Dichter, Landwirt, Dandy

Am Fuss der Alpes Côte d‘Azur wurden die Pinienwälder vom bunten Laub der Kastanien, Eichen und Weinfelder abgelöst. Auf den Hochebenen stand das matte Grün der riesigen Lavendelfelder. Die Landschaft der Provence mit ihren Weiten, muldenartigen Tälern und weissen Kreidefelsen hat ganz eigene Qualitäten.
Wir kamen ins breite Tal der Durance. Ein schönes Tal, eigentlich. Doch an vielen Orten zugemüllt: Autobahnen, Strassen, Supermärkte, Tankstellen, Bürohäuser, Lagerhallen, Wohnblöcke, Parkplätze. Die ganze hässliche Lieblosigkeit, die man Fortschritt nennt. Das ästhetische Empfinden heruntergekommen. Dem Preis geopfert. Hauptsache billig, Hauptsache schnell hin gehudelt. Geprägt von Kostenbewusstsein, ökonomischer Effizienz, Wachstum – dem ganzen Geschwätz von jenen ab den Eliteschulen. Ihre Vorstellung von Schönheit reicht nicht weiter als bis zum Krawattenknopf. Auf der anderen Seite des Tales konnten wir Manosque sehen, das kleine Städtchen am Südfuss der Haute-Provence.
Ein paar Tage lang waren wir im Massif des Calanques unterwegs. Das Massiv ist ein wuchtiger Kreidefelsen, östlich von Marseille, von Büschen, Pinien und Korkeichen überwachsen. Die fjordähnlichen Buchten greifen wie smaragdgrüne Finger in die Kreide. Steile Kliffe fallen gegen das Meer ab. Wir wanderten hoch über den Buchten auf schmalen Pfaden. Zwischen den Pinien leuchtete das Blau des Meeres, aus der Tiefe klang das Geräusch der Brandung. Darüber wölbte sich ein gigantisch blauer Himmel. Ich sog den trockenen, herben Duft des Nadelbodens tief in mich hinein. Wir stiegen hinauf zur Krete, einem blendend weissen Grat aus poröser Kreide. Es war heiss. Die Sonne brannte herab. Im weissen Fels gab es nur karges, gelbes Stoppelgras und rote Blumen wie Blutflecken darin. Im Pinienwald fiel mir plötzlich ein, dass Kenneth White in seinem Buch Dérives, einer Sammlung von Reiseabenteuern, von einem Mädchen mit langem rabenschwarzem Haar und einem roten Poncho erzählt. Ich fragte mich, wo die beiden ihr Liebesnest gehabt haben mögen. White war in jenem Frühling im Süden von Frankreich unterwegs, rund um Arles, auf der Ebene von Crau, die van Gogh so fasziniert hatte, um Saintes Maries, in der Camargue. Die Camargue hat ihm am meisten gefallen. „Ein Land aus Teichen und Sümpfen. Aus Wind, Einsamkeit, und Stille. Ein Land aus Licht, wo sogar das Wasser sich in Licht verwandelt und das Fliessen pure Essenz wird.“ In der Camargue begegnete er dem Mädchen, das wie eine Indianerin aussah. Ein heftiger Schlag durchfuhr ihn, als er ihre Gestalt auf der Landstrasse vor sich her gehen sah. Ein paar Tage lang streiften sie zusammen durch die Calanques, wo das Mädchen ursprünglich her war. Nicolas Bouvier, der Genfer Reisende und Schriftsteller, war bei der Lektüre von Dérives von dem Mädchen dermassen hingerissen, dass er Kenneth White einen langen Brief schrieb, um zu erfahren, ob es immer noch in der Provence lebe. Ist Bouvier bei der Lektüre das Opfer von Whites Schreibstil geworden, von dem er sagt: „weder Glossare noch Kommentare, einen spontanen, präzisen, turbulenten Stil, ein Da Sein, ein fast uneingeschränktes Einfangen des Augenblicks, so erbärmlich er auch sein mag.“

