Bücherdandy

Mit fünfzehn verließ ich die Schule. Acht Jahre habe ich es da ausgehalten. Ich war ein Halbstarker und mochte die Beatles. Ich mochte ihre laute, freche Musik, den unbekümmerten Leichtsinn mit dem sie die Dinge anpackten, ihre Frisuren, die Kleider. Sie standen für einen neuen Lebensstil. John Lennon und der Sioux-Indianer Crazy Horse waren meine Idole.
Der eine, weil er der ganzen Welt seinen nackten Hintern gezeigt hat und der andere, weil er sich geweigert hat, das freie Umherstreifen auf den Plains zugunsten eines sesshaften Daseins in der Welt der Weissen aufzugeben. Eigentlich bin ich immer noch halbstark und die Beatles mag ich auch noch immer. Mittlerweile sind viele Jahre vergangen. John Lennon ist tot, Georges Harrison auch. Da kommt keine Sonne mehr hin. Als ich die Schule verließ, wollten meine Eltern, dass ich eine Lehre machte und eine solide berufliche Zukunft ins Auge fasste. Die Mutter dachte an Schneider oder Goldschmied und ich dachte an Gammler oder Vagabund. Ich wollte herumhängen und das Leben genießen. Ich verachtete Arbeit und hatte nicht die geringste Lust, mir Gedanken über meine berufliche Zukunft zu machen. Gammler war in meinen Augen das Richtige, es war mehr als eine Lebensart, darin steckte eine ganze Lebensweisheit. Das waren zwar nicht die Gedanken, die ich als fünfzehnjähriger hatte, es war mehr etwas Gefühltes, wofür mir die Worte fehlten.
Da machte ich meinen ersten großen Fehler im Leben: Ich lernte Klempner, weil ein Freund von mir ebenfalls in einer Klempnerlehre war.

Mit siebzehn hatte ich eine Neigung zum Dandyhaften: schulterlanges Haar, mädchenhaftes Gesicht, himbeerfarbener Cordanzug. Das vertrug sich schlecht mit der Klempnerlehre. Dann machte ich den zweiten großen Fehler in meinem Leben, ich wurde Trotzkist und verabschiedete mich vom Leben als halbstarker Dandy. Ich glaubte, für eine gerechtere Welt kämpfen zu müssen. Ich las Karl Marx und Leo Trotzki statt Oscar Wilde und Charles Baudelaire. Ich wollte unbedingt ein Intellektueller werden, der die Welt erklären konnte und so geschliffen redete wie die smarten Studenten damals. Hinzu addiert die 68er Schlampigkeit. Stil hatte da keinen Platz. Es ging um mehr: Um Ideale und um die großen sozialen Umgestaltungen.
Mit zwanzig Jahren machte ich noch eine zweite Lehre, als Buchhändler. Ich war der Sache nun schon etwas näher, aber auch Buchhändler ist ein Beruf, in dem man arbeiten muss.
Es war ein dunkler, kalter Januarmorgen und ich hatte wieder einmal den Personalbus verpasst. Ich musste pünktlich um zwanzig vor Sieben am Kreuzstutz stehen. Der Bus wartete nicht, er fuhr sofort weiter, auch wenn ich nicht da war. Wenn ich den Bus verpasste, musste ich den Zug nehmen und kam erst gegen acht Uhr zur Arbeit, also eine Stunde zu spät. Ich arbeitete in einem Großlager für Sanitärmaterial in Emmen. An diesem Morgen nahm ich nicht den Zug, sondern meldete mich krank und ging in die Buchhandlung am Weinmarkt, wo ich ein paar weitere Bände von Paustowskijs Autobiographie Erzählungen vom Leben bestellt hatte. Der Morgen sollte mein Leben verändern, aber das wusste ich noch nicht, als ich die Baselstraße hinunter marschierte.

