieben und in Zeitschriften publiziert hatte. 1947 schrieb er ein weiteres Fragment und verdichtete die losen Texte zu einem Roman.
Und wie eine Schachtel
[/caption]Und wie eine Schachtel mitten in diesem kleinen Museum: der Kasumi-no-ma, das Pflaumenblüten-Zimmer. Aus dem Prospekt geht nicht klar hervor, ob man den Raum so eingerichtet hat wie er im Roman beschrieben ist oder ob er beim Abbruch des alten Hotels gerettet wurde. Die Gittermuster der Schiebefenster und die Tatamimatten geben ihm eine geometrische Strenge. Er ist klein und kompakt, bloß acht Tatamimatten groß, ideal, um sich darin aufs Schreiben zu konzentrieren. Ich stelle mir vor, wie Kawabata in seinem dunklen Kimono mit gekreuzten Beinen vor dem Tischchen gesessen und geschrieben hat. Auch Shimamura hat an diesem Tischchen gesessen, wenn er auf Komako wartete.
Ein kleines Schränkchen mit Spiegelaufsatz steht da. Als Komako sich eines Morgens zum Gehen fertig macht, sieht Shimamura das tiefe Weiß der Schneeberge im Spiegel schimmern und darin leuchten in seltsamem Kontrast die roten Wangen Komakos. Für Shimamura ein Bild, von unaussprechlicher, reiner Schönheit, das ihn an Yôkos Gesicht im Spiegel des Zugfensters erinnerte.
Neben dem Tisch steht der Hibachi, ein bauchiger Keramiktopf, den man mit Kohle heizen kann, um Raum und Tee warm zu halten. „Er lehnte sich an den Hibachi, den man für die nun näher rückende kalte Jahreszeit hereingebracht hatte, als er aus dem alten, in Kyoto gefertigten metallenen Teekessel, den ihm der Besitzer des Gasthofs aus Gefälligkeit zur Verfügung gestellt hatte, plötzlich ein weiches Rauschen hörte, wie wenn Wind durch die Kiefern streicht. Der Kessel war hübsch mit Blumen und Vögeln verziert. Als Shimamura genauer hinhörte, glaubte er gleichzeitig zwei verschiedene Kieferwinde zu vernehmen, der eine war ganz nah, der andere etwas weiter entfernt. Noch weiter weg läutete ganz leise eine Glocke. Er legte sein Ohr an den Kessel, und da sah er Komakos kleine Füsse, wie sie in der Ferne in winzigen Schritten herantrippelten. Er erschrak und wusste mit einemmal, dass seine Zeit hier zu Ende war.“
„Du bist ein gutes Mädchen“, sagt Shimamura an einer zentralen Stelle. Als er kurz darauf die Bemerkung in „du bist eine gute Frau“ ändert, wird für Komako klar, dass sie ihre Gefühle verschwendet hat, dass ihre Leidenschaft „sinnlos an eine Wand stößt“, höchste Zeit, dass er aus ihrem Leben verschwindet.
In der Schlussszene bricht im Seidenraupenspeicher, wo gerade eine Filmvorführung stattfindet, ein Feuer aus. Das ganze Dorf läuft zusammen. Die Feuerwehr versucht die Leute aus dem brennenden Speicher zu retten. Auch Komako und Shimamura rennen zum Schauplatz. Plötzlich fällt der Körper einer Frau aus dem brennenden Gebäude. Für Shimamura sieht es so aus, als ob der Körper einen Moment in der Luft schweben würde, bevor er zu Boden fällt. Komako rennt schreiend los. Dann kommt sie aus den brennenden Trümmern zurück, mit Yôko im Arm. So wie das Verhältnis zwischen den beiden Frauen ein Geheimnis bleibt, so bleibt auch offen, ob Yôko beim Sturz zu Tode gekommen ist. Die Feuerwehrmänner stossen Shimamura zur Seite, um Komako zu Hilfe zu eilen. Als Shimamura sich wieder auffängt, blickt er nach oben. „Da schien es ihm, als stürze die Milchstraße mit einem Donner in ihn hinein“.
Bin ich ins Schneeland gereist, um die Rätsel des Buches zu lösen, sollte mir die Landschaft offenbaren, was mir bei der Lektüre verborgen geblieben ist? Nach drei Tagen sind wir wieder abgereist. Ohne auch nur ein einziges Geheimnis geklärt zu haben. Ohne etwas von der Berglandschaft zu sehen, die in dieser Erzählung eine so starke poetische Präsenz hat.
PS: Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Oscar Benl, die 1957 im Carl Hanser Verlag, München erschienen ist. Die derzeit lieferbare Übersetzung von Tobias Cheung ist ungenießbar.
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