Das kleine Städtchen Manosque betraten wir durch ein riesiges Tor. Enge mittelalterliche Gassen und von riesigen Platanen überschattete Plätze, auf denen es Cafés und alte sprudelnde Brunnen gab. Wären da nicht die Geschäfte mit ihren Schaufenstern gewesen, man hätte den Eindruck gehabt, in einer anderen Zeit zu leben. Das Feingefühl, das Handwerker im Mittelalter hatten, Manosque ist ein gutes Beispiel dafür. Das Zimmer im Hotel an der Place Terreau entsprach nicht ganz unseren Wünschen, trotzdem blieben wir ein paar Nächte. Wir hatten zwei Gründe dafür. Als erstes möchten wir die Maison Jean Giono am Rand von Manosque besuchen. Das Haus ist ein kleines Museum, es soll so eingerichtet sein wie zu Gionos Zeiten. Seine Bücher, seine Landkarten, alles sei noch da. Es hat immer nur am Freitagnachmittag geöffnet. „Fermenture – le 10 octobre – exceptionelle“, war auf einem Zettel zu lesen, der an der verschlossenen Tür hing. Man stelle sich vor, das Paradies kann nur an einem einzigen, bestimmten Tag betreten werden, aber genau an diesem Tag ist das Tor geschlossen.

Der zweite Grund für unseren Besuch war Hubert Fichte. Hubert Fichte, der Schriftsteller und elegante Schwule aus Hamburg, der Dandy, der eine Lehre als Landwirt gemacht hatte und mit den Gammlern in der „Palette“ am Gänsemarkt in Hamburg herumgehangen war.
Im Sommer 1952 war er das erste Mal in die Provence gereist. Er ist siebzehnjährig. Mit einem Stipendium des Instituts Français besuchte er die Sommeruniversität in Tours und reiste danach per Autostopp in den Süden. Auf den Spuren von Hans Henny Jahnn zu den romanischen Kirchen; „Flucht und Entdeckungsrausch“.
Zwei Jahre später war er wieder in der Provence. Ohne Geld. Er will es als Landarbeiter probieren. In der Weinernte und Unkraut jäten. Jean Giono als Vorbild. Der provenzalische Dichter schickte ihn zur Familie Pellegrin in Montlaux, die zu seinem Kreis gehörte. Die Pellegrins waren Landwirtschaft betreibende Intellektuelle. Sie steckten in finanziellen Schwierigkeiten , denn sie hatten dank ihrer Unkenntnis von Ackerbau und Landwirtschaft ein kleines Vermögen in den Sand gesetzt.
Fichte bekam das hart zu spüren. „Der intellektuelle Knecht hatte vielleicht gehofft, einige Milderung bei seinem landwirtschaftlichen Existenz-Experiment zu erfahren – tatsächlich nützen sie ihn nur intellektueller aus. Viel Kartoffeln und wenig Quark und Margarine. Vierzig Mark Handgeld monatlich – einem Bauernknecht hätten sie es nicht angeboten, weil er sie nicht angenommen hätte.“
Madame Pellegrin vermietete ihn an Téstanière, für den er mit 150 Schafen ins Lure Gebirge ging.
Wieder fünf Jahre später kehrte er nochmals in die Provence zurück. Er war jetzt ausgebildeter Landwirt. Wieder ging er zu Testanière, wohnte bei ihm im Moulin de Pologne. Dann lernte er Aldo Fiorio kennen und ging mit ihm nach Montjustin.

Unterwegs Richtung Norden sah ich den Mont Saint-Victoire im Morgenlicht glänzen. Ich musste an Peter Handke denken, auch er ein grosser Wanderer und Umherstreuner in der deutschen Literatur. Ich habe es ein paar Mal probiert mit seinen Büchern. Aber die Sogwirkung wollte nicht so recht. Hubert Fichtes Denken und Empfinden ist mir näher als jenes von Handke. Fichte ist mehr Randgänger und Aussenseiter. Weniger Literat. Er hat vieles ausprobiert in seinem Leben. Kinderdarsteller im Theater, Sozialarbeiter bei den Obdachlosen von Abbé Pierre in Paris und den schwererziehbaren Jugendlichen in einem anthroposophischen Heim in Schweden, ethnologische Studien des Voudou und Candomblé in Brasilien und in den Irrenanstalten Westafrikas, Interviews mit Nutten, Strichern und Zuhältern von Sankt Pauli. Seine Eloquenz heisst Präzision. Dinge benennen, nicht beschreiben.
„Ich bin ein Schriftsteller, der sich in seinem Leben mehr mit Strichjungen, Strassenmädchen und Voudoupriestern herumgetrieben hat als mit wichtigen Persönlichkeiten, mit denen man als Schriftsteller umgehen sollte.“
Das ist keine Selbststilisierung, kein Aufplustern eines Bewunderers des Barocks, sondern die Selbstpositionierung eines Autors, der im Aussenseiterdasein von Nutten, Strichern und Voudoupriestern seine eigene Rolle als Aussenseiter sah. Hubert Fichte hat immer alles anders gemacht als die Anderen. Dieser Solitär war ein Verstellungskünstler, er hatte etwas schöpferisch Eigensinniges, das nicht nur in seinem literarischen Schaffen zum Ausdruck kommt, sondern in allem, was er tat, in der Berufswahl, im Alltag, in der Kleidung, in der Sexualität. Welcher Intellektuelle kann von sich behaupten, eine Landwirtschaftslehre gemacht und in der Provence Schafe gehütet zu haben? Er hatte keinen Schulabschluss, verfügte aber über breite Kenntnisse der Literatur und der Ethnologie, und er sprach perfekt Französisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch. In Marokko büffelte er Arabisch und in Lateinamerika Altgriechisch. Er hatte seinen Proust parat, wenn andere es nicht hatten. Er wollte weiter gehen als seine Kollegen, literarisch, persönlich, gesellschaftlich und geographisch.
Aber eines muss man Peter Handke lassen. Er ist frei von dem scheusslichen Hang zum Morbiden, der so typisch ist für österreichische Autoren. Ein Fussgänger halt.