Die Buchhandlung war ein langer schmaler Schlauch, links und rechts Regale voller Bücher und in der Mitte des Raumes ein langer Tisch, ebenfalls voller Bücher. Ein schummeriges Licht und ganz hinten, am Ende des Schlauches, stand ein junger Mann in einem Anzug wie ihn die Beatles in den frühen sechziger Jahren getragen haben und mit schmalem Schlips. Das schulterlange Haar hatte er zurückgekämmt. Die bestellten Bücher waren vergriffen. Ich war ratlos. Wie gerne hätte ich die Fortsetzung von Unruhige Jugend gelesen.
Hingegen war ich fasziniert von diesem Bohemien hinter dem Ladentisch, diesem Bücherdandy in seinem schummerigen Reich. Ich wusste zwar, dass Klempner nicht meine Zukunft war, hatte aber keine Ahnung, was ich sonst machen sollte. Es war wie eine Vision von einer halluzinierenden Klarheit an diesem Morgen, und ich verließ den Buchladen wie ein Betrunkener. Jetzt wusste ich, was ich wollte! Ich wollte auch so ein Buchhändler in modischem Anzug und einem Schlips um den Hals werden. Bücher und Eleganz, das schien mir die richtige Kombination für meine Zukunft zu sein. In der Folge klapperte ich sämtliche Buchhandlungen in Luzern ab, aber keine hatte mehr eine Lehrstelle für den kommenden Sommer frei. Ich wollte nicht noch ein Jahr warten und fragte beim katholischen Rex Verlag am St. Karliquai an, der auch einen kleinen, verstaubten Laden hatte. Es war nicht der Traumplatz, um mich zum Bücherdandy auszubilden, aber sie hatten noch eine Lehrstelle frei, und sie waren bereit, mich einzustellen.

Wie ein Dandy sein Leben in allen möglichen Wendungen durchzuspielen, Varianten ersinnen und sie wieder verwerfen, das eigene Ich als durchlässige Schwelle und polyphone Gestaltungsmöglichkeit betrachten. Sein eigenes Leben inszenieren, das habe ich nie probiert an mir selber. Ich war immer für das Echte und das Echte kann nur aus dem eigenen tiefsten Inneren kommen und wenn aus diesem Inneren nichts kommt, war eben dieses Nichts das Echte. Ich war eben doch kein wirklicher Dandy, sonst hätte ich gewusst, dass das Echte auch nur eine Maske ist. Zugleich fehlte es mir an Phantasie. Ich hätte beim besten Willen nicht gewusst, als was ich mich hätte inszenieren sollen, noch welche Bühne dafür auswählen. Ich hätte jemand imitieren können, aber auch da stellte sich die Frage, wer das hätte sein können. Mit sechzehn oder siebzehn hätte es ein Rockmusiker sein können, aber jemand, der wie ich nichts von Musik versteht, wäre bloss ein Rocker geworden und davon hatte ich mich in dem Alter verabschiedet. Später hätte es ein Dichter oder ein Schriftsteller sein können, aber Proust spielen, ohne dessen literarische Fähigkeiten zu haben, fand ich einfach lächerlich. In erster Linie war ich von den Büchern begeistert. Auch die Menschen, die sie geschrieben haben, interessierten mich, ich konnte nie genug über sie erfahren, sogar auf Klatsch war ich neugierig. Aber sie nachahmen? Damals wusste ich noch nicht, dass Proust ein Meister des Nachahmens war, ich kannte seine Pastiche nicht, sonst hätte ich wahrscheinlich seinen Schreibstil nachgeahmt. Ich bin nicht prinzipiell gegen Nachahmung, das meiste lernt der Mensch durch Nachahmung. Grosse Schriftsteller sind meisterhafte Nachahmer, Proust und seine Haushälterin Céleste Albaret hatten eine diebische Freude daran, Besucher nachzuäffen, wenn sie wieder gegangen waren. Elias Canetti machte am Telefon die Stimme seiner Haushälterin nach, um zu sagen, dass er nicht zu Hause sei. Als ich vor kurzem Just Kids von Patti Smith las, wurde mir klar, dass Nachahmung eine schöpferische Angelegenheit ist und Verwandlungsprozesse auslösen kann. Patti Smith war eine virtuose Imitatorin. Sie wuchs in ihre Grösse hinein, in dem sie andere nachahmte.