Wir sassen in Reillanne auf der Terrasse des Café Cours in der Morgensonne. Etwa 20 Kilometer westlich von Manosque. Aus der Ferne hatte es so ausgesehen, als ob Reillanne in einer Rinne und nicht auf einem Hügel liegen würde. Kastanien fielen aus den riesigen Bäumen und zerplatzten auf dem Asphalt. Ein paar alte Männer sassen bei ihrem Ricard. Unterhalb vom Café gab es einen riesigen Platz mit geparkten Autos. In der Mitte des Platzes stand ein Brunnen mit einer Säule, die sich gegen oben verjüngte. Links eine scheunenartige Kirche, rechts eine zweite Kirche. Auf dem Hügel dahinter ein alter, runder Turm, Föhren und Laubbäume den Hang hinauf. In der Ferne ein blauer Bergzug, der sich von Westen nach Osten erstreckte. Hatte Hubert Fichte hier vor gut fünfzig Jahren auch seinen Kaffee getrunken, wenn er mit Serge in einem verrosteten klagenden Auto von Montjustin herunterkam, um Brot und den Le Monde zu holen?
Auf der Chaussee zwischen Reillanne und Céreste gab es eine herrliche Platanenallee mit wuchtigen, grauen Baumstämmen. Wir wurden von Einheimischen überholt, die wie die Henker fuhren. Eine schmale Strasse führte hinauf nach Montjustin. Das Dorf liegt auf einer Kuppe des Luberons. Es besteht aus zwei Dutzend alten Steinhäusern, einem Gemeindehaus und einer Kirche ohne Dach. Ein stilles, leeres Dorf. Einmal sahen wir einen alten Mann, einmal hörten wir Stimmen aus einem offenen Fenster. Sonst nur das Summen von Bienen und Fliegen. Eine wunderbare Sicht auf das ganze Tal. Blauschimmernde Berge in der Ferne. Gegenüber war Reillanne zu sehen, wo wir kurz zuvor Kaffee getrunken hatten, im Westen die Dächer von Céreste, wo André Cartier-Bresson ein paar Jahre zuvor gestorben war. Der Luberon ist Bergzug, Tal und Region in einem Wort; ein maskulines, kraftvolles Wort.
Hier oben hatte Hubert Fichte bei den Familien von Aldo und Serge Fiorio gelebt, Schafe gehütet, Unkraut gejätet, Auberginen und Tomaten gezogen, die Weinreben geschnitten, das Heu gewendet.
Serge Fiorio war ein naiver Maler, der in jener Zeit gerade berühmt wurde. Er malte blaue Schafe und rosarote Häuser mit Zuckerguss.
„Serge Fiorio – sonnez forte“, las ich auf dem Schild des zweiten Hauses. Ich kippte fast aus den Schuhen. Serge Fiorio lebte noch? Er musste steinalt sein. Fast hundert Jahre. Denn Fichte erzählt im Roman Hotel Garni, dass Serge Fiorio damals schon um die fünfzig herum war. Ich hätte bloss auf die Klingel zu drücken brauchen und eine Figur aus Fichtes Roman wäre aus der Tür getreten. Wie hätte er reagiert, auf Hubert Fichte angesprochen? An sein heimliches homosexuelles Verhältnis zu Fichte erinnert zu werden. („Sergio überrumpelte mich mit seiner Schönheit. Er liess nicht mehr locker.“)

Die Brüder Aldo und Serge Fiorio, piemontesische Strassenarbeiter, in der Schweiz geboren, waren in den 1940-ger Jahren ebenfalls Jean Giono ins Lure-Gebirge gefolgt. Zurück zur Natur. Landwirtschaftliche Kommunen. Ein Leben geprägt von der Härte der Einfachheit. Und der Liebe. Ausser den beiden Brüdern, ihren Frauen und zwei kleinen Kindern lebte auch die Mutter von Aldo und Serge da. Ein fragiles Gefüge, das jederzeit auseinanderzubrechen drohte. Serge hatte auf dem Strassenbau zu malen und zeichnen begonnen. Er war damals sechzehn Jahre alt.
Es war für ihn und Fichte nicht einfach, ihre sexuellen Wünsche auszuleben und sie vor der Familie geheim zu halten. Neben der landwirtschaftlichen Arbeit gingen beide ihrer Kunst nach. Serge malte. Fichte schrieb ein Theaterstück nach dem anderen. Sie träumten von einer schwulen Lebensgemeinschaft, die künstlerisches Schaffen, Landarbeit, Gespräche und Sex zu einem Ideal verband.

Wenn man sich aufmacht, die Orte eines Autors aufzusuchen, folgt man einem bestimmten Satzgefüge, einer Abfolge von Worten und Sätzen, die Etwas in uns berührt haben, weniger auf einer intellektuellen, sondern mehr auf einer emotionalen-physischen Ebene. Wir brechen auf, um einem Text an Ort und Stelle nochmals zu folgen.
Den Orten in Fichtes Romanen nachreisen, heisst in die Welt reisen, denn in seinem Werk finden wir die Welt wieder: Hamburg, Frankreich, Portugal, Marrakesch, Brasilien, Belize, Senegal, New York. Es ist eng mit seinen Reisen verknüpft, seine späteren Bücher sind alle unterwegs entstanden. Dieser Wort- und Stoffbesessene reiste, um sich schreibend die Welt anzueignen. Die Welt ging in Wörter über. In Sprachverhalten. Das Fremde in neue Schreibhorizonte. „Worte sind Verhaltensweisen“, sagte er. Reisen ebenso. Irgendwann reiste er hinter seinen Worten her. So entstand Die Geschichte der Empfindlichkeit, sein auf neunzehn Bände angelegtes Riesenwerk, das unvollendet blieb, weil Fichte vor seinem Abschluss starb. Im Aufsatz über Herodot, dem antiken Geschichtsschreiber, betont er, dass Reisen für ihn eine Form des Wissens ist. Seine Bücher sind immer ganz konkret verortet. Genau erfasste Orte. Zu Fuss erkundete Orte. Lustvolles Gehen, oft von einem sexuellen Unterton getragen.
Ich könnte deshalb auch in die Bahia reisen. Der Explosion nach. Oder in Sessimbra eine Glückliche Liebe suchen. Nach New York in die Schwarze Stadt. Zum Platz der Gehenkten in Marrakesch. Oder zum Hamburger Gänsemarktplatz. Der Besuch des Gammlerlokals „Die Palette“ wäre nicht mehr möglich, denn es hatte vor fünfzig Jahren dicht gemacht, sogar lange bevor Die Palette erschien, Fichtes erfolgreichster Roman.

Für jenen Herbst, in dem ich in Berlin war, war das Erscheinen von Hotel Garni, dem ersten Band der Die Geschichte der Empfindlichkeit , angekündigt. Ich konnte es kaum erwarten und fragte jeden Tag in den Buchhandlungen nach, ob das Buch endlich erschienen sei. Ich hatte mir ein bestimmtes System zurecht gelegt, damit es nicht auffiel, dass ich jeden Tag wegen dem gleichen Buch kam.
Als ich eines Nachmittags im Café Savigny an der Grolmanstrasse die Zeit durchblätterte, fand ich einen Artikel über Hubert Fichte von Volker Hage darin. Der Artikel war lang und bös. Hotel Garni wurde schulmeistermässig abgekanzelt: „Eine Katastrophe“, „von erschreckender Belanglosigkeit und Dürftigkeit“. „Fast scheut man sich, aus diesem Buch überhaupt zu zitieren.“ Hage zitiert dann doch daraus: „Ach, die Wörter kehren sich um vor der Schönheit des Klaus’schen Arsches.“ Um dabei festzustellen: „Ja, wenn Jäcki, doch nicht nur reden würde, sondern Klaus und meinetwegen seinen Arsch einmal dem Leser vor Augen führen würde. Aber die Figuren, die in Jäckis und Irmas Lebensbeichte vorkommen, lassen den Leser so gleichgültig wie das Liebespaar im Hotelzimmer.“
Als ich schon nicht mehr damit gerechnet hatte, fand ich das Buch in einer vornehmen Buchhandlung am Kudamm. So wie ich zuvor von einer Buchhandlung in die nächste gewandert war, so wanderte ich nun mit dem Buch unter dem Arm von einem Café ins nächste und las. Das gefiel mir. Mit Hotel Garni durch das herbstliche Berlin zu wandern. Platz zu nehmen im Café Savigny, im Lentz am Stuttgarter Platz, im Drallés an der Schlüterstrasse, im Einstein an der Kurfürstenstrasse, im Café M an der Goltzstrasse, das früher einmal Mitropa hiess, aber auf Betreiben der ostdeutschen Speisewagengesellschaft den Namen ändern musste. Die Stadt als wandernder Leser zu durchstreifen. Als Wanderer, der liest. Lesen, sinnieren, grübeln, sich treiben lassen.

Hotel Garni enthält zwei Lebensgeschichten. Jene von Jäcki, Alter ego von Hubert Fichte, und jene von Irma alias Leonore Mau, Fotografin und Lebenspartnerin von Fichte. Zwei Monologe, die im (Selbst)-Interview-Verfahren zustande gekommen sind. Fichte hat die Fragen weggelassen. Dadurch erhält die Erzählung einen fliessenden Zusammenhang. Das war ein beliebtes Verfahren von ihm. Er hat es auch bei Voudou-Gläubigen und Candomblé-Priesterinnen angewandt, bei den Schwulen und den Ledermännern im Hamburger Hauptbahnhof.
Ich mochte die kunstlose Sprache. Die Kargheit. Die Aussparungen. Im Gegensatz zu Volker Hage regten sie meine Phantasie mächtig an.

„Schreiben wie man spricht.
Eine Art Tagebuch – zehn Jahre nach den Daten.
Ein Interview mit mir selbst.
Kunstfertig das Spontane.
Nur keine Kunst.
Oberflächlich.
Keine psychologische Stimmigkeit.
Keine Entsprechungen.
Keine ästhetischen Fallen.
Chronik.“

Deutschsprachige Literaturkritik ist meist spiessig, langweilig, autoritär. Viel schulmeisterliche Hinterfotzigkeit. Man verteilt gerne Noten. Ein bequemer Ersatz fürs Denken. Das hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt, mit all den Wettlesungen und dem ganzen Long- und Short-List-Mist. Der dumme Eifer dahinter. Beurteiler und Beurteilte bilden ein geschlossenes System der Biederkeit. Man merkt, dass sie einen schönen Teil in ihrem Leben nach guten Schulnoten gestrebt haben. Freie Geister fehlen, Leute wie Hubert Fichte, Rolf Dieter Brinkmann oder Jürg Fauser, die etwas wagen, sich dem Leben aussetzen, Grenzen überschreiten, Sprache radikalisieren und nicht einfach fade Problem-Geschichtchen abspulen, psychologische Wichserei.
Für Fichte war das Leben nicht ein zusammenhängender Plot mit klarem Anfang und Ende, den man brav herunter erzählt. Es besteht aus zahllosen Fragmenten und Partikeln, ein zusammenhangsloses Etwas, das im besten Fall durch die Gewohnheiten eine gewisse Kontinuität erhält. Es besteht aus Spiralen, Schlaufen, Windungen und Wiederholungen. „Meine Niederlagen fixieren, Sprünge, Widersprüche, das Unzusammenhängende nicht kitten, sondern unverbunden lassen.“ Deshalb kommt er in Hotel Garni nochmals auf jene Provence-Ereignisse zu sprechen, die bereits in Versuch über die Pubertät Thema gewesen waren.
Auch darum haben wir einen Halt gemacht in Manosque, auf unserer Reise in den Norden.