Ich war nie ein richtiger Halbstarker, ich habe mich wie sie gekleidet und hing mit ihnen in den Strassen von Luzern herum, aber ich war nie in ihre Schlägereien und Straßenkämpfe verwickelt. Wenn ich Fotos von mir als fünfzehn- oder sechzehnjähriger sehe, erinnere ich mich, dass ich zwischen einem Lederklufttypen und einem empfindsamen Hippie hin und her geschwankt habe. Das Problem löste sich eines Tages wie von selbst. Als in Luzern eine neue Halbstarkengang gegründet wurde, wollte man mich nicht dabei haben, weil ich zu mager und zu schwächlich war. Instinktiv haben meine Kumpane wohl erkannt, dass für mich das Dazugehören mehr eine Frage des Stils war.
Ein paar Jahre später fällten die Aushebungsoffiziere das gleiche Verdikt: Zu gering! Hilfssoldat! Es war zwar nicht ganz das, was ich mir wünschte, hätte ich mich klarer ausgedrückt, wäre ich ganz vom Militärdienst weggekommen.
„Schau mal, was der Bub für dünne Ärmchen hat“, sagte ein Onkel, als mein Vater und ich den Verwandten in Gadmen beim Heuen halfen. Ich weiß nicht, was mein Vater darauf geantwortet hat, auch nicht, was er bei der Bemerkung des Onkels gefühlt oder gedacht hat. Ich habe nur noch diesen Satz in Erinnerung, der mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ich war gerade dabei, eine Gabel voll Heu auf den Wagen zu geben, wo ein anderer Onkel stand, der das Heu in Empfang nahm, das man hoch reichte und es auf dem Fuder sauber platzierte. Ich war elf oder zwölf Jahre alt. Meine Familie bestand aus Bauern und Arbeitern, die Männer waren stolz auf ihre kräftigen Arme, nicht wie Bodybuilder, um sie zur Schau zu stellen, sondern weil Männer mit kräftigen Armen zupacken konnten. Die Bemerkung des Onkels war eine Ausschlusserklärung. Hätte ich mir damals die Fotos der Beatles genauer angeschaut, deren Musik mich begeisterte, würde ich gesehen haben, dass auch John Lennon dünne Arme hatte. Das hätte mir viele Minderwertigkeitskomplexe im Leben erspart. Mir wäre klar geworden, dass nur Dummköpfe auf ihre Muskeln setzen.

Ich stelle mich mir als Literatur-Dandy vor, ein Flaneur, der in schönen Schuhen herumläuft und die Bücher liebt. Gut gekleidet und ein absoluter Snob in literarischen Dingen, der den aktuellen Literaturbetrieb ignoriert, der nicht über Bücher mitreden kann, die gerade en Vogue sind, die den durchschnittlich literarisch Interessierten interessieren. Einer, der das Lesen als Umherirren betreibt, ein literarischer Nomade, der liest wie man Stadtwanderungen macht, der eine breite Belesenheit vorzeigen kann, dabei einen disparaten Geschmack entwickelt hat. Mit einer Sicht auf die Literatur, bei der es weniger um Meinungen und Standpunkte als um die verborgenen Details in einem Buch geht.
Man muss seine Eitelkeit nähren. Askese kann glücklich machen, mehr noch tun das schöne Schuhe oder ein exquisites Buch.

Ein Gedanke zu “Bücherdandy

  1. Lieber Daniel

    Ich lese Deinen Blog regelmässig mit grosser Begeisterung.

    Johan Turi habe ich sofort in meiner Bibliothek rausgeholt.

    herzliche Grüsse Andrea Spychiger